Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Konzept der Scham
3. Die Handlung in „The Scarlet Letter“
4. Scham und ihre Sichtbarkeit im Roman
4.1. Der scharlachrote Buchstabe als Zeichen der Scham
4.2. Pearl – das Kind der Scham und die Abwesenheit des Schamgefühls
4.3. Minister Dimmesdale und die verborgene Scham
4.4. Scham und Religion
5. Fazit
6. Literaturliste
1. Einleitung
Die Scham als Motiv in der Literatur hat bis jetzt wenig Aufmerksamkeit in der literarischen Forschung erhalten. Dennoch ist sie allgegenwärtig in der Dichtung egal in welcher Form. Scham als Affekt kann schon deshalb nicht von der Literatur ausgespart werden, da sie zutiefst menschlich ist und deshalb sein Handeln und Denken prägt. Im Laufe dieser Arbeit soll zunächst die Scham selbst etwas genauer betrachtet und einzelne Aspekte herausgearbeitet werden, um auf den daraus gewonnenen Erkenntnissen aufbauen zu können.
Eine Erzählung, in welcher die Scham eine zentrale Rolle spielt, ist „The Scarlet Letter“ von Nathaniel Hawthorne. Hier wird Scham nicht nur im privaten Raum im Verborgenen erlebt, sondern tritt an die Öffentlichkeit. Dies ist eine Besonderheit in der Darstellung von Scham in literarischen Werken. Daher soll zunächst eine kurze inhaltliche Betrachtung der Erzählung folgen. Anschließend sollen einzelne Aspekte innerhalb der Erzählung genauer untersucht werden um somit herauszufinden wie die Scham dargestellt wird und welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen. Ziel dieser Arbeit ist es, die Sichtbarkeit der Scham in „The Scarlet Letter“ herauszuarbeiten und die darin liegenden Charakteristika zu betrachten. Scham kann in unterschiedlicher Weise dargestellt werden und so soll auch hier genauer beurteilt werden, wie diese Darstellungen aussehen können.
Des Weiteren spielt außerdem die Religion eine wichtige Rolle in dieser Erzählung. Da diese für das Schamempfinden nicht unerheblich ist, soll zuletzt auch auf diesen Aspekt und den daraus folgenden Zusammenhang zu der Scham, noch einmal genauer eingegangen werden. Ebenfalls auf einige Charaktere und deren Umgang mit dem Gefühl der Scham.
2. Das Konzept der Scham
Die Scham, so scheint es, ist bisher in der literarischen, aber auch in der psychoanalytischen Forschung von wenig Bedeutung gewesen, obwohl sie ein bei Menschen durchaus essenzielles Gefühl ist. „Schamszenen sind alltäglich“[1], schreibt z.B. Micha Hilgers in seinem Buch über die Scham und auch Ulrich Greiner hält folgendes fest: „Wer überhaupt nicht zu schämen vermag, ist kein Mensch im vollen Sinn – erst die Fähigkeit zur Scham macht ihn zum moralischen Subjekt.“[2] Der Scham kann daraus folgend also eine große Bedeutung für die menschliche Psyche und die Entwicklung menschlicher Moralvorstellungen zugesprochen werden. Sie ist dasjenige, was den Menschen zu einem solchen macht. Scham ist ein absolut menschliches Gefühl, sie ist nur diesem allein zu eigen, er unterscheidet sich dadurch von allen anderen Lebewesen.
„Das Gefühl der Scham beendet den paradiesischen Zustand; mit der Scham beginnt das menschliche Leben diesseits vom Garten Eden“[3], schreibt Alexandra Pontzen und verweist damit auf jene Stelle in der Genesis, in welchem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis essen und das Gefühl der Scham erst in der Folge dieses Verzehres empfinden. Zuvor heißt es: „Und die beiden, der Mensch und sein Weib, waren nackt und schämten sich nicht.“[4] Scham kann also mit einem Moment der Erkenntnis in Verbindung gesetzt. Nur wer in der Lage ist, eigenes Fehlverhalten als solches zu erkennen, kann auch Scham empfinden. Dafür bedarf es eines Bewusstseins für sich selbst und daraus wiederum lässt sich schließen, dass die Scham eine rein menschliche Eigenschaft ist. Diese Argumentation von Greiner und von Pontzen zeigt die Bedeutung der Scham in einem allgemeinen Sinne. Dennoch, wie bereits erläutert, fand sie in der Forschung bisher wenig Beachtung: „Auffällig ist die langjährige Nichtbeachtung der Rolle der Affekte ganz allgemein und der Scham im besonderen.“[5] Auch wenn sich diese Aussage eher auf die Psychologie und Psychoanalyse bezieht, so trifft sie dennoch auch auf die Literatur zu, vor allem bezüglich der Scham. Eventuell lässt sich dies darauf zurückführen, dass Scham immer auch mit einem Verbergen einhergeht: „Wenn man sich schämt, möchte man sich verbergen, dem Blick des anderen entziehen, im Erdboden versinken. Im Extrem versinkt die Welt um einen herum. “[6] Tiedemann verweist hier zusätzlich auf den etymologischen Ursprung des Wortes Scham, welches sich aus der germanischen Wurzel skam/skem ableite, was so viel wie „Schamgefühl, Beschämung, Schande“ bedeute und sich wiederum auf das indogermanische kam/kem zurückführen ließe, was mit „zudecken, verschleiern oder verbergen“ übersetzt werden könne.[7] Darauf aufbauend schließt Tiedemann eben die Verborgenheit bzw. das sich Verstecken an, welches mit dem Gefühl der Scham einhergeht. Dies wiederum lässt sich auch mit Pontzens Verweis auf die Stelle in der Genesis vereinen. Denn in dem Moment, in welchem den Menschen klar wird, dass sie nackt sind, verbergen sie sich: „Da gingen den beiden die Augen auf, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren; sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“[8] Sie empfinden Scham aufgrund ihrer Nacktheit und verbergen sich. Es ist der erste Reflex, die erste Handlung, die mit diesem Gefühl einhergeht. Scham und Verbergen scheinen zwangsläufig einander zu bedingen seit dem ersten Moment, in dem es dem Menschen überhaupt erst möglich ist, Scham zu empfinden.
Andererseits verweist Greiner darauf, dass es zu anderen Zeiten gar nicht unüblich war, seine Scham zu zeigen. Ende des 18., am Anfang des 19. Jahrhunderts, war es wohl gesellschaftlich anerkannt, „[d]ass Frauen – und wohlgemerkt auch Männer – Scham- und Schuldgefühle freimütig äußerten, dass sie erröteten oder gar weinten, gehörte zum gewünschten Verhalten“.[9] Hierin lässt sich vor allem auch eine Ambivalenz des Verhaltens bezüglich des eigenen Schamgefühls erkennen und der Umgang mit diesem. Andererseits ist hierbei auch nicht zu auszumachen, ob dieses Zeigen der Scham nur auf gewisse Vergehen zutraf und andere wiederum trotzdem geheim gehalten und verborgen wurden. Die Reaktionen, welche als Ansehnlich betrachtet wurden sind vor allem auch jene, die für Menschen schwer zurückzuhalten sind. „Das Erröten weist darauf hin, wie biologisch fundiert und physiologisch verankert das Schamgefühl ist. […] Es gibt auch Menschen, die Scham ohne Erröten empfinden, es ist deshalb nicht sicher, ob Erröten eine zwangsläufige Begleiterscheinung von Scham ist.“[10] Aus Tidemanns Zitat lässt sich also entnehmen, dass das Erröten nicht etwa nur nicht beeinflussbar ist, sondern darüber hinaus auch nicht zwangsläufig immer mit einer Schamempfindung in Verbindung stehen muss. Daher kann Greiners Kommentar zwar auf eine für einen kurzen Zeitraum übliche ästhetische Empfindung angewendet werden, spart allerdings viele Zeiträume, in denen es sich anders verhielt, aus. In gleicher Weise muss auch bedacht werden, dass Scham und Schamgefühl immer auch mit gewissen gesellschaftlichen Konventionen der jeweiligen Zeiten und Epochen einhergeht. Hierzu schreibt Greiner:
„Empfindungen der Scham sind in hohem Maß abhängig vom kulturellen Raum, von Prägungen der Religion und des Zeitalters, ihr Anlass trennt einzelne Menschen, ganze Epochen und Gesellschaften voneinander. Man kann die Geschichte der Menschheit als die Geschichte unterschiedlich verursachter Scham- und Peinlichkeitsempfindungen verstehen, und nichts macht den Ablauf der Zeit anschaulicher als der Wandel jener Übereinkunft hinsichtlich des Gebotenen oder Erlaubten, welche wir Kultur nennen.“[11]
Die Entwicklung der Scham ist somit abhängig von vielerlei Einflüssen und somit je nach Zeit und Ort unterschiedlich. Was Scham in den Menschen hervorruft scheint somit variabel, nur das sie empfunden werden kann wohl nicht.
Ein verbergen der Scham scheint letztendlich verbreiteter gewesen zu sein und sich durch eine Vielzahl von Epochen und Kulturen zu ziehen. Das könnte auch eine Begründung dafür sein, weshalb sich in der Forschung so wenig damit auseinandergesetzt wurde. Die Verbergung der Scham ist wohl auch eines ihrer elementarsten Merkmale, sie zu entdecken die Schwierigkeit. „Trotzdem sie [die Scham] in ihrer Tendenz zur Selbstverbergung nicht immer leicht zu bezeugen ist, durchzieht sie die Gesellschaft wie ein magnetisches Kraftfeld und zeigt sich darin mit anziehenden und abstoßenden Kräften.“[12] Briegleb verweist hier ebenfalls auf die Schwierigkeit, die im Erkennen der Scham liegt. Gleichzeitig spricht er diesem Affekt eine große Bedeutung zu. Er spricht auch in Bezug auf die Scham von der „am meisten unterschätzte[n] Kraft der Menschheitsgeschichte“[13]. Bezieht man sich auf diese Aussage, stellt sich fast schon die Frage, ob es nun so ist, dass die Scham, wie Greiner sagt, von der Kultur beeinflusst wurde, oder ob andersherum nicht gar die Scham und das Schamgefühl die kulturelle Entwicklung beeinflussten. Seine Aussage begründet Briegleb damit, dass die „Schamangst […] relativ verläßlich zu freiwilligem Gehorsam und Duldsamkeit [führt].“[14] Scham, so lässt sich aus dieser Argumentation schließen, hat also ein von außen verursachtes Moment, scheint aber dennoch aus dem Menschen selbst heraus zu entstehen. Beides scheint sich in gewisser Weise gegenseitig zu bedingen.
In „Scham und Schamlosigkeit“ geht Andrea Köhler einigen Aspekten der Scham auf den Grund. So versucht sie beispielsweise auch, einen Unterschied zwischen Scham und Schuld herauszuarbeiten, denn: „Scham und Schuld sind eng miteinander verschwistert und gehen meist Hand in Hand.“[15] Wobei hier natürlich beachtet werden sollte, dass mit dieser Äußerung auch eine gewisse Problematik einhergeht. Nicht jeder, der Scham empfindet, ist auch tatsächlich schuldig, sondern hat vielmehr das Gefühl der Schuld, welches wiederum das der Scham erzeugen kann. Köhler trifft daher die Unterscheidung: „Schuld entsteht in der Übertretung von Verboten, Scham im Verfehlen verinnerlichter Ideale. Denn Schuld bedeutet immer Verantwortlichkeit; schämen aber können sich nur die Opfer. So betrifft das Schuldgefühl zumeist eine bestimmte Tat, das Schamgefühl jedoch die ganze Person.“[16] Schamgefühl, noch einmal zusammengefasst, kommt also aus der Person selbst, sie projiziert dieses auf die selbst. Folgt man weiter Brieglebs Argumentation, kann dies zu politischen oder auch theologischen Zwecken genutzt werden und so von anderen ausgehend ein Schamgefühl sogar in ethnischen Gruppen erzeugt werden: „So ist die Beschämung seit Jahrhunderten ein geschmeidiges Instrument zum politischen Machterhalt. […] Sozial noch bedeutender, weil nicht in der persönlichen Konfrontation zu lösen, ist die massen- oder gruppenweise Demütigung.“[17] Somit ist Scham also auch ein Mittel, welches der Bloßstellung eines anderen bzw. sogar ganzer Gruppen dienen soll. Greiners verweis auf die Verhaltensweisen des 18. Jahrhunderts lässt sich dementsprechend wohl eher nur auf eine kleinere gesellschaftliche Gruppe zurückführen, in denen das Erröten oder Weinen als ansehnlich betrachtet wurde und die sich diese „Schwäche“ Scham zu zeigen wohl auch eher „leisten“ konnte. In einer allgemeineren Ansicht, ist es aber bezüglich ganzer Volksgruppen ein Instrument der Unterdrückung, für Einzelpersonen gilt das Bedürfnis die Scham zu verbergen.
Ein weiterer Punkt, der bei Betrachtungen der Scham beachtet werden muss: Scham ist variabel. Sie ist beeinflusst, eben durch die oben genannten äußeren Einflüsse. Und diese zeigen sich auch in der Literatur.
„Die Literatur ist ein hervorragendes Archiv, das die Wandlungen der Gefühlskultur sammelt und aufbewahrt. Der Komplex aus Schuld und Scham und Peinlichkeit zählt zu den stärksten Antriebskräften, die Literatur entstehen lassen: als Ausdruck eines unlösbaren Konflikts, als rückwirkende Schambewältigung, als Erklärungsversuch des Unverstandenen, vielleicht gar Unerklärbaren.“[18]
Betrachtet man also Scham in ihrer Entwicklung, so scheint, zumindest laut Greiner, die Literatur viele Anhaltspunkte zu bieten. Demzufolge könnte sich also auch aus literarischen Texten schließen lassen, wie sich die Scham entwickelt hat und welche äußeren Umstände Einfluss darauf nahmen. Ob dem tatsächlich so ist, wird sich im Folgenden noch zeigen.
3. Die Handlung in „The Scarlet Letter“
„The Scarlet Letter“ beginnt einleitend als eine Geschichte, welche von einem Ich-Erzähler, dessen Name unbekannt ist, in dem Custom-House der Stadt Salem gefunden wird. Es wäre naheliegend, diesen Ich-Erzähler, der von sich berichtet, er sei Schriftsteller oder zumindest jemand der sich in der Schriftstellerei versuche[19], aber nun einer Tätigkeit in diesem Custom-House nachgehe, mit Hawthorne selbst gleichzusetzen, da sich hier einige Parallelen finden lassen.[20] Der Grund, weshalb er sich hierfür entschieden hat, ist der, dass er versucht Ablenkung zu finden:
[...]
[1] Micha Hilgers: Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen, 1996, S. 14.
[2] Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Reinbeck bei Hamburg, 2014, S. 19.
[3] Alexandra Pontzen: Nach der Scham: Nur noch Peinlichkeit. Beobachtungen zur literarischen „Psychogeschichte der Republik“. In: Scham. Konkursbuch 43. Hrsg.: Klaus Berndl u.a., Tübingen, 2005, S. 37-55, hier S. 37.
[4] Die Bibel, 1. Mose. 2, 25. In: Züricher Bibel. Zürich, 1996, S. 3.
[5] Micha Hilgers: Scham. Gesichter eines Affekts. Göttingen, 1996, S. 21.
[6] Jens León Tiedemann: Die intersubjektive Natur der Scham. Berlin, 2007, S. 10.
[7] Vgl.: Ebd. S. 10.
[8] Die Bibel, 1. Mose. 3, 7. In: Züricher Bibel. Zürich, 1996, S. 3.
[9] Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Reinbeck bei Hamburg, 2014, S. 187.
[10] Jens León Tiedemann: Die intersubjektive Natur der Scham. Berlin, 2007, S. 13.
[11] Ebd. S. 19.
[12] Till Briegleb: Die diskrete Scham. Frankfurt a.M./ Leipzig, 2009, S. 9.
[13] Ebd. S. 9.
[14] Ebd. S. 10.
[15] Andrea Köhler: Scham und Schamlosigkeit. Eine Spurensuche. Zürich, 2013, S. 39.
[16] Ebd. S. 39.
[17] Till Briegleb: Die diskrete Scham. Frankfurt a.M./ Leipzig, 2009, S. 10.
[18] Ebd. S. 22.
[19] Vgl. Nathaniel Hawthorne: The Scarlet Letter. Wroclaw, 2015, S. 17.
[20] Vgl. Harold Bloom: The Story Behind the Story. In: Bloom’s Guides. Nathaniel Hawthorne’s The Scarlet Letter. Hrsg.: Harold Bloom, Philadelphia, 2004, S. 15-17, hier S. 15.