Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Dekonstruktion: Allgemein
2.1 Die Dekonstruktion: Paul de Man
3. Das rhetorische Beispiel
4. Die Beispieltheorie Paul de Mans in Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater
4.1 Die Umsetzung des Beispiels durch Heinrich von Kleist
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Literaturtheorien der Literaturwissenschaft vollziehen mit den Entwicklungen des Strukturalismus über den Poststrukturalismus bis hin zur amerikanischen Dekonstruktion einen immensen Sprung. Während der Strukturalismus die „[…] Verkürzung des literarischen Textes auf seine wissenschaftlich handhabbaren Maße […]“[1] praktiziert, „baut [der Poststrukturalismus] auf den Grundlagen des Strukturalismus auf, […] verändert und kritisiert sie, mehr noch: er greift sie auf und radikalisiert sie […]“[2]. Allein in diesen beiden Literaturtheorien steht die „Abkehr [von] Subjekt und Sinn“[3] einer bewussten Zuwendung dieser Bestandteile gegenüber. Während die eine Seite einen Text wissenschaftlich reduziert, wird der Text auf der anderen Seite dekonstruiert und die Ordnung seiner Konstituenten neu hinterfragt.[4] Anhand dieser entgegengesetzten Auffassungen bezüglich literarischer Texte, sind auch die rhetorischen, ästhetischen und hermeneutischen Bestandteile literarischer Werke erneut, und vor allem in der aus dem Poststrukturalismus sprießenden Ausrichtung der Dekonstruktion, auf dem Prüfstand.[5]
Nicht nur ein Text selbst kann konträr als wissenschaftlich behandelbares System oder ungehorsames, subjektives Werk klassifiziert werden. Auch die figurativen Bestandteile eines Textes fallen unter solch entgegengesetzte Klassifikationen. So ist die literaturtheoretische Diskussion bis auf die kleinste Ebene des Textes bemerkbar.
Das sprachliche Mittel des Beispiels balanciert in seiner Tradition stetig auf der Grenze zwischen der unmittelbaren Gewinnung von Evidenz[6] und der Abwehr der eigenen „Generalisierung und Systematisierung“[7]. Es entsteht ein definitorischer Konflikt zwischen Regelhaftigkeit und „Ungebärdigkeit“[8].[9] Ist ein Beispiel somit eine vollkommene Veranschaulichung einer allgemeinen Regel oder muss dieses Idealbild einer unfolgsamen, sprachlichen Gewalt weichen?[10]
Auf der Basis dieses Konfliktes soll die vorliegende Hausarbeit eine kritische, literaturtheoretische Sicht auf das Beispiel in der Literatur werfen. Ausgangspunkt für jene Betrachtungen soll die Literaturtheorie des Hauptvertreters der amerikanischen Dekonstruktion, Paul de Man, darstellen. Aufgebaut auf einen Einblick in die literaturtheoretische Dekonstruktion sollen die beispieltheoretischen Thesen de Mans, vor allem an seinem Aufsatz Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater, herausgearbeitet werden . De Mans Überlegungen sollen anschließend, auf der Basis der Erzählweise Heinrich von Kleists in dessen Aufsatz Über das Marionettentheater, aufgegriffen und anwendungsbezogen rekonstruiert werden. Damit ist es das Ziel dieser schriftlichen Hausarbeit, einen Einblick in die dekonstruktionistische Arbeit Paul de Mans zu geben, dessen allumfassende Unterwanderung literarischer Prinzipien vor allem keine Verschonung des literarischen Beispiels vorsieht.
2. Die Dekonstruktion: Allgemein
Als Weiterentwicklung des Strukturalismus orientiert sich der Poststrukturalismus nun vorrangig an der Beziehung von Sprache und Differenz.[11] Das Vorhaben des Poststrukturalismus sieht eine „[…] radikale Infragestellung dessen, was bislang als unhinterfragte Voraussetzung gegolten hat […]“[12] vor. Dies umfasst „Sinn bzw. Bedeutung, Subjektivität und Geschichtlichkeit und schließlich Interpretation selbst.“[13] Auch konstitutive Elemente wie Autor und Leser werden in ihrer Konzeption angezweifelt, bis hin zur vollständigen Infragestellung des Textes.[14]
Die philosophischen Arbeiten Jaques Derridas können klar dem Poststrukturalismus zugeschrieben werden. In diesem Zusammenhang tritt der Begriff der Dekonstruktion auf, der Derrida als Begründer zugeordnet wird.[15] Derrida verfolgt das Ziel „[…] das kritische Denken von der Institutionalisierten Philosophie zu lösen und die Herrschaft des Begriffs sowie der systematischen Begrifflichkeit radikal in Frage zu stellen“.[16] Durch das Aufdecken von Ambivalenzen und Widersprüchen möchte Derrida eine Zerlegung der im Strukturalismus konstituierten, theoretischen Systeme vollziehen.[17] Um den dekonstruktivistischen Begriff Derridas im Poststrukturalismus einzuordnen, kann man die Dekonstruktion als an „[…] Texten praktizierte[n] Poststrukturalismus […]“ beschreiben.[18] Das von Derrida angewandte Verfahren der Dekonstruktion tritt in jenem Moment auf, in dem der Poststrukturalismus den Strukturalismus überbietet.[19] Derridas Auffassung der Dekonstruktion umfasst jedoch eher die französische Ausrichtung, die die Dekonstruktion auf der Ebene des Zeichens ansiedelt.[20]
Auf der Basis der Arbeiten Derridas erhält das Verfahren der Dekonstruktion in den 1970er Jahren eine „spezifisch literarische Ausrichtung“[21] durch den amerikanischen Zweig des Dekonstruktivismus. So wie die amerikanischen Dekonstruktivisten die Gedankengänge Derridas adaptieren und weiterentwickeln, bekommt auch der Begriff der Dekonstruktion in diesem Zusammenhang eine Konkretisierung. Die Gruppierung der „Yale Critics“, rund um den belgischen Literaturtheoretiker Paul de Man, definiert die Dekonstruktion als die amerikanische, auf die Grammatik und Rhetorik bezogene Ausprägung der poststrukturalistischen Denkrichtung.[22] Im Gegensatz zum Strukturalismus, der sich ein Textanalysemodell aus festen Begriffen zusammenstellt, ohne diese zu hinterfragen,[23] fragt die Dekonstruktion „nach den Metaphern und Tropen zumeist theoretischer Texte, um deren Folgen und Auswirkungen auf den Gang der Argumentation kenntlich zu machen.“[24] Dekonstruktion stellt den Versuch an, die "Widersprüchlichkeit in theoretischen Darstellungen aufzuhellen"[25] um in diesem Zusammenhang Differenzen in den Denkmodellen ersichtlich zu machen.[26] Auch wenn der Strukturalismus ebenfalls die Gegensätzlichkeit von Begriffen in den Fokus gesetzt hat, ist es keinesfalls die Intention der Dekonstruktion, die Schematisierung dieser Begriffe zu übernehmen.[27] Um dieser Schematisierung zu entgehen, ist es maßgeblich, dass die Dekonstruktion „Modelle [destruiert], um deren argumentativen Aufbau zu rekonstruieren.“[28] Besonders die durch Paul de Man geprägte Dekonstruktion stellt die Paradigmen der Literaturwissenschaft vollkommen in Frage.[29] In diesem Zusammenhang festigt sich, vor allem im dekonstruktivistischen Vokabular der 1970er Jahre, der Begriff der „Unlesbarkeit von Texten“.[30]
2.1 Die Dekonstruktion: Paul de Man
Doch warum setzt Paul de Man die Unlesbarkeit in das Zentrum des Textes?
De Man möchte die im 18. Jahrhundert etablierte Trennung von Rhetorik und Ästhetik rückgängig machen. Die alleinige Zuständigkeit der Rhetorik für die philosophische Ästhetik soll aufgehoben werden, sodass sich die Rhetorik auf den Bereich der literarischen Texte erstecken kann.[31] Paul de Man definiert den Begriff der Rhetorik als die „Entdeutung der einzelnen Bedeutungselemente sprachlicher Äußerungen"[32] und setzt diesen Rhetorikbegriff mit der Literatur gleich.[33] Daraus resultiert, dass de Mans Literaturtheorie „[…] der Literatur eine konstitutive Rhetorik [unterstellt], die die Grammatik und somit die Semantik des Textes dekonstruiert.“[34] Der Begriff der Unlesbarkeit ist somit fest mit dem literarischen Text verwoben, da seine grundlegenden Elemente zugleich diejenigen sind, die die Definition des Textes unterbinden.[35] Im Vergleich zur Begriffsverwendung bei Jaques Derrida ist die Dekonstruktion für Paul de Man „nichts, was man einem Text hinzufügt, sondern etwas, das im Text selbst schon angelegt ist.“[36]
Paul de Man festigt in seiner dekonstruktivistischen Literaturtheorie die These, dass die Literarizität der Literatur in ihrer Rhetorizität bestehe[37] und verankert im selben Moment eine Form des Widerstandes in seiner literaturtheoretischen Arbeit. Durch die Unlesbarkeit des Textes versperrt sich die Literatur einer vollständigen Theoriezugehörigkeit und lehnt sich gegen diese auf. "Im Versuch, Literarizität literaturtheoretisch zu fassen stößt […] [Paul de Man] genau auf die Rhetorizität, aus der dann der Widerstand gegen die Theorie resultiert […]".[38]
"[…] so ergibt sich, dass Lesen ein negativer Prozess ist, in dem das grammatische Erkennen stets durch seine es verdrängende rhetorische Entsprechung aufgehoben wird".[39]
Jedoch beschreibt Paul de Man den Widerstand gegen die Theorie als unüberwindbar, da die Theorie selbst dieser Widerstand sei.[40] Somit ist das Konstrukt einer Theorie nicht vollends aus der de Man’schen Dekonstruktion verdrängt. Viel mehr kreisen die Überlegungen um den „Ausdruck des Unausdrückbaren“.[41]
"Wo sich Literatur einer literaturtheoretischen Definition besonders hartnäckig entzieht, dort muss die Definition von Literatur gesucht werden."[42]
Die Intention einer dekonstruktivistischen Lektüre liegt somit im Verlesen. Dies macht die Unlesbarkeit eines Textes zu einer fundamentalen Eigenschaft.[43] Der „[sprachliche] Sinnkonstitutionsakt“,[44] aus dem sich Literatur nach de Man zusammensetzt, kann „weder eingeholt noch hintergangen werden“.[45] Deshalb ist jede Lektüre aus dekonstruktivistischer Sicht die Demonstration des vermeintlichen Sinns einer Lektüre, als Unlesbarkeit.[46]
Von diesem Standpunkt aus wird der Fokus der Dekonstruktivisten vor allem auf Texte gelegt, die ihre eigene Lesbarkeit thematisieren.[47] Darüber hinaus fokussieren diese Texte meist nicht das Lesen als solches, sondern vermitteln vielmehr den Anschein „als ob sie ihre Lesbarkeit, wenn auch in verschlüsselter Form, behandeln würden.“[48] Diese Texte, die ihre eigene Lektüre und die Bedingungen ihrer eigenen Unlesbarkeit thematisieren, bezeichnet Paul de Man als „Allegorien des Lesens“.[49] In seinem gleichnamigen Werk führt de Man sein Vorhaben fort, den Erkenntnischarakter von Literatur elementar in Frage zu stellen.[50] Die „aporetische Semantik“[51] der Literatur ist gleichzeitig die Begründung ihrer Literarizität.[52] Die Widerstände die sich in der Unlesbarkeit der Literatur zeigen, verortet Paul de Man vor allem in den rhetorischen Figuren der Allegorie und der Ironie. In beiden sei das Verhältnis zwischen Gesagtem und Gemeintem[53] „[…] zugunsten einer differentiellen Beziehung aufgelöst […]“.[54]
Auf dieser Basis führt Paul de Man an dem Aufsatz Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater eine Untersuchung durch, in der er den rhetorischen Tropus des Beispiels, der mit der Klasse der Allegorie in Verwandtschaft steht, hinterfragt. Durch die „kritische Reflexion der Literarizität der Literatur“,[55] die sich in den Figuren der Allegorie und der Ironie vollzieht, soll die Kluft zwischen Singulärem und Exemplarischem offengelegt werden. Mit dieser Untersuchung verwendet Paul de Man die dekonstruktivistischen Prinzipien zugunsten einer "Aufwertung des Besonderen, des Singulären und zu einer radikalen Kritik am Universellen, am allgemeinen Begriff".[56]
3. Das rhetorische Beispiel
Als Vorarbeit für die Beispieltheorie Paul de Mans ist es zielführend, die Betrachtungen zuerst auf allgemeine Aspekte des rhetorischen Beispiels zu lenken, um eine Basis für die spätere Dekonstruktion des selbigen zu schaffen.
Das rhetorische Beispiel steht mit seinen Definitionen ganz in der Tradition seiner Etymologie.[57] Daher ergibt sich die etymologische Auseinandersetzung als grundlegend für spätere Untersuchungen. Im Zusammenhang mit dem Beispiel sind die drei Termini „Beispiel“, „Exemplum“ und „Paradigma“ unvermeidbar. Sie formen die Definitionen des rhetorischen Beispiels und sind richtungsweisend für die Hinterfragung der verbreiteten Meinung, dass „ein wie auch immer gearteter Bezug
eines Einzelfalls auf ein Allgemeines […] konstitutiv für jede Form des Exemplarischen [sei].“[58]
[...]
[1] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 288
[2] Ebd. S. 319
[3] Ebd. S. 288
[4] Vgl. ebd. S. 318
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. Ruchatz, Jens (Hrsg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. S. 8
[7] Ebd. S. 7
[8] Ebd.
[9] Vgl. ebd.
[10] Vgl. Schaub, Mirjam: Das Singuläre und das Exemplarische. Zur Logik und Praxis der Beispiele in Philosophie und Ästhetik. S. 50
[11] Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. S. 90
[12] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 318
[13] Ebd.
[14] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 318
[15] Vgl. Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. S. 1
[16] Ebd.
[17] Vgl. Ebd.
[18] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 320
[19] Vgl. Ebd.
[20] Vgl. Ebd. S 328
[21] Berressem, Hanjo : Paul des Man. Allegories of Reading. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon, Bd. 11. S. 3
[22] Vgl. Ebd.
[23] Simons, Oliver: Literaturtheorien zur Einführung. S. 90
[24] Ebd.
[25] Ebd.
[26] Vgl. ebd.
[27] Vgl. ebd.
[28] Ebd.
[29] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 318
[30] Ebd.
[31] Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. S. 107
[32] Hamacher, Werner: Unlesbarkeit. In: De Man, Paul: Allegorien, des Lesens. S. 16 f
Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 328
[33] Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. S. 107
[34] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 19
[35] Vgl. Ebd.
[36] Berressem, Hanjo : Paul des Man. Allegories of Reading. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon, Bd. 11. S. 3
[37] Vgl. Ebd.
[38] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 19
[39] De Man, Paul: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Volker Bohn (Hrsg.): Romantik. Literatur und Philosophie. S. 102
[40] Vgl. ebd. S. 106
[41] Jahraus, Oliver: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. S. 19
[42] Ebd. S. 20
[43] Vgl. ebd. S. 328
[44] Ebd. S. 19
[45] Ebd.
[46] Vgl. ebd. S. 328
[47] Vgl. ebd. S. 329
[48] Ebd.
[49] Vgl. ebd.
[50] Vgl. Hamacher, Werner: Unlesbarkeit. In: De Man, Paul: Allegorien, des Lesens. S.9
[51] Ebd.
[52] Ebd.
[53] Vgl. Hamacher, Werner: Unlesbarkeit. In: De Man, Paul: Allegorien, des Lesens. S. 10
[54] Ebd.
[55] Ebd.
[56] Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. S. 99
[57] Vgl. Ruchatz, Jens (Hrsg.): Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. S.10 ff
[58] Ebd. S. 10