Der Einfluss von Musik auf die frühkindliche Entwicklung. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur frühkindlichen Musikerziehung


Fachbuch, 2018

41 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Verarbeitung von Musik im Gehirn
2.1 Musikwahrnehmung im Kindesalter
2.2 Der Einfluss von Musik auf das Gehirn

3 Der Einfluss von Musik auf kindliche Entwicklungsbereiche
3.1 Sprachentwicklung
3.2 Kognitive Entwicklung
3.3 Soziale Kompetenzen
3.4 Emotionale Entwicklung
3.5 Motorische Entwicklung
3.6 Weitere Entwicklungsbereiche

4 Musikalische Aktivitäten und ihre Bildungsrelevanz

5 Pädagogische Grundlagen frühkindlicher Musikerziehung
5.1 Zum Instrumentalunterricht

6 Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Musikalische Wahrnehmung & Aktivitäten im Alter von 0 bis 2 Jahren

Abbildung 2: Ergebnisse der Studie v. Koelsch & Jentschke

Abbildung 3: Resultate des Tests zur Hilfsbereitschaft

1 Einleitung

Meine ersten musikalischen Erfahrungen sind so lange her, dass ich mich leider nicht mehr an sie erinnern kann. Etwas näher zurück, laut Fotoalbum etwa ab dem Alter von zwei Jahren, liegen die ersten Versuche auf der Kindergartenflöte, das Lernen von bunten Noten mittels Tiernamen, Kinderliederraten und ‑vervollständigen, Singen im der Krabbelgruppe und dem Kindergarten, meine ersten Klavierstücke (die in Moll brachten meinen kleinen Bruder stets zum Weinen…), das Vorspielen von Weihnachtsliedern, damit der Nikolaus die Geschenke rausrückte, wildes Galoppieren durchs Wohnzimmer zu Rossinis Wilhelm Tell -Ouvertüre und vieles mehr. Eine privilegierte und – so weiß ich heute – äußerst kostbare Art des Aufwachsens, die mir zu meinem großen Glück vornehmlich durch meine liebe Mutter ermöglicht wurde. Heute, über 20 Jahre später, existiert eine Vielzahl an wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema Musik und kindlicher Entwicklung, die die Bedeutung der frühkindlichen Musikerziehung untermauern.

Ebendiese positiven Einflüsse bilden den Kern dieser Arbeit (Kapitel 3). Um zunächst zu verstehen, wie musikalische Ereignisse wahrgenommen und im Gehirn verarbeitet werden, steht dem Hauptteil ein Kapitel (2) voran, das sich neben der allgemeinen Aufnahme von Schallereignissen vor allem mit der kindlichen Musikwahrnehmung (2.1) und dem frühen musikalischen Lernen (2.1.2) beschäftigt. Nach einem kurzen Exkurs zur Bildungsrelevanz der musischen Bildung (Kap. 4) werden in Kapitel 5 pädagogische Schlussfolgerungen für frühkindliche Musikerziehung aus den gewonnenen Erkenntnissen gezogen. Der Begriff frühkindlich bezieht sich in dieser Untersuchung stets auf die Altersspanne von der Geburt bis zum Vorschulalter.

Natürlich ist mir bewusst, dass es eine Unmenge an formalen frühkindlichen Musikförderprogrammen gibt und diese Arbeit erhebt auch nicht den Anspruch, völlig neue pädagogische Ansätze zu entdecken. Ich vermeide deshalb sowohl den Begriff der elementaren Musikpädagogik (schon allein, weil deren Konzept für alle Altersstufen entwickelt wurde), als auch die Nennung einzelner formaler Musikförderprogramme, sofern sie nicht explizit in Studien untersucht werden. Die Wissenschaft, gerade im Bereich der Hirnforschung, entwickelt sich fast täglich weiter und gewinnt neue Erkenntnisse. Diese sollten für Musikpädagogen, ganz egal mit welchem pädagogischen Konzept sie bevorzugt arbeiten, per se interessant und aufschlussreich sein.

2 Die Verarbeitung von Musik im Gehirn

Jede Art von akustischer Information, sei es Sprache, Musik oder Lärm, wird im Innenohr in neuronale, also elektrische Impulse umgewandelt. Während dieser Codierung muss das menschliche Gehirn enorme Leistungen erbringen: Jeder einzelnen der rund 7000 Haarzellen im Innenohr stehen etwa 14 Millionen Neuronen zur Weiterverarbeitung gegenüber. Das Gehirn hat demnach die Aufgabe, aus den vergleichsweise marginalen Informationen all die Details zu erzeugen, die beim Sprachverstehen oder der Musikwahrnehmung vorliegen. Das Resultat dieses Vorgangs, bei welchem dem ursprünglichen Signal eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird, hängt maßgeblich von der Erfahrung bzw. der Geübtheit des Hörers ab. (Karnath & Thier, 2006) Die eigentliche Musikwahrnehmung entsteht demnach nicht nur aus den Reizen, die über die Ohren aufgenommen werden, sondern aus mentalen Generierungsprozessen auf der Grundlage von in neuronalen Netzwerken gespeicherten Mustern (mentalen Repräsentationen). Je vielfältiger die musikalischen Erfahrungen, desto komplexer die Klangvorstellungen, die abgerufen werden. (Gruhn, 2018)

Die akustische Information wird durch den Hirnstamm und den Thalamus in den auditiven Kortex geschickt. Dort werden die Grundelemente des auditiven Reizes wie Tonhöhe, Chroma (Tonfarbe), Timbre (Klangfarbe), Tondauer und Lautstärke extrahiert. Bereits vom Thalamus aus werden zusätzlich Daten an die Amygdala und den Orbitofrontalkortex – Strukturen, die für die emotionale Bewertung und die Kontrolle emotionalen Verhaltens entscheidend sind – weitergeleitet. (Koelsch & Schröger, 2007)

Eine Kombination aus mehreren Klängen, also die eigentliche Musik, wird als auditive Gestalt bezeichnet. Diese auditiven Gestalten werden mit der Zeit als Muster im auditiven Gedächtnis integriert und schließlich in einer Art „mentalen Musikbibliothek“ im Langzeitgedächtnis abgespeichert. Anhand der Muster in dieser Bibliothek kann neue Musik verglichen, analysiert und entsprechend eingeordnet werden. (Karnath & Thier, 2006)

Im Anschluss an die soeben beschriebenen frühen Verarbeitungsstufen wird die sogenannte musikalische Syntax, der „Satzbau“ der Musik, verarbeitet; die musikalischen Ereignisse werden anhand von Parametern wie Melodiestruktur, Zeitstruktur, vertikal harmonischer Struktur (Akkorde) und dynamischer Struktur analysiert und eingeordnet. Damit ähnelt die Musikwahrnehmung der Verarbeitung von Sprache. Die Analyse des musikalischen Satzbaus ist jedoch – so weisen unter anderem Koelsch und Fritz 2007 nach – nicht ausschließlich musikalisch ausgebildeten Menschen vorbehalten: In einem Experiment wurde Nicht-Musikern eine Sequenz, die jeweils zufällig auf einem „richtigen“ Schluss (Tonika) oder auf einem „falschen“ Schluss (Doppeldominante) endete, in verschiedenen Tonarten vorgespielt. Die Hirnaktivität der Versuchspersonen wich bei einem Ende der Sequenz auf der Doppeldominante deutlich von der eines „normalen“ Schlusses ab. Dieses implizierte Wissen wird vermutlich durch alltägliche Hörerfahrungen erworben. (Koelsch & Fritz, 2007)

Anders als lange vermutet, gibt es kein spezifisches Musikzentrum im Gehirn; wie oben beschrieben, werden bei der Musikwahrnehmung verschiedenste Hirnareale beansprucht, die sich mit anderen Bereichen des Denkens, Fühlen und Handelns teils in beträchtlichem Maße überschneiden. Dadurch kommt es auch zu positiven Transfereffekten auf andere Bereiche, für die jene Hirnareale verantwortlich sind (siehe Kap. 3). Die Musikwahrnehmung unterscheidet sich von der Verarbeitung anderer Sinneswahrnehmungen besonders in der Vielschichtigkeit der angesprochenen Hirnareale. (Bernatzky & Kreutz, 2015) Des Weiteren sind die neuroanatomischen Substrate des Musikhörens individuell ausgeprägt und werden davon bedingt, wie die betreffende Person gelernt hat, Musik zu hören. So scheint das praktische Musizieren eher in Netzwerken in der rechten, das Erlernen von Fachwissen über Musik eher in der linken Gehirnhälfte stattzufinden. (Karnath & Thier, 2006)

2.1 Musikwahrnehmung im Kindesalter

Die Möglichkeiten pränataler Forschung haben sich in den letzten Jahren rasant verbessert. Während der Säugling noch vor einigen Jahrzehnten eher als defizitäres, in vielerlei Hinsicht noch rudimentär entwickeltes Lebewesen angesehen wurde, weiß man heute, dass sich gerade in den ersten beiden Lebensjahren, ja sogar in den vorgeburtlichen Monaten, die individuelle Grundstruktur des Gehirns fast vollständig ausbildet. (Stadler Elmer, 2015) Daraus lässt sich schlussfolgern, dass auch äußere Einflüsse, wie zum Beispiel musikalische Anregungen, eine maßgebliche Bedeutung haben. Dies wird durch eine Studie von Kelley und Sutton-Smith (1987) untermauert, in der die Rolle der frühen musikalischen Interaktion über zwei Jahre hinweg erstmals untersucht wurde. Die beiden Forscher fanden heraus, dass bereits in der frühkindlichen Phase (hier 0-3 Jahre) unterschiedliche Aufwuchsbedingungen in Hinblick auf den musikalischen Anregungsgehalt zu großen Unterschieden in der musikalischen Entwicklung führen. (Kelley & Sutton-Smith, 1987)

Wie entwickelt sich die musikalische Wahrnehmung bei Kleinstkindern? Inwiefern lernen Kleinstkinder? Gibt es eine „angeborene“ Musikalität? Diesen und anderen für die elementare Musikpädagogik relevanten Fragen sollen in diesem Abschnitt auf den Grund gegangen werden.

2.1.1 Musikalische Wahrnehmung

Im Grunde funktioniert die Aufnahme musikalischer Reize und Anregungen bei Kindern ähnlich, wie oben für Erwachsene beschrieben. Der Hörsinn ist, inklusive der Verbindung zwischen Ohren und Hirn, schon drei Monate vor dem errechneten Geburtstermin voll ausgeprägt. Damit sind die akustischen Fähigkeiten des Kindes früher entwickelt, als jedes andere Sinnesorgan. Eine Reihe von Studien belegen, dass das Ungeborene auf eine Vielzahl von auditiven Reizen reagiert und sich sogar nach der Geburt an pränatal häufig erklungene Melodien erinnern kann. (Gruhn, 2011) Dies lässt vermuten, dass die pränatalen Hirnfunktionen sowie die auditive Wahrnehmung schon sehr differenziert ausgeprägt sind. (Stadler Elmer, 2015)

Dennoch unterscheidet sich die Form ihrer musikalischen Wahrnehmung grundsätzlich von jener der Erwachsenen. Im Mutterleib nehmen die Föten Schallreize nicht ausschließlich über das auditive System wahr, da der Schall nicht durch die Luft, sondern auch in Form von Vibrationen durch das Fruchtwasser gelangt. Das pränatale Hören umfasst demnach mehrere Wahrnehmungsbereiche des Ungeborenen. (Stadler Elmer, 2015)

Auch nach der Geburt finden sich musikalische Wahrnehmungen und erste musikalische Aktivitäten im Bereich der Sensomotorik[1]: sensomotorische Sinneswahrnehmungen und Erfahrungen sind Grundlage für musikalisches Lernen. (Stadler Elmer, 2015) Der Musikpädagoge Wilfried Gruhn schreibt dazu:

„Je jünger die Kinder sind, desto mehr ist ihre Wahrnehmung vollends körperlich und noch nicht selektiv in kognitive, sensorische (motorische) und emotionale Anteile aufgespalten. Säuglinge reagieren auf Klänge und Rhythmen zunächst überwiegend viszeral, also leiblich, ihre Wahrnehmung ist ganzheitlich (coenästhetisch), bevor sie diakritisch und damit zerebral gesteuert wird und sich in getrennte Bereiche der hörbaren, sichtbaren, fühl-, riech- und schmeckbaren Wahrnehmungen ausdifferenziert.“ (Gruhn, 2011)

Dennoch können bereits Säuglinge eine erstaunliche Bandbreite von auditiven Reizen erkennen und differenziert verarbeiten. Dabei sind die Neugeborenen schon im Alter von einigen Tagen fähig, die Stimme der Mutter wiederzuerkennen. (Stadler Elmer, 2015) Wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, geschieht solches Erkennen im Rahmen erworbener mentaler Repräsentationen. Da der Erwerb dieser neuronalen Ressourcen erfahrungsabhängig ist, basiert der musikalische Entwicklungsgrad von Säuglingen und Kleinstkindern auf dem Ausmaß musikalischer Erfahrungen, was für eine früh einsetzende elementare Musikerziehung spricht. (Koelsch & Jentschke, 2011)

2.1.2 Frühes musikalisches Lernen

Freilich kann man bei Kleinstkindern noch nicht von musikalischem Lernen im Sinne von Unterricht oder dem Erwerb von Wissen sprechen. All die beschriebenen Anpassungsvorgänge des Gehirns, die Entwicklung musikalischer Grundkompetenzen sowie die Ausprägung komplexer mentaler Repräsentationen können jedoch sehr wohl als frühes musikalisches Lernen bezeichnet werden. Die Plastizität des Gehirns ist in den ersten beiden Lebensjahren am größten. Ist die Grundstruktur des Hirns einmal ausgebildet, sind Umstrukturierungen dennoch möglich, wenn auch weniger schnell. (Stadler Elmer, 2015) Das Lernen fällt folglich in frühen Jahren besonders leicht, was die frühkindliche Entwicklungsphase zu einem bedeutenden Alter für Erziehung im Allgemeinen macht. Zwar sollte die frühkindliche Phase des Lernens nicht unterschätzt werden; ein Reizüberfluss ist jedoch genauso wie Reizarmut schädlich für das Kleinkind, betont Hirnforscher Wilfried Gruhn (2011).

Insgesamt lernen Kinder und Jugendliche müheloser, da sie über eine größere fluide Intelligenz (logisches Problemlösen, Lernen, Auffassungsgabe) verfügen, als Erwachsene. Demnach überwiegen bei Personen ab etwa 25 Jahren diejenigen Fähigkeiten, die aufgrund von Erfahrung erlernt wurden oder durch die Umwelt bestimmt werden (kristalline Intelligenz). (Gruhn, 2011) Die Entwicklung der fluiden Intelligenz hat ihren Höhepunkt bei jungen Erwachsenen und nimmt dann kontinuierlich ab. (Walter, 2011) Die beiden zentralen Lernformen, die die frühe Kindheit prägen sind Nachahmung und Spiel. (Stadler Elmer, 2015)

Elmer (2015) und Gruhn (2011) beschreiben, dass sich frühkindliches musikalisches Lernen auf die Koordination von zunächst universellen sensomotorischen Verhaltenselementen (Schallwahrnehmung, Vokalisation, Bewegung) gründet. Diese sensomotorischen Erfahrungen führen zur Bildung mentaler Repräsentationen, die wiederum notwendig sind, um Musik zu erkennen, zu kategorisieren, mit Stimme und Bewegung zu koordinieren, nachzuahmen und mit Emotionen zu verknüpfen. (Stadler Elmer, 2015) Dabei spielt die Motorik, insbesondere rhythmische Bewegungen als Reaktion auf Musik, eine besonders wichtige Rolle, da Bewegung der zentrale Wahrnehmungsmodus von Kindern ist. (Gruhn, 2018)[2]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Musikalische Wahrnehmung & Aktivitäten im Alter von 0 bis 2 Jahren

Quelle: eigene Darstellung

Es gibt eine Vielzahl von Studien über die musikalische Wahrnehmung sowie die frühen musikalischen Aktivitäten von Kindern im Alter von null bis zwei Jahren. Da deren ausführliche Behandlung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, habe ich die Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen in einem Schaubild (Abb. 1) zusammengefasst. Dabei finden sich oberhalb des Zeitstrahls frühe musikalische Aktivitäten in den Bereichen Emotion (rot), Motorik (grün) sowie Hören & Vokalisation (blau). Unterhalb sind Ergebnisse aus Studien dargestellt, die sich mit der frühkindlichen Wahrnehmung von Musik (dunkelblau) beschäftigten. Selbstverständlich können und wollen diese Studien kein eindeutiges Alter festlegen, in dem bestimmte Kompetenzstufen erreicht sein müssen; wie bereits mehrfach erwähnt wird der Entwicklungsprozess durch die individuellen Anlagen sowie die äußeren Umstände maßgeblich beeinflusst.

Fehlende Musikalität, musische Begabung oder Talent wird – vor allem in der Schule – weithin als Ausrede für mangelnde Fähigkeiten benutzt. Dies impliziert, dass Musikalität eine statische Eigenschaft sei, eventuell sogar angeboren, also genetisch vorbestimmt. Auch wenn große Teile des Gebietes bis heute nicht hinreichend erforscht sind, lässt sich mit Sicherheit sagen, dass es kein einzeln verantwortliches „Musik-Gen“ oder eine angeborene Prädisposition zum Wunderkind gibt. (Stadler Elmer, 2015)

Nach der Begabungstheorie von Edwin Gordon ist musikalische Begabung das Produkt aus (einem jeden) angeborenem Potenzial und Umwelterfahrungen. Jeder Mensch ist mit musikalischem Potenzial ausgestattet; reichhaltige Erfahrungen lassen dieses wachsen, unzureichende verkümmern. (Gordon, 1986) Auch diese Theorie gründet sich auf die enorme Plastizität des Gehirns in den ersten beiden Lebensjahren. Laut Gordons Annahmen nivelliert sich die musikalische Begabung im Alter von etwa neun Jahren und bleibt für den Rest des Lebens erhalten. Diese Stabilisierung gilt heute als überholt. Stattdessen geht man davon aus, dass musikalische Begabung eine Kombination aus teils spezifischen (z.B. Hörfähigkeiten), teils universellen (z.B. allgemeine Intelligenz) angeborenen Komponenten sowie reichhaltiger musikalischer Erfahrungen und Förderung durch die frühe Kindheit hindurch darstellt. (Gembris, 2014)

2.2 Der Einfluss von Musik auf das Gehirn

Dass Musiker infolge ihres speziellen und meist intensiven Übens über ein besonderes Gehirn verfügen, steht mittlerweile außer Frage und ist empirisch durch eine Vielzahl von Studien belegt. So können bei Profimusikern schon im neuroanatomischen Bereich einige Besonderheiten festgestellt werden. Im Vergleich zu Nicht-Musikern lässt sich beispielsweise eine größere Dichte der grauen Substanz[3] in Hirnarealen, die zur Kontrolle des Musizierens aktiviert werden, erkennen. Dass diese Veränderungen schon im Grundschulalter feststellbar sind, wird von einer Längsschnittstudie einer Bostoner Arbeitsgruppe um Gottfried Schaug mit 8 bis 9 jährigen Kindern untermauert: Bei denjenigen Kindern, die ein Jahr lang im üblichen Umfang Klavierunterricht erhielten, konnten gegenüber einer Kontrollgruppe, die keinen Instrumentalunterricht bekam, signifikante Verdichtungen der grauen Substanz in den einschlägigen Hirnarealen gemessen werden. (Bernatzky & Kreutz, 2015)

Des Weiteren kann sowohl eine anatomische Vergrößerung des motorischen und auditiven Kortex (Zentren für willkürliche Bewegungen bzw. Hören), als auch eine Verdichtung der Neuronen in diesen Hirnbereichen festgestellt werden. Die Ausprägung dieser Besonderheiten ist gerade bei Personen, die vor dem 7. Lebensjahr mit dem Instrumentalspiel begannen, auffällig groß. (Karnath & Thier, 2006)

Weit interessanter als rein anatomische Befunde sind jedoch Untersuchungen zur funktionellen Neuroplastizität[4]. Demzufolge unterliegt das Gehirn während des aktiven Musikhörens oder des eigenen Musizierens ständig plastischen Lernvorgängen und Anpassungen der neuronalen Netzwerke. Diese Anpassung führt zu Optimierungsvorgängen: Bei neuen motorischen Trainings, zum Beispiel dem Erlernen eines Klavierstückes mit neuen Bewegungsabläufen, ist vorübergehend eine Zunahme der Erregung im primären Motorkortex zu verzeichnen. Bei anhaltendem Training normalisiert sich diese Aktivität jedoch wieder und sinkt mit der Zeit sogar unter die Normalaktivität: Das Gehirn hat sich quasi selbst „optimiert“ und nutzt jetzt nur noch diejenigen Neuronen, die wirklich zur Ausführung der geübten Tätigkeit notwendig sind. Langfristig hat dies zur Folge, dass das motorische System von Musikern – insbesondere bei motorischen Tätigkeiten, die dem Musizieren ähneln – wesentlich geringer beansprucht wird, als bei Nicht-Musikern. (Bernatzky & Kreutz, 2015)

Es liegt auf der Hand, dass das auditorische System bei Musikern besonders ausgeprägt und effizient arbeitet. Es wird vermutet, dass die auditorischen Hirnareale des Menschen weit plastischer sind, als diejenigen anderer Lebewesen, da der Mensch als einziger über die sich im Verlauf der Evolution entwickelte besondere Fähigkeit des Sprachenlernens verfügt. (Bernatzky & Kreutz, 2015) Wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, überschneiden sich die verantwortlichen Hirnareale von Musik- und Sprachwahrnehmung signifikant. Die neuronale Aktivität im primären und sekundären auditorischen Kortex kann sowohl bei Nicht-Musikern, als auch bei Musikern mit entsprechend anspruchsvolleren Aufgaben vergrößert werden. Kurioserweise sind jene Veränderungen bei Musikern instrumentenspezifisch; ein Trompeter reagiert folglich aktiver auf Trompeten- als auf Geigenklänge. Bei verschiedenen Berufsmusikern sind außerdem jeweils diejenigen neuronalen Netzwerke besonders ausgeprägt, die bei spezifischen Anforderungen benötigt werden: Ein Dirigent besitzt beispielweise außerordentliche Fähigkeiten der Ortslokalisation von Klangquellen, ein Geiger dagegen eine sehr präzise Tonhöhenwahrnehmung. (Karnath & Thier, 2006)

3 Der Einfluss von Musik auf kindliche Entwicklungsbereiche

Die Frühförderung von Geburt an bis ins Vorschulalter rückt in allen Erziehungsbereichen zunehmend ins Licht. Das ist nicht verwunderlich, da dies eine sehr sensible, wenn nicht gar die sensibelste Entwicklungsphase eines Kindes ist. Im Folgenden wird der Einfluss musikalischer Frühförderung auf verschiedene kindliche Entwicklungsbereiche beleuchtet. Die Einteilung dieser Bereiche orientiert sich an den vielfach zitierten sechs Grenzsteinen der Entwicklung von R. Michaelis, wobei die Körper- und Feinmotorik als Einheit zusammengenommen wurde.

3.1 Sprachentwicklung

Es existiert eine Reihe an Studien, die die Annahme stützen, dass sprachlichen und musikalischen Verarbeitungsprozessen ähnliche neuronale Strukturen zugrunde liegen. Außerdem werden verwandte bzw. sogar sich überschneidende Hirnregionen zur Verarbeitung musikalischer und sprachlicher Syntax aktiviert. (Gruhn, 2011) Des Weiteren beruht sowohl das Singen als auch das Sprechen auf demselben neuronalen Mechanismus der phonologischen Schleife[5]. Dass manche Personen einen Ton nicht in der richtigen Tonhöhe nachsingen können, liegt demnach lediglich an einer Störung der Fähigkeit (vermutlich verursacht durch fehlende Übung), den gehörten Ton in die entsprechende Artikulationsbewegung zu übertragen. Wilfried Gruhn (2018) stellt sogar die gewagte These auf, dass „wer sprechen kann, auch singen können muss“.

Viele Transfereffekte zwischen Musik und Sprache beruhen bei musikgeschulten Erwachsenen auf dem durch Training außerordentlich ausgebildeten auditorischen System. Demnach fällt es Musikern leichter, Sprachreize zu lernen, zu diskriminieren und einzuordnen. (Bernatzky & Kreutz, 2015) Interessant für die Musikpädagogik erweist sich in diesem Zusammenhang eine Studie von Fujioka und Kollegen (Fujioka, et al., 2006), in der auditorisch evozierte Potenziale (vereinfacht ausgedrückt: Hirnreaktionen auf Schallereignisse) bei vier- bis sechsjährigen Kindern mit jeweils einjährigem Musiktraining aus Suzuki-Musikschulen sowie einer Kontrollgruppe ohne Musiktraining untersucht wurden. Nach einem Jahr intensiven Geigenunterrichts reagierten die musikgeschulten Kinder intensiver auf ihnen dargebotene Geigentöne, als auf nicht-musikalische Schallreize. Dieses Ergebnis legt offen, dass das auditorische System schon bei Kindern im jungen Alter durch formale Musiktrainings gefördert werden kann.

Eine weitere beachtenswerte Studie von Koelsch und Jentschke (2011) untersucht Transfereffekte zwischen der Verarbeitung linguistischer und musikalischer Syntax bei Kindern. Den Versuchsteilnehmern (einerseits 10-11 jährige Kinder mit und ohne musikalischem Training, andererseits 4-5 Jährige, teils mit einer Sprachentwicklungsstörung) wurden zum einen Akkordsequenzen mit regulären und irregulären Schlussakkorden (Tonika vs. Subdominantparallele) vorgespielt. Der älteren Versuchsgruppe wurden in einem zweiten Experiment außerdem syntaktisch korrekte und nicht korrekte Sätze dargeboten. Via EEG wurden dabei jeweils die Hirnreaktionen der einzelnen Kinder gemessen. Wie Abbildung 2 eindrucksvoll darstellt, zeigten die Kinder mit musikalischem Training (Mitglieder des Thomanerchores mit etwa 3 Jahren intensivem Musikunterricht) nicht nur bei der Verletzung der musikalischen Syntax, sondern auch bei inkorrekten Sätzen signifikant stärkere Reaktionen. Andererseits zeigten die sprachentwicklungsgestörten Vier- bis Fünfjährigen keine Reaktion auf die Veränderung musikalischer Syntax, während die sprachnormalen Altersgenossen in der Lage waren, diese schnell und genau zu verarbeiten. Diese Ergebnisse lassen Rückschlüsse auf die enge Verbindung zwischen Sprache und Musik zu. Außerdem zeigen sie, dass Kinder enorm von musikalischem Training profitieren und sich die erworbenen Fertigkeiten zumindest teilweise auch auf die Sprachentwicklung übertragen lassen. (Koelsch & Jentschke, 2011)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Ergebnisse der Studie v. Koelsch & Jentschke

Je mehr Nervenzellen aktiviert sind, desto negativer die Spannungsunterschiede (s. Skala) und desto dunkler die entsprechenden Stellen auf der Kopfoberfläche
Quelle: Koelsch & Jentschke, 2011

Insgesamt belegen diese Arbeiten, dass für die Sprachverarbeitung wichtige Hirnregionen schon bei (Klein-)Kindern durch musikalische Trainings geschult und ausgebaut werden können. Sowohl die Verarbeitung sprachlicher Syntax, als auch das auditorische System samt Fertigkeiten zur Diskrimination und Einordnung verschiedener Schallreize werden durch intensive Musiktrainings nicht nur beeinflusst, sondern auch maßgeblich verbessert. Dies bildet sich überdies auch in spezifischen neuronalen Anpassungen ab.

3.2 Kognitive Entwicklung

Der Begriff kognitive Entwicklung wird oft synonym zu Intelligenz oder geistiger Entwicklung verwendet. Die kognitiven Funktionen umfassen unter anderem die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsfähigkeit, logisches Denken wie z.B. Problemlösen, Erinnern und Lernen, Urteilen und gerichtetes Handeln. (Stangl, 2018)

Die Thesen und Slogans über wundervolle Transfer-Effekte von Musik auf das Gehirn und die allgemeine Intelligenz könnten nicht vielfältiger sein: Vom berühmten „Mozart-Effekt“, über „Mozart macht schlau“, kostenlos verteilte Klassik-CDs für junge Mütter in den USA und Kopfhörer für Babybäuche scheinen der Kreativität zur Intelligenzförderung durch Musik keine Grenzen gesetzt zu sein. Der Schluss, durch aktives Musizieren sein Gehirn zu trainieren – schlauer zu werden – liegt zugegebenermaßen auch nicht fern, bedenkt man, dass Musizieren auf hohem Niveau zu den schwierigsten menschlichen Leistungen gehört: Gehörsinn, Motorik, Körperwahrnehmung und Hirnregionen zur Emotionsverarbeitung werden gleichzeitig beansprucht. Doch der Schein trügt: Arbeitet man sich durch die Vielzahl an Studien, die den Zusammenhang zwischen musikalischen Aktivitäten und Intelligenz belegen wollen, sind die Ergebnisse oft ernüchternd, nicht beweiskräftig oder sogar widersprüchlich. Laut Altenmüller (2007) ist dies – zumindest teilweise – bislang fehlenden Testinstrumenten, oftmals fehlerhaften oder unzureichenden Studiendesigns sowie sehr unterschiedlichen Methoden und Begrifflichkeiten geschuldet.

Sind die viel diskutierten intelligenzfördernden Eigenschaften von Musik also lediglich das Ergebnis fehlinterpretierter Studien und aufgebauschter Slogans in den Medien? Um diese Frage beantworten zu können, werden im Folgenden einige Studien und deren Ergebnisse näher beleuchtet.

3.2.1 Musikhören und Intelligenz

Das Interesse an den Auswirkungen von Musik auf die Intelligenz wurde vornehmlich vom sogenannten Mozart-Effekt, einer Studie von Rauscher et al. (1993) geweckt: Spielte man Studierenden zehn Minuten lang den ersten Satz der D-Dur Sonate für zwei Klaviere von W. A. Mozart vor, konnten sie für wiederum etwa zehn Minuten danach eine Papier-falt-und-schneide-Aufgabe, mit der die räumliche-visuelle Intelligenz getestet werden sollte, besser lösen, als Kollegen, denen man Entspannungsaufgaben vorspielte oder die in der Stille warteten. (Rauscher, et al., 1993) Obwohl in der Studie nur von sehr kurzfristigen und noch dazu auf einen sehr kleinen Bereich der räumlich-visuellen Wahrnehmung beschränkten Effekten die Rede war, schlug diese hohe Wellen in der Öffentlichkeit. Eine Kontroverse entstand: Der Mozart-Effekt konnte in einigen Studien nachgewiesen werden, in anderen jedoch nicht. (Bernatzky & Kreutz, 2015) Die aktuellsten Ergebnisse dazu liefert eine Forschergruppe um Glenn Schellenberg (2007), in deren Veröffentlichung folgende Erkenntnisse zu finden sind: Der Mozart-Effekt könnte ebenso ein Elvis- oder ein Stephen-King-Effekt[6] sein, da seine positiven Nachwirkungen auf ein durch das Gehörte angeregtes Erregungs- und Stimmungsniveau zurückzuführen ist. Demnach wirkt bekannte und favorisierte Musik beim jeweiligen Hörer anregender als allgemein klassische Musik. Weiterhin wurde bei fünfjährigen asiatischen Kindern festgestellt, dass nicht nur bei der räumlich-visuellen Wahrnehmung, sondern auch im Bereich der Kreativität und der Verarbeitungsgeschwindigkeit kurzfristige Vorteile erzielt werden konnten. (Schellenberg, et al., 2007)

[...]


[1] Zusammenspiel von sensorischen (über die Sinnesorgane) und motorischen Leistungen

[2] „Selbstsynchronisation ist die gleichzeitige und aufeinander abgestimmte Bewegungskoordination von verschiedenen Körperteilen. Interaktive Synchronisation liegt vor, wenn sich die eigenen Bewegungen denen einer oder mehrerer anderer Personen angleichen.“ (Stadler Elmer, 2015)

[3] Die graue Substanz umfasst diejenigen Teile des Zentralnervensystems, die sich überwiegend aus Zellkörpern (Perikarya) von Neuronen zusammensetzen. (Marquardt, 2018)

[4] „Unter der funktionellen Neuroplastizität werden Veränderungen der neurophysiologischen Aktivität in neuronalen Zellgruppierungen als Folge von Erfahrung und Lernen zusammengefasst. Diese Veränderungen können lokal als veränderte Aktivitätsmuster in bestimmten neuronalen Netzwerken auftreten und sind häufig das Ergebnis eines Optimierungsprozesses.“ (Bernatzky & Kreutz, 2015)

[5] Die phonologische Schleife ist ein „äußerst komplexer audio-vokaler Vorgang, der bewirkt, dass das Ohr der Stimme mitteilt, was sie tun muss, um einen „gleichen“ Klang hervorzubringen.“ (Gruhn, 2018)

[6] Auch das Hören einer Kurzgeschichte von Stephen King bewirkte bei Kindern den erklärten Effekt, vorausgesetzt, die Kinder standen der Geschichte positiv gegenüber. (Schellenberg, et al., 2007)

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Details

Titel
Der Einfluss von Musik auf die frühkindliche Entwicklung. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur frühkindlichen Musikerziehung
Autor
Jahr
2018
Seiten
41
Katalognummer
V439041
ISBN (eBook)
9783960953982
ISBN (Buch)
9783960953999
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Musikerziehung, Musik, EMP, frühkindliche Entwicklung, frühkindliche Musikerziehung, elementare Musikerziehung, Musik und Hirnforschung, Einfluss von Musik auf das Gehirn, musikalische Früherziehung, Frühförderung, Förderung durch Musik, Kind und Musik
Arbeit zitieren
Emelie Walther (Autor:in), 2018, Der Einfluss von Musik auf die frühkindliche Entwicklung. Wissenschaftliche Erkenntnisse zur frühkindlichen Musikerziehung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/439041

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