Leseprobe
Inhalt
1 EINLEITUNG
2 HAUPTTEIL
2.1 DURKHEIMS 'SELBSTMORD'
2.1.1 Zusammenfassung der ersten zwei Bücher
2.1.2 Drittes Buch: Vom Selbstmord als sozialer Erscheinung im Allgemeinen
2.2 KRITISCHE BETRACHTUNG VON DURKHEIMS 'SELBSTMORD'
2.2.1 Die kritische Theorie und Adornos Gesellschaftsbegriff
2.2.2 Kritik Adornos an Durkheim
2.2.2.1 Mangel an Dialektik
2.2.2.2 Reaktionäre Ideologie
2.2.2.3 Falsches Bewusstsein
2.3 EIN VERMITTLUNGSVERSUCH
3 FAZIT
4 LITERATURVERZEICHNIS
1 Einleitung
Durkheims 'Der Selbstmord' ist eine überwiegend empirische Untersuchung des gleichnamigen Phänomens. Zurecht wird Durkheim deshalb als Mitbegründer einer „positiven Soziologie“ bezeichnet (Beer, 2011, p. 45). Obwohl und weil Durkheim nur begrenzte Daten für die Untermauerung seiner These hatte, ist sein Verdienst vor allem ein methodologischer. In 'Der Selbstmord' geht Durkheim nach den Regeln sei- ner vorher aufgestellten Methode (König and Durkheim, 1984) vor und liefert auf der Basis von Selbstmordstatistiken eine vollständige Interpretation des Phänomens.
Sicherlich ist der Selbstmord auch heute noch ein trauriges und interessantes Thema, das seit Durkheim zahlreich untersucht wurde (Lindsay Lee et al., 2016). Diese Haus- arbeit ist ein Versuch einer theoretischen Auseinandersetzung mit 'De[m] Selbstmord' Durkheims. Im Fokus soll die Kritik seiner positivistischen Methode stehen, welche im Schluss sozialen Tatsachen eine außerindividuelle, dingliche Autorität verleiht. Diese sozialen Tatsachen sind nicht nur von eminenter sozialer Bedeutung; Ihnen schreibt Durkheim auch eine eigene Natur, ein Eigenleben zu (Durkheim, 2014, p. 30). Sie sind soziale Kräfte die durch das Kollektivbewusstsein auf jeden wirken. Die- ses Kollektivbewusstsein wird dabei von den Individuen getrennt gedacht. Die durch diesen kollektiven Überakteur wirkenden Kräfte sollen wie Naturkräfte behandelt und erkannt werden und sind von den Individuen abgekoppelt (Durkheim, 2014, p. 359). Knapp 50 Jahre nach der Veröffentlichung von 'Der Selbstmord' schrieb T. Adorno eine Einleitung für die ins Deutsche übersetzte Ausgabe von 'Soziologe und Philoso- phie'. In dieser Einleitung, die Adorno selbst als eine Einführung in Durkheims Den- ken bezeichnet, setzt sich Adorno kritisch mit Durkheims Gesamtwerk auseinander. Er wirft darin Durkheim vor, dass dieser das dialektische Wesen des Begriffspaares Indi- viduum-Gesellschaft verkennt, indem dieser das Kollektivbewusstsein als einzige und letzte moralische Instanz über die Individuen stellt, ohne die es aber selbst nicht exisi- tieren kann. Für Adorno vermitteln sich Individuum und Gesellschaft gegenseitig, in- sofern das eine ohne das Andere nicht sein kann. Durkheims Position ist für Adorno kollektivistisch. Vor allem auch da, wo dieser normativ Stellung bezieht. Sowohl in 'Über soziale Arbeitsteilung' als auch in 'Der Selbstmord' äußert sich Durkheim expli- zit wertend. Er stellt das sozial Normale, im Gegensatz zum Pathologischen, als einzig moralisches und verkennt dabei den realen Wert ökonomischer Machtverhältnisse.
Sieht man von Adornos scharfer, und oft übertriebener Kritik einmal ab, ist 'Der Selbstmord' aber nicht nur ein Paradebeispiel für eine empirisch soziologische Unter- suchung, sondern auch ein zeitgemäß gesellschaftskritisches Werk (Peter, 2016, p. 189). Auch deßhalb lohnt eine intensive Lektüre.
Die Arbeit beginnt mit einer Zusammenfassung des 'Selbstmord[es]', wobei das Au- genmerk, im Hinblick auf die dann folgende theoretische Kritik, auf dem dritten „Buch“ liegt. Um das Verständnis von Adornos Kritik zu erleichtern, gebe ich eine kurze Einführung in die für die Kritik wesentlichen Punkte der kritische Theorie und komme dann zu Adornos Kritik von Durkheims Methode selbst. Dieser Abschnitt der Arbeit, sowie die am Ende stehende Synthese der Positionen beider Denker, orientiert sich überwiegend an Peters Besprechung der Thematik in seinem Buch 'Umstrittene Moderne': Dialektik der Gesellschaft versus 'Conscience Collective'?(Peter, 2016). Im Schluss versuche ich eine eigene subjektive Einschätzung des Problems.
2 Hauptteil
2.1 Durkheims 'Selbstmord'
Der 'Selbstmord' ist als Gesamtwerk in drei Bücher unterteilt ist. Während meine kritisch theoretische Betrachtung sich überwiegend auf das dritte Buch bezieht, ist eine Grundkenntnis des Inhalts der ersten beiden Bücher unerlässlich.
2.1.1 Zusammenfassung der ersten zwei Bücher
Durkheim beginnt seine Abhandlung mit einer Definition des Selbstmordes als zu untersuchendem Phänomen.
„ Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Verhaltens im voraus kannte. Der Selbstmordversuch fällt unter dieselbe Definition, bricht die Handlung aber ab, ehe der Tod eintritt.“(Durkheim, 2014, p. 29)
Dem so definierten Selbstmord folgt die Bestimmung der sozialen Selbstmordrate, als der Summe aller Selbstmorde in einer Gesellschaft für eine bestimmte Zeitperiode. Diese Tatsache sui generis hat eine eigene Natur und ist von eminenter sozialer Be- deutung (Durkheim, 2014, p. 30). Sie bildet als soziale Tatsache den eigentlichen Ge- genstand von Durkheims Studie, wobei der Begriff Tatsache zunächst verwirrend er- scheinen mag. Soziale Tatsachen sind von individuellen Handlungen nur indirekt ab- hängig. Sie nehmen gegenüber dem Individuellen einen höheren Stellenwert ein. Sie üben auf das Individuum Zwänge zu Taten aus. Ein Großteil des Werkes ist gefüllt mit Sozialstatistiken. Diese benutzt Durkheim als Mittel, um sich gegen Psychologistische Positionen abzugrenzen, welche Soziales aus der Summe individueller Handlungen erklären wollen, und den Stellenwert von sozialen Tatsachen als einer der Gesellschaft (dem Kollektivbewusstsein) eigenen Kraft zu untermauern. Er widerlegt mit Hilfe der ihm vorliegenden Statistiken die psychologistischen Erklärungsversuche für Selbst- morde von Gabriel Tarde (Münch, 2008, p. 75) und zeigt auch, dass kosmische Fakto- ren wie Klima, Temperatur und Jahreszeit keinen erheblichen Einfluss auf die Selbst- mordziffern haben. Es bleibt für Durkheim letzten Endes nur der Wahnsinn des Ein- zelnen, der als außersoziale Komponente auf die Neigung zum Selbstmord von Ein- zelpersonen Einfluss übt, jedoch auf die Selbstmordziffern im Gesamten kaum Ein- fluss hat. Durkheim kommt zu dem Schluss, dass die Erklärung eines sozialen Phäno- men eine soziale sein muss.
Um auf die eigentliche Ursache, einer gesamtgesellschaftlichen moralischen Krise, der stetig steigenden Selbstmordziffern zu stoßen unterscheidet Durkheim zunächst zwischen drei verschiedenen Selbstmordtypen als deren Wirkung. Diese sind der al- truistische, egoistische und anomische Selbstmord. Der erste ist Folge einer zu starken kollektiven Bindung und tritt vor allem häufig in primitiven und traditionalistischen Gesellschaften auf. In modernen westlichen Gesellschaften spielt er nur eine unterge- ordnete Rolle. Eine Ausnahme bilden nur die Heere, welche Durkheim als Keimzellen traditionalistischer Gesinnung sieht (Durkheim, 2014, chap. 4). Eine weit größere Rolle spielen in modernen und hoch kultivierten Gesellschaften die beiden anderen Selbstmordtypen.
Der egoistische Selbstmord kann als dialektischer Partner des altruistischen aufgefasst werden. Während der eine aus einem zu viel an kollektiver Bindung erwächst, ist der andere Folge einer zu schwachen Bindung. Das Individuum, welches Opfer des egois- tischen Selbstmordes wird, findet sich entkoppelt von der Gesellschaft und damit auch jeglicher Moral (Durkheim, 2014, p. 360). Es findet keinen Grund mehr zu leben, weil es keinen höheren Wert sieht als sich selbst. Aufklärung, Individualismus und der egoistische Selbstmord sind untrennbar miteinander verbunden, weil das moderne In- dividuum als selbstbewusstes erst mit der Auflösung feudaler Herrschaft entstehen konnte. Der , im Weberschen Sinne, Idealtypus des egoistischen Selbstmörders ist wohl der intellektuelle unreligiöse und familiär ungebundene Junggeselle. Er fällt dem Selbstmord zum Opfer, weil er von dem Gefühl ergriffen wird, dass all sein Handeln sinnlos ist. Es macht übrigens durchaus Sinn hier das Individuum als ein Opfer zu be- zeichnen. Für Durkheim ist es ja das spezifisch Soziale an dem Selbstmord als eigen- ständigem sozialen Phänomen, dass es außerhalb der Individuen existiert.
Der dritte und ebenfalls für die moderne Gesellschaft wichtige Selbstmordtyp ist der anomische Selbstmord. Er steht neben dem dialektischen Paar aus Altruismus und Egoismus und ist dem fatalistischen Selbstmordtypus entgegengesetzt, den Durkheim in einer Randbemerkung erwähnt, der aber ansonsten kaum eine Rolle für die Selbst- mordziffern spielt. Hier wird eine zweite wichtige Funktion der Gesellschaft deutlich. Neben der Bindung des Individuums an das Ganze der Gesellschaft muss diese auch materielle Grenzen setzen. Objektiv Wertvolles ist immer nur begrenzt verfügbar und es ist die Aufgabe der Gesellschaft die individuellen Grenzen für jedes Individuum zu ziehen. Ungestört leben kann der Mensch nur, wenn seine Bedürfnisse mit seinen Mit- teln im Einklang stehen. Der Zustand der Anomie, also einer Art Normlosigkeit, ist somit eine Erkrankung des Wirtschaftslebens. Werden zunehmend Bedürfnisse ge- weckt, die jedoch unmöglich befriedigt werden können, folgt eine Unzufriedenheit, die im schlimmsten Falle zum Selbstmord führt. Der wichtigste Auslöser für einen ge- sellschaftlichen Zustand der Anomie ist eine Wirtschaftskrise. Will man hier von ei- nem Idealtypus sprechen, kann man sich den gescheiterten Unternehmer vorstellen, der in Zeiten der Krise alles verliert und dessen hochgewachsenen Bedürfnisse nicht mehr mit seinen Mitteln im Einklang stehen (Durkheim, 2014, chap. 5). Die drei Ty- pen des Selbstmordes sind dabei von Durkheim als Grundformen gedacht, die im rea- len Leben zu Mischformen verschmelzen. Besonders der Egoismus und die Anomie besitzen eine Affinität zueinander, da sie zwei verschiedene Aspekte desselben sozia- len Zustandes darstellen, nämlich Grenzenlosigkeit (Durkheim, 2014, p. 332).
2.1.2 Drittes Buch: Vom Selbstmord als sozialer Erscheinung im Allgemeinen
Im dritten Buch behandelt Durkheim den Selbstmord als eine soziale Tatsache. Der Selbstmord steht dabei exemplarisch als eine soziale Tatsache unter vielen. Für Durk- heim ist die allgemeine Wirkung sozialer Tatsachen von Interesse. Da das Phänomen des Selbstmords auf individueller Ebene für Durkheim nicht erklärbar ist bleibt als einziger Ausweg die Ursache für das Phänomen außerhalb des Individuums, also in der Gesellschaft, zu suchen.
„Man muß also die Terminologie ganz streng auffassen. Die Kollektivströmungen führen ein Ei - genleben. Sie sind als Kräfte genau so wirklich wie kosmische Kräfte, auch wenn sie von anderer Art sind“ (Durkheim, 2014, p. 359).
Durkheim hat also sein Ziel erreicht. Er hat mit Hilfe von statistischen Mitteln seine vorher in den 'Regeln der soziologischen Methode' aufgestellte These bewiesen. Die Gesellschaft als Ganzes ist qualitativ größer als die Summe der Individuen (ihrer Tei- le) und sie führt als eigenständiger sozialer Akteur ein Eigenleben auf das die Indivi- duen keinen direkten Einfluss haben. Im Anschluss geht Durkheim auf die Kritik die- ser These ein. Durkheims Zeitgenosse Gabriel Tarde kritisiert ähnlich wie über 50 Jahre später auch Adorno, „daß das Sozialwesen zu nichts wird, wenn man das Einzel- wesen ausschaltet“ (Tarde, 1895, p. 222). Durkheim weißt diese Kritik in einer Ne- benbemerkung von sich. Er behauptet, dass es keine Tatsachen gibt die die Kritik sei- ner These stützen könnten (Durkheim, 2014, p. 362). Stattdessen liefert er mit dem ein weiteres Beispiel für eine soziale Tatsache.
Am Beispiel der Religion wird für Durkheim deutlich, dass diese als soziale Tatsache keine Existenz innerhalb des Individuums einnehmen kann. Menschen können nur innerhalb von Gruppen religiös denken. Sie ist ein Zusammenspiel von Vorstellungswelten Einzelner, ist aber in der Gesellschaft als ganzer verortet.
Ein weiterer Kritikpunkt gegenüber Durkheims These gilt der Eigenständigkeit der so- zialen Tatsachen und der damit verbundenen wirkenden Kräfte. Wie kann es einen kollektiven Akteur, das Kollektivbewusstsein geben, wenn die Gesellschaft doch nur aus einer Summe an Individuen besteht? Das Kräfte von außen auf die Individuen wirken können, zeigt sich am Beispiel des Materiellen. Auch eine Straße kann einmal gebaut auf das Verhalten vieler wirken. Ist sie gelegt, so wird man ihr folgen, solange man in die Richtung möchte in welche sie zeigt. Auch wenn man abseits der Straße gehen könnte, übt ihr Dasein unverkennbar einen Zwang auf uns aus. Ähnlich dazu hat auch ein festgeschriebenes Gesetz klar erkennbare Wirkungen auf viele Individuen in einer Gemeinschaft. Wobei das auch für überlieferte, nicht fixierte, Gesetze gilt. Sie sind zwar weniger starr, haben aber trotzdem eine soziale Wirkung. Wichtig ist zudem die Erkenntnis, dass Recht und Sitte nur der Ausdruck des dahinter liegenden Kollek- tivbewusstsein sind. Sie sind leichter erkennbar, jedoch dadurch nicht realer. Beide zeitigen Folgen, die es ohne sie, als soziale Tatsachen, nicht geben würde (Durkheim, 2014, pp. 366-368).
Ein weiteres Argument für das Kollektivbewusstsein ist für Durkheim, dass ein Durchschnittsmensch für sich genommen eine wenig ausgeprägte Moral besitzt. Er ist eher auf seinen eigenen Vorteil aus und wird vor allem durch die Gesellschaft bzw. das Kollektivbewusstsein daran gehindert kollektive Gefühle zu verletzen. Moral ist demnach ein System von Kollektivzuständen und geschaffen von der Gesellschaft (Durkheim, 2014, p. 371). Die Individuen, welche ja die Gesellschaft erst schaffen, er- schaffen zusammen mit ihr die Moral, welche sie fesselt. Das ist die Dialektik, die bei moralischen Dilemmata zu Tage tritt, wenn man seine Interessen gegen die der Gesell- schaft abwiegen muss. Durkheim spricht hier von einem Doppelleben bzw. von zwei antagonistischen Neigungen. Meistens wird diese Dialektik jedoch nicht erfahren, da entweder das Eigeninteresse oder das Interesse der Gesellschaft überwiegt. Wenn das passiert, handeln wir mit der Unmittelbarkeit des Instinkts, d.h. ohne weitere Reflexi- on unserer Handlung. Durkheims Position ist im Hinblick auf das Kollektivbewusst- sein eine Organizistische ist. Die Individuen gleichen Atomen oder Zellen, welche vereint im Lebewesen ein Lebewesen höherer Ordnung schaffen.
Die sozialen Selbstmordrate kann also nur soziologisch erklärt werden. Sie ist die di- rekte Folge der moralischen Verfassung einer Gesellschaft, dem Kollektivbewusstsein. Nur soziale Gegebenheiten können die soziale Selbstmordrate beeinflussen (Durk- heim, 2014, p. 375).
2.2 Kritische Betrachtung von Durkheims 'Selbstmord'
2.2.1 Die kritische Theorie und Adornos Gesellschaftsbegriff
[..], daß die Gesellschaft eine von Menschen, daß sie menschlich sei, unmittelbar eins mit ihren Subjekten; als bestünde nicht das spezifisch Gesellschaftliche im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen, deren entmächtigte Produkte diese nachgerade sind (Tiedemann and Adorno, 1997, vol. 9, pp. 8)
Liest man dieses Zitat Adornos aus der 'Gesellschaft', so merkt man, dass Adornos Verständnis der Gesellschaft nicht allzu weit von dem Durkheims entfernt ist. Beide sind gegen eine dualistische Auffassung, in der Individuum und Gesellschaft völlig voneinander getrennt sind. Sowohl seine biologische Existenz als auch sein Selbstbe- wusstsein sind von Gesellschaft vermittelt. Die Aufklärung und die damit verbundene Modernisierung der westlichen Welt müssen dialektisch gedacht werden, weil das auf- geklärte Individuum zum einen erst durch die Vergesellschaftung möglich, zum ande- ren aber auch davon bestimmt und kontrolliert wird. Jedoch sieht Adorno im Gegen- satz zu Durkheim nicht nur die moralisierende Wirkung der Gesellschaft, sondern auch oder vor allem eine deformierende. Adorno spricht hier von einer misslungenen Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Individuum ist im Zuge der Modernisierung der Gesellschaft zu dessen Marionette geworden und wird gesteuert von den Vorgaben der Ökonomischen Welt (Schweppenhäuser, 2016, p. 167). Den Grund für diese Entwicklung sieht Adorno analog zu Marx in dessen „Mehrwerttheo- rie“ und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Antagonismus. Da der Tauschwert von Arbeitskraft und Profit immer zu Gunsten des Kapitalisten ausfällt, kommt es zu einer Gesellschaft, die auf nur scheinbar gerechtem Tausch beruht. Dieser Tausch ist gleichzeitig formal gerecht und material ungerecht, denn nur scheinbar wird jeder nach seine Leistung gerecht bezahlt. Dieser Tauschandel ist der Motor einer un- menschlichen Gesellschaft, da der Tausch immer nur ökonomisch Verwertbares posi- tiv wertet, niemals jedoch reale menschliche Bedürfnisse (Schweppenhäuser, 2003, p. 72). Quantität kommt hier immer vor Qualität. Die Folge dieser Entwicklung ist eine zunehmende gesellschaftliche Tendenz zur Verdinglichung sozialer Prozesse und eine Entfremdung der Menschen von dem, worüber sie die Macht ausüben (Horkheimer and Adorno, 1988, p. 15). Werte sind für Adorno erfahrbar und müssen in der An- schauung gesucht werden. Sie sind vollständig individuell und daher für jeden ver- schieden. Der Wert einer Sache ist nicht von außerhalb bestimmbar, sondern muss mit den Mitteln der negativen Dialektik individuell erkannt werden. Das bedeutet, man muss herrschende Begriffe auf ihre Anschauung hin destruieren. Oft wird man dann feststellen, dass bei herrschenden Begriffen eine Umkehrung zwischen Begriff und Anschauung vorliegt.
Adornos Moralverständnis wird vor allem bei der Auseinandersetzung mit der 'Mini- ma Moralia' deutlich, deren Titel im Gegensatz zur Aristotelischen 'Magna Moralia' steht. Geprägt durch die Schrecken der NS-Zeit lehnt Adorno jede rein äußerliche Mo- ral ab. Macht und Erkenntnis sind für die kritischen Theoretiker synonym und so kommt es, dass jede Moraltheorie verneint wird. Adornos freiheitliches Menschenbild lässt keine von außen aufgezwängte Moralvorstellung zu. Den besseren Zustand zum Gegenwärtigen muss man sich denken als einen in dem man ohne Angst verschieden sein kann (Tiedemann and Adorno, 1997, vol. 4 ,p. 114). Alternativ zur falschen Moral sieht Adorno die politische Ethik „als Grundlage normativ richtiger, kollektiver Pra- xis“ (Schweppenhäuser, 2003, p. 95). Wir werden zwar durch die Gesellschaft zu Handlungen gezwungen, jedoch dürfen wir das Bewusstsein darüber nicht verlieren. Für die Reflexion unerlässlich ist die Anwendung der Methode der kritischen Theorie, der negativen Dialektik. Es gilt verschleierten Charakter gesellschaftlicher Herrschaft aufzudecken und aufzuzeigen, wie sehr sich real vorhandene Möglichkeiten zur Be- dürfnisbefriedigung von den tatsächlich vorhandenen Bedürfnissen entfremdet haben.
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