Literarische Vorbilder. Vom Einfluss Raymond Carvers auf die deutsche Kurzgeschichte


Bachelorarbeit, 2014

48 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definitionen und Merkmale der Kurzgeschichte und Short Story
2.1 Short Story vs. Kurzgeschichte
2.2 Die Short Story der 1970er-Jahre
2.3 Die Kurzgeschichte der 1990er-Jahre

3. Die Autoren und ihre Zeit: Fremd- und Selbstbild
3.1 Selbstauskünfte der Autoren
3.2 Stimmen aus dem Literarischen Quartett
3.3 Echo aus dem Feuilleton

4. Text- und Stilanalyse
4.1 Raymond Carver: Was ist denn?
4.2 Judith Hermann: Sonja
4.3 Peter Stamm: Passion
4.4 Ingo Schulze: Simple Storys
4.5 Ergebnisse

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„[In der] Literaturgeschichte [führen] bekanntlich alle Wege über

Carver, Cheever, Hemingway und Kafka zurück zu Babel und Tschechow.“ 1

In diesem Zitat von Michael Naumann wird eine Einflusskette und Stringenz, ein Determinismus nahezu, innerhalb der Literatur offenbart: dass die Werke dieser Autoren – von unterschiedlicher Nationalitäten und Jahrgänge – zueinander in Beziehung stehen und die Literatur geprägt haben. Bis heute werden solche Bezüge immer wieder hergestellt: Wenn im Feuilleton die Rede vom amerikanischen Autor Raymond Carver (1938–1988) ist, sind die Namen Judith Hermann (*1970) und Ingo Schulze (*1962) meist nicht weit entfernt– sie werden ganz selbstverständlich in seine Erzähltradition gestellt.

„Die beiden größten Erfolge der deutschen Literatur in den neunziger Jahren verdanken sie ihm [Raymond Carver], seinem schnörkellosen, spröden Stil: Ingo Schulzes ‚Simple Storys‘ und Judith Hermanns ‚Sommerhaus, später‘.“2, so Helmut Böttiger, Feuilletonredakteur, Kritiker und Autor. In diesem Artikel behauptet er weiterhin, dass sich beide Autoren ausdrücklich auf Carver beziehen.

Ein Blick auf die Aussagen der Autoren selbst ergibt ein Bild, das deutlich differenzierter ist: Wie kann Carver angeblich einen so großen Einfluss auf Hermanns Debüt ausgeübt haben, wenn sie ihn nach eigenen Angaben erst danach gelesen hat?3 Warum wird der schweizerische Autor Peter Stamm (*1963) nur unzureichend beachtet, wenn es um die Carver-Tradition geht? Sein Kurzgeschichtenband Blitzeis (1999) hat nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine stilistische und inhaltliche Nähe zu Hermanns und Carvers Texten.

Diese Bachelor-Thesis untersucht den Einfluss, den Carver auf die drei erwähnten Autoren hat, und geht der Frage nach, ob dieser Einfluss in den Texten nachgewiesen werden kann, oder ob er ein Konstrukt des Feuilletons ist. Hierfür wird zunächst das Genre der American Short Story mit dem der deutschen Kurzgeschichten gegenübergestellt.

Für diese Grundlagen wird sich hauptsächlich auf Anne-Rose Meyers Einführung Die deutschsprachige Kurzgeschichte (2014) gestützt, da sie die Forschung damit nicht nur auf den neuesten Stand bringt, sondern eine Lücke zwischen 1990er-Jahren und der Gegenwart schließt. Gleichzeitig lehnt sich die Struktur dieser Arbeit an ihrer Vorgehensweise an. Meyer verfolgt einen kombinierten Ansatz aus deduktiver und induktiver Methode4: Sie generiert zunächst ein grundlegendes Gattungsverständnis und überprüft dieses mittels exemplarischen Analysen.

Der darauffolgende Teil konzentriert sich auf die Selbstauskünfte der Autoren, in Form von Paratexten wie Interviews und Vorworten. Demgegenüber stehen die Einordnung und Konstruktion der Medien, insbesondere ausgewählte Rezensionen und Etikettierungen des Feuilletons und der Sendung Das literarische Quartett, in der die Texte der vier Autoren besprochen worden sind.

Daran schließt sich eine vergleichende Text- und Stilanalyse an. Ausgehend von Carvers Short Story Was ist denn?5 wird ein Profil erstellt, das exemplarisch für seine Prosa steht. In gleicher Weise werden Hermanns Sonja6 , Stamms Passion7 und Schulzes Simple Storys8 analysiert und zu Carvers Profil in Beziehung gesetzt.

Im Fazit wird das Verhältnis der Paratexte zu den Primärtexten betrachtet und abschließend diskutiert, ob die Verbindung der Autoren zueinander stilistischer und inhaltlicher Natur ist, oder von den Akteuren des Feuilletons konstruiert wurde.

2. Definitionen und Merkmale der Kurzgeschichte und Short Story

Eine entscheidende Grundlage für die spätere Text- und Stilanalyse (Kapitel 4) sind die gattungstypischen Merkmale der Kurzgeschichte, wie auch der American Short Story. Obwohl beide ursprünglich in einer anderen Tradition stehen, hatte die Short Story insbesondere im 20.Jahrhundert einen großen Einfluss auf die deutsche Kurzgeschichte. Vor diesem Hintergrund werden beiden Gattungen zunächst literaturhistorisch gegenübergestellt, ihre Merkmale charakterisiert und anschließend in der jeweiligen Zeit porträtiert, in der Raymond Carver (1970er-Jahre) sowie Judith Hermann, Ingo Schulze und Peter Stamm (1990er-Jahre) ihre ersten Texten veröffentlichten. Die Skizzen der Literaturlandschaften in Abschnitt 2.2 und 2.3 erfüllen folgende Funktionen: Sie ordnen die Autoren in ihr literarisches Umfeld ein, machen die Reaktionen des Feuilletons aus Kapitel 3 verständlich sowie die Bedeutung der Kurzgeschichte zu der Zeit, in der die größten Erfolge der Autoren lagen. Der deutschsprachige Raum wird dabei ausführlicher betrachtet.

2.1 Short Story vs. Kurzgeschichte

Von der begrifflichen Seite her suggerieren beide Gattungen eine grundsätzliche Ähnlichkeit. Bei der Kurzgeschichte handelt es sich jedoch um eine Lehnübersetzung, die mit dem Begriff der Short Story „nicht deckungsgleich“ ist. 9 In der deutschen Literaturgeschichte ist die Kurzgeschichte in Abgrenzung zu anderen Formen der Kurzprosa zu betrachten wie z. B. der Novelle, aus deren Tradition sie sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren konnte – „die produktive Rezeption der short story setzt daher erst mit großer Verspätung nach 1945 ein“.10

Im Zuge dieser Auseinandersetzung und dieses Austausches zwischen Autoren11 hat sich die Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum vor allem im 19. und 20.Jahrhundert12 unter dem Einfluss „US-amerikanischer Vorbilder wie Poe und Hemingway […] und u. a. den Russen Tschechow“13 entwickelt. „Besonders die unterkühlte Erzählhaltung und das sparsame Szenarium in Hemingways Texten hatten auch für die deutsche Kurzgeschichte einen gewissen Vorbildcharakter.“14

Die Beliebtheit der Kurzgeschichte in Deutschland liegt im „literarischen Neubeginn nach dem Krieg“15 begründet. Die Short Story hat sich dagegen bereits im 19. Jahrhundert in Amerika entwickelt; ihr Aufstieg erklärt sich „infolge des Fehlens einer Romantradition und des großen Bedarfs an Zeitschriften“. 16

Anne-Rose Meyer plädiert dafür, die Begriffe der Short Story und Kurzgeschichte nicht synonym zu verwenden, „da sie in den unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche literarische Phänomene bezeichnen.“17 Diese Unterscheidung dient demnach dazu, die literaturhistorischen Wurzeln des anglo-amerikanischen und deutschen Sprachraums aufzuzeigen. Bezogen auf die Merkmale, die der Short Story und der Kurzgeschichte zu eigen ist, trifft diese Differenzierung so jedoch nicht zu, wie es aus Leonie Marx‘ Aussage hervor geht: „Als Ausdruck für eine eigenständige künstlerische Erzählform, die der modernen Short Story entspricht, findet Kurzgeschichte ab 1958 Eingang in wissenschaftliche Nachschlagewerke.“18

Wenn im Folgenden die Merkmale der Kurzgeschichte dargestellt werden, so treffen diese in gleicher Weise mit denen der Short Story zu. Eine Ausnahme gibt es dennoch in der Unterteilung der Gattungen, es müsse „berücksichtigt werden, dass die ‚long short story‘ die Novelle und den Kurzroman einschließt, während moderne oder ‚short short story‘ und Kurzgeschichte einander entsprechen.“19 Nach Meyer umfasst die Short Story daneben weitere epische Kurzformen, wie Märchen und Erzählungen. Im Deutschen werden die Erzählformen dagegen „deutlich präziser und differenzierter als im englischsprachigen Raum“ betrachtet.20

Kurzgeschichten gehören zu den epischen Kleinformen, auch Kurzprosa genannt,21 „die in narrativer und sprachlicher Hinsicht einer strengen Ökonomie unterworfen sind“22. Im Themenspektrum ist die Kurzgeschichte nicht festgelegt,23 häufig werden der Alltag der Figuren und/oder ein Einzelereignis beschrieben.24 Als wichtigste Merkmale der Kurzgeschichte nennt Meyer die Kürze sowie Anfang und Schluss.

Ihre Länge bzw. Kürze ist dabei ein „qualitatives Merkmal“25. Unter dem Begriff der Kürze lassen sich Formen der Ausgestaltung für die Kurzgeschichte festmachen, die wiederum Konsequenzen auf Figuren, Sprache, Schauplätze, Handlung, Erzählen und Stil haben – Meyer nennt Reduktion, Verdichtung und Begrenzung als Oberbegriffe, die sich wie folgt in einer Kurzgeschichte äußern:26

- Ausschnitthaftes Erzählen und skizzenhafte Darstellung von Figuren, Schauplätzen und Handlung,
- Verwendung von bildhafter Sprache, Metaphern, Leitmotiven und Wiederholungen,
- Rezeptionsästhetischer und suggestiver Anspruch an den Leser durch Auslassungen und Leerstellen,
- Anschaulichkeit, Lebensnähe und Umgangssprache.

War im 19. Jahrhundert ein einleitender Einstieg üblich, so finden sich im 20. Jahrhundert Anfänge, die in media res beginnen und mit Auslassungen arbeiten.27 Meyer unterscheidet dabei betonte Anfänge (ein ungewöhnliches Ereignis oder die Ankündigung dessen) und unbetonte (scheinbar nebensächliche Ereignisse).28

Kennzeichnend für die Kurzgeschichte des 20. Jahrhunderts ist außerdem ein offener Schluss: „Aufgezeigte Probleme werden nicht gelöst, Konflikte nicht bereinigt. Sinnkrisen erscheinen als dauerhafte Zustände.“29

In der Forschung werden drei Typen von Kurzgeschichten in Bezug auf die Gestaltung des Schlusses unterschieden: plot- und slice-of-life-story sowie Epiphanie. Die plot story folgt – anders als das eben genannte offene Ende – einer geschlossenen Form; die Handlung wird zu einem Ende hingeführt und der Plot löst sich auf.30 Weiterentwicklungen dessen sind der so genannte twist, „eine unvorhergesehene Wendung, die alles vorherigen in neuem Licht erscheinen lässt“31 sowie das explosive principle, „demzufolge eine zunächst banal erscheinende Aussage plötzlich – quasi explosionsartig von großer Bedeutung für den Leser werde kann“32.

Im Gegensatz zur plot story steht die slice-of-life-story: Sie ist weniger handlungsorientiert, Situationen und Lebensabschnitte stehen im Vordergrund stehen, und sie weist ein offenes Ende auf. 33 In diesem Stil hat insbesondere Ernest Hemingway(1899–1961) seine Kurzgeschichten geschrieben.34

Als dritten Kurzgeschichten-Typus erwähnt Meyer den der Epiphanie, „eine plötzliche Erkenntnis […], durch die eine Figur am Ende einer Geschichte größere Zusammenhänge überblickt, eine Bedeutung oder einen Sinn erfasst.“35 Die Gestaltung von Anfang und Schluss einer Kurzgeschichte ist laut Meyer deshalb so relevant, da beide immer aufeinander bezogen sind und der Anfang erst nach dem ersten Lesen – und durch „Relektüre“ – vollständig begreiflich wird.36

Bei den vorgestellten Charakteristiken der Kurzgeschichte handelt es sich um eine Auswahl, die im Hinblick auf die Texte des Analyseteils getroffen wurde. Diese werden u. a. im Kapitel 4 aufgegriffen und angewendet, um die Orientierung an Genrekonventionen einerseits und die individuelle Ausgestaltung der Kurzgeschichten andererseits nachzuzeichnen.

2.2 Die Short Story der 1970er-Jahre

Wie im deutschsprachigen Raum, so wurde auch in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg nach neuen Formen des Ausdrucks und nach der Darstellung des Undarstellbaren für die Short Story gesucht. 37 Die Literatur wurde experimentell, stellte bizarrere und surrealistische Welten dar;38 sie wurde zur Metafiktion sowie, in den Worten von John Barths, zur „literature of exhaustion“.39

In der Geschichte der American Short Story werden die 1940er- bis 1970er-Jahren u. a. als eine Zeit zwischen “continuity and change” 40 bezeichnet. In diesem so genannten „age of anxiety“ kehrten einige Autoren zu weniger experimentellen Formen zurück41: „a notable number of writers returned to a more realist and straightforward form of storrytelling“42. Carver war einer von ihnen – damit erklärt sich auch folgende Aussage: „Carver’s own stories have little in common with the work of many accomplished nineteenth- and twentieth-century practitioners of the short story.”43

Die Erzählformen werden traditioneller und als “new realism or dirty realism” bezeichnet.44 Das Neue daran war, dass diese Art des Schreibens in einer produktiven Auseinandersetzung mit der Gegenwartsliteratur entstand: „this realism was not only the unprecedented preference for a ‘minimalist‘ aesthetics, but also a renewed conception of reality that had learned its lessons from postmodernism.“45

2.3 Die Kurzgeschichte der 1990er-Jahre

Verglichen mit der Short Story befindet sich die Forschung zur deutschen Kurzgeschichte auf einem anderen Stand. Obwohl die 1990er-Jahre nahezu zwei Jahrzehnte zurückliegen, enden viele Forschungswerke dort. Einen großen Schwerpunkt nehmen innerhalb der Forschung die Nachkriegsjahre und Zeit der Wende als so genannte ‚Zweite Stunde Null‘ ein. Die deutsche Kurzgeschichte wird auffällig stark unter den Gesichtspunkten historischer Ereignisse beschrieben, die Short Story dagegen deutlicher in Konzepten.

„Und ein paar Jahre lang erlebte die deutsche Gegenwartsliteratur eine hitzige Konjunktur, ungefähr parallel zum Börsenboom gegen Ende der neunziger Jahre. Die Literatur war mittendrin, es zählte der Augenblick, viele Sternschnuppen erloschen am Himmel.“46 Böttiger verweist damit auf äußerst produktive Zeiten in der Literaturbranche, die u. a. durch Ereignisse initiiert oder gefördert wurden wie Das Literarische Quartett (1988-2001) oder dem Literaturwettbewerb open mike (seit 1993).

Speziell die Kurzgeschichte in den 1990er-Jahren beschreibt Manfred Durzak als eine sehr lebendige Gattung und führt dies an ausgewählten Kurzgeschichtenwettbewerben sowie deren Preisträgern aus.47 Marx spricht von „Initiativen zur Förderung der Kurzgeschichte“ in Form von Preisausschreiben und Kolloquien48 – und hebt dabei den MDR Kurzgeschichtenwettbewerb (seit 1996 in jährlicher Ausschreibung) als eine „vorbildliche Förderung“ hervor, insbesondere durch die „Verbindung verschiedener Meiden und der Offenheit gegenüber dem interessierten Publikum“.49 Auf dem Literaturmarkt macht sich dieses Interesse bemerkbar: Es erscheinen zunehmend mehr Kurzgeschichtenbände, Anthologien (mit Beiträgen aus Wettbewerben) und Erzählbände, vor allem von neuen Autorinnen geschrieben.50

Peter Michalzig charakterisiert die Literatur in den 1990er-Jahren damit, dass sie „handwerklicher“ gearbeitet ist, und gleichzeitig „konservativer“ ist, da sie „stärker auf alte Formen bezogen“ ist.51 Diesen Eindruck bestätigt Marx aus den damaligen Einsendungen des MDR-Wettbewerbs: „[Ä]sthetische Neuerungen [standen] nicht im Vordergrund“, vielmehr beschäftigten sich die Texte mit „Enttäuschungen und Probleme[n] aus der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs nach 1990“.52 Weitere Themen der damaligen Kurzgeschichte sind die Aufarbeitung der DDR, Initiation, Migration, Gleichgültigkeit, Unmöglichkeit von Verständigung, Nähe oder Glück.53

Außerdem trage der Deutschunterricht dazu bei, „das Interesse an der Gattung wach zu halten“54 – dies trifft auf alle drei Autoren zu. Sie haben inzwischen den Weg in deutsche Klassenzimmer gefunden, in denen ihre Texte an Gymnasien im Deutschunterricht behandelt werden: Peter Stamms Roman Agnes (1998) ist Pflichtlektüre für Abiturienten in Baden-Württemberg, 55 für Judith Hermann und IngoSchulze finden sich z. B. Unterrichtsmodelle56 und Publikationen von Schulbuch-verlagen als Beleg dafür.

Aus außerliterarischer Sicht sind Gesellschaftliches und Zeitgeschichtliches erwähnenswert, da diese sich wiederum in der Literatur niederschlagen können. In ihrem Beitrag Jung und melancholisch und erfolgreich beschreibt Tanzer eine Generation der 89er; gemeint sind diejenigen, die im Jahr 1989 zwischen 17 und 30 Jahre alt waren:

Jahrgänge, für die Tschernobyl und saurer Regen prägend wurden, die in den reichsten Jahren der Bundesrepublik aufgewachsen sind (und dies gilt auch für Osterreich und die Schweiz, weit gereist [sind und] […] auch auf dem Land zunehmend in großstädtischen Lebensformen leben.57

Aus den ähnlichen Bedingungen des Aufwachsens einer Generation, so leitet Tanzer die These ab, ergeben sich ähnliche Themen, die literarisch verarbeitet werden, und aus den jeweiligen Lebensumständen entstammen.58 Trotz Unterschiede im Ton kann Tanzer deshalb gemeinsame Themen bei Judith Hermann und anderen 89er-Autorinnen ausmachen: Ihnen liege eine „resignative Lebenseinstellung zugrunde. Egoismus, Angst, Sprach- und Beziehungslosigkeit am Ende des 20. Jahrhunderts“ dominieren.59

Davon ausgehend lassen sich neben Hermann auch Ingo Schulze und Peter Stamm aufgrund der Geburtsjahrgänge den 89er zuordnen – und dadurch eine mögliche Erklärung für die gemeinsame, thematische Nähe ihrer Kurzgeschichten zueinander finden. „Somit spiegelt sich in den Themen und Situationen der Kurzgeschichte, vor allem seit 1945, der Alltag in seiner jeweiligen historischen und sozialen Prägung so kontinuierlich wie es wohl selten in einer Kurzprosagattung der Fall ist.“60

3. Die Autoren und ihre Zeit: Fremd- und Selbstbild

Die Art des Einflusses, die Raymond Carver auf die drei deutschsprachigen Autoren Judith Hermann, Ingo Schulze und Peter Stamm hat, wird in diesem Kapitel auf zwei Ebenen untersucht: Wie sich die Autoren selbst zu Carver positionieren und wie es der Feuilleton und Das Literarische Quartett tun. Dabei finden sich Widersprüche in den Interviewaussagen und der medialen Darstellung.

3.1 Selbstauskünfte der Autoren

Stamm und Hermann haben gemeinsam, dass sie Carvers Storys noch nicht kannten, als er mit dem Schreiben begann bzw. sie an Sommerhaus, später arbeitete. Stamm weist den Gedanken des Vorbilds, vielmehr der Nachahmung, von sich:

Tschechow und Carver sind keine Vorbilder, da ich sie erst gelesen habe, als ich schon Bücher publiziert hatte. […] es wäre Unsinn – und könnte nie gelingen –, so schreiben zu wollen, wie jemand anderer. Es gibt viele Autoren, die wichtig waren für mich, von denen ich gelernt habe. Das sind unter anderem Poe, Ibsen, Hemingway […].61

In seiner Aussage bleibt offen, wann und inwiefern sich das Lesen von Carver auf sein Schreiben ausgewirkt hat. Da es sich bei Blitzeis (1999) um seine zweite Publikation handelt, ist nicht ausgeschlossen, dass er vor oder während des Schreibens jener Kurzgeschichten Carver gelesen haben könnte.

Hermann hingegen räumt einen Einfluss ein, allerdings zu einem späteren Zeitpunkt ihres Schreibens: „Es gibt aber natürlich Autoren, die prägen. Für mich war das auf eine gewisse Art Raymond Carver, und ich bin sehr froh, ihn erst nach ‚Sommerhaus, später‘ gelesen zu haben.“62 Auf die Frage, mit welchen verstorbenen Autoren sie sich gerne unterhalten würde, antwortet sie: „[…] auf keinen Fall mit Hemingway. Und komischerweise auch nicht mit Raymond Carver.“63 Obwohl man eine andere Antwort erwartet hätte, zeigt die Reaktion, dass ihr diese Autoren besonders nahestehen. Eine ähnlich distanzierte Reaktion auf Carver als Vorbild beschreibt Hermann im Vorwort On Carver. Ein Versuch, welches sie für die Neuübersetzung von Carvers Kathedrale (2001) im Berlin Verlag geschrieben hat. Mit ihrer Distanz nach außen versucht sie die enge Bindung, die sie zu Carvers Texten hat, zu schützen:

[…] irgendwann fiel die Frage nach den literarischen Vorlieben, den Vorbildern. Ich hatte bisher niemals Carver genannt. Ich hatte alle möglichen anderen Autoren genannt, aber Carver hatte ich ganz bewusst verschwiegen, ich hatte ihn, wie soll ich sagen, niemandem gegönnt?64

Seit der Name Raymond Carver als Antwort in besagtem Interview gefallen ist, benennt Hermann ihn von nun an als ihr literarisches Vorbild.65 Dies hatte zur Folge, dass sie das Vorwort für Kathedrale (2001) schrieb und gemeinsam mit Ingo Schulze an einer ‚Carver-Lesung‘ mitwirkte.66 Die Tatsache, dass sowohl Hermann als auch Schulze jeweils ein Vorwort für die deutsche Neuübersetzung von Carvers Short-Story -Bänden geschrieben haben, scheint die bis heute unlösbare Verbindung zwischen den drei Autoren geschaffen und bestärkt zu haben. Ein weiterer Anknüpfungspunkt zwischen beiden ist, dass Schulze Sommerhaus, später rezensiert67 hat.

[...]


1 Naumann, Michael: Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2001 an Judith Hermann. In: Kleist-Jahrbuch 2002. Hrsg. von Günter Blamberger. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002. S. 11.

2 Böttiger, Helmut: Und immer wird gerade jemand anderes geküsst. Süddeutsche Zeitung vom 13.Dezember 2008, http://www.sueddeutsche.de/kultur/literatur-und-immer-wird-gerade-jemand-anderes-gekuesst-1.797780 (Letzter Zugriff: 15.05.2014).

3 Vgl. Kospach, Julia: Ich bin anders als meine Figuren. Berliner Zeitung vom 31. Januar 2003, http://www.berliner-zeitung.de/archiv/ein-gespraech-mit-der-autorin-judith-hermann-ueber-ihr-zweites-buch--nichts-als-gespenster--ich-bin-anders-als-meine-figuren,10810590,10061240.html (Letzter Zugriff: 13.05.2014).

4 Vgl. Meyer, Anne-Rose: Die deutschsprachige Kurzgeschichte. Eine Einführung. Berlin: Schmidt 2014 (=Grundlagen der Germanistik 54). S. 9.

5 Carver, Raymond: Würdest du bitte endlich still sein, bitte. Berlin: Berlin Verlag 2001[2000].

S. 275-287.

6 Hermann, Judith: Sommerhaus, später. Frankfurt: S. Fischer Verlag 2001 [1998]. S. 55-84.

7 Stamm, Peter: Blitzeis. Frankfurt: S. Fischer Verlag. 2011 [1999]. S. 64-82.

8 Schulze, Ingo: Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. München: dtv1999 [1998].

9 Däschler, Eberhard: Kurzgeschichte. In: Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 1990. S. 257.

10 Ebd.

11 Vgl. Durzak, Manfred: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpretationen. 3. Aufl. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. S. 302.

12 Vgl. Meyer (2014): Die deutschsprachige Kurzgeschichte. S. 50.

13 Ebd. S. 81.

14 Rötzer, Hans Gerd: Geschichte der deutschen Literatur. Epochen, Autoren, Werke. 1. Aufl. Bamberg: Buchner 1993. S. 400.

15 Ebd.

16 Däschler (1990): Short Story. S. 427.

17 Meyer (2014): Die deutschsprachige Kurzgeschichte. S. 17.

18 Marx, Leonie: Die deutsche Kurzgeschichte. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005 (= Sammlung Metzler 216). S. 2.

19 Ebd. S. 85.

20 Meyer (2014): Die deutschsprachige Kurzgeschichte. S. 16.

21 Vgl. ebd. S. 25.

22 Ebd. S. 24.

23 Vgl. ebd. S. 25.

24 Vgl. ebd. S. 18.

25 Ebd. S. 23.

26 Vgl. ebd. S. 18f.

27 Vgl. S. 21.

28 Vgl. ebd. S. 21.

29 Ebd.

30 Vgl. ebd. S. 22.

31 Ebd. S. 22f.

32 Ebd. S. 23.

33 Vgl. ebd.

34 Vgl. ebd.

35 Ebd.

36 Ebd. S. 23.

37 Vgl. Basseler, Michael: A Brief Survey of this History of the American Short Story. In: A History of the American Short Story. Genres – Developments – Model Interpretations. Hrsg. von Michael Basseler und Ansgar Nünning. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2011 (=WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 14). S. 21-40, hier: S. 29.

38 Vgl. ebd. S. 31.

39 Ebd. S. 32.

40 Vgl. Peden, William: The American Short Story. Continuity and Change 1940-1975. Boston: Houghton Mifflin 1975.

41 Basseler, (2011): American Short Story. S 29f.

42 Ebd. S. 32.

43 McSweeney, Kerry: The Realist Short Story of the Powerful Glimpse: Chekhov to Carver. South Carolina: The University of South Carolina Press 2007. S. 1.

44 Basseler, (2011): American Short Story. S. 32.

45 Ebd.

46 Böttiger, Helmut: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien: Zsolnay 2004. S. 9f.

47 Vgl. Durzak (2002): Kurzgeschichte. S. 465-500.

48 Marx (2005): Die deutsche Kurzgeschichte. S. 159.

49 Ebd. S. 163.

50 Vgl. Ebd. S. 164.

51 Michalzig, Peter: Wie komme ich zur Nordsee? Ingo Schulze erzählt einfache Geschichten, die ziemlich vertrackt sind und die alle lieben. In: Aufgerissen. Zur Literatur der 90er. Hrsg von Thomas Kraft. München: Piper 2000. S. 25-38, hier: S. 37.

52 Marx (2005): Die deutsche Kurzgeschichte. S. 163.

53 Vgl. ebd. S. 165-169.

54 Meyer (2014): Die deutschsprachige Kurzgeschichte. S. 47.

55 Vgl. Landesinstitut für Schulentwicklung: Baden-Württemberg Bildungsplan 2004.

Lektüreverzeichnis Deutsch. Gymnasium. http://www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/ Sonstiges/literatur/Lektuereverzeichnis_Deutsch_Gymnasium.pdf (Letzter Zugriff: 29.06.2014).

56 Vgl. dazu: Borrmann, Andreas: Eine Hypertext-Interpretation zu einem vernetzten Roman. In: Praxis Deutsch 158 (1999). S. 59-64 und Burtscher, Sabine: „Glück ist immer der Moment davor“ – Judith Hermann: ‚Sommerhaus später‘: Gegenwartsliteratur der 90er-Jahre im Deutschunterricht. In: Der Deutschunterricht, Heft 5/02 (2002). S. 80-85.

57 Tanzer, Ulrike: Jung und melancholisch und erfolgreich. Zu den Debütarbeiten Bettina Galvagnis, Zoë Jennys und Judith Hermanns und deren Rezeption im deutschsprachigen Feuilleton. In: Akten des X. Internationalen Germanistikkongresses Wien 2000. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Hrsg von Peter Wiesinger. Band 7 Gegenwartsliteratur. Bern: Peter Lang 2002. S. 165-170, hier: S. 165f.

58 Vgl. ebd. S. 166.

59 Ebd.

60 Marx (2005): Die deutsche Kurzgeschichte. S. 171.

61 Kasaty, Olga Olivia: Ein Gespräch mit Peter Stamm. In: Kasaty, Olga Olivia: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur. München: Edition Text + Kritik 2007. S. 395-430, hier: S. 424.

62 Kospach (2003): Ich bin anders als meine Figuren.

63 Kasaty, Olga Olivia: Ein Gespräch mit Judith Hermann. In: Kasaty, Olga Olivia: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche über Liebe, Leben und Literatur. München: Edition Text + Kritik 2007. S. 101-129, hier: S. 128.

64 Hermann, Judith: On Carver. Ein Versuch. In: Carver, Raymond: Kathedrale. Berlin: Berlin Verlag 2001. S. 9-16, hier: S. 13f.

65 Vgl. ebd. S. 14.

66 Vgl. ebd. S. 14f.

67 Vgl. Schulze, Ingo: Wo schöne Menschen lange warten. Die Welt vom 24. Dezember 1998, http://www.welt.de/print-welt/article629913/Wo-schoene-Menschen-lange-warten.html (Letzter Zugriff: 26.05.2014).

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Details

Titel
Literarische Vorbilder. Vom Einfluss Raymond Carvers auf die deutsche Kurzgeschichte
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Germanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
48
Katalognummer
V459644
ISBN (eBook)
9783668882935
ISBN (Buch)
9783668882942
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Raymond Carver, Judith Hermann, Peter Stamm, Ingo Schulze, Kurzgeschichte, Short Story, Fräuleinwunder
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts Ann-Christin Helmke (Autor:in), 2014, Literarische Vorbilder. Vom Einfluss Raymond Carvers auf die deutsche Kurzgeschichte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/459644

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