Die Welt um König Artus und seine Ritter der Tafelrunde erlebte im deutschsprachigen Raum um 1200 in der höfischen Artusdichtung, die durch Chrétien de Troyes in Frankreich begründet wurde, ihren literarischen Höhepunkt. Neben Hartmann von Aue hat auch Wolfram von Eschenbach sich im "Parzival" des Artusstoffes angenommen, wobei er den Artushof jedoch nicht als einziges Gesellschaftsmodell in seine Erzählung integriert hat. Mit der Welt des Grals und seiner Ritter, den Templeisen, kam vielmehr eine neue Sphäre hinzu, die bereits in Grundzügen im "Percevalroman" von Chrétien angelegt worden war. Wolfram gestaltete diese jedoch weiter aus und entwickelte auf diese Weise einen zweiten konkreten Gesellschaftsentwurf neben dem Artushof. Während die Gralsgesellschaft von der Forschung jedoch lange Zeit als Gesellschaftsutopie verklärt wurde, fanden König Artus und sein Hof kaum Beachtung oder es wurde ihnen eine grundsätzlich negative Bewertung zuteil. So wurde die Gralswelt als ein völlig anderes und übergeordnetes Gesellschaftsmodell wahrgenommen, wohingegen die Artuswelt als defizitär und existenzunwürdig abgeurteilt wurde. Doch wollte Wolfram mit der Artusgesellschaft tatsächlich Kritik an einem lange Zeit als Ideal verstandenen weltlichen Rittertum üben?
Die folgende Ausarbeitung wird sich deshalb schwerpunktmäßig mit der Darstellung von König Artus und der arturischen Gesellschaft im literarischen Weltentwurf des "Parzival" befassen. Zunächst soll jedoch ein kurzer Einblick in die Tradition des Artusstoffes gegeben werden, um festzustellen, auf welche Weise sich die Figur des Königs im Laufe der Zeit entwickelt hat.
Der darauf folgende Abschnitt wird sich schließlich der Gestaltung der Artuswelt im "Parzival" widmen. Dabei sollen die Strukturen des Artuskönigtums und der arturischen Herrschaftsausübung aufgezeigt werden sowie die Bedeutung der Tafelrunde für die Gemeinschaft am Artushof. Ein weiteres Unterkapitel wird sich mit der Zeichnung der Figur des König Artus befassen.
Schließlich sollen unter dem Gesichtspunkt der arturischen Lebensführung zwei für die Artusgesellschaft konstitutive Aspekte untersucht werden, nämlich die der Ritterschaft und die des Minnekults, wobei Letzterer auch die Betrachtung der Frau am Artushof mit einschließt. Der letzte Abschnitt wird sich mit der Frage auseinander setzen, ob Wolfram durch seine Gestaltung der Artushofes tatsächlich Kritik an diesem Gesellschaftsmodell ausüben wollte.
-Inhaltsverzeichnis-
1. Einleitung
2. Kurze Einführung in die Tradition des Artusstoffes Die Ursprünge des Artusstoffes und die Entwicklung der Artusfigur von den englischen Chroniken bis zur klassischen Artusdichtung
3. Die Darstellung von König Artus und der Artusgesellschaft im „Parzival“
3.1. Artuskönigtum und Herrschaftsausübung
3.2. Die Zeichnung der Figur von König Artus
3.3. Der Artushof und die Institution der Tafelrunde
4. Konstituenten arturischer Lebenswelt
4.1. Die Ritterschaft
4.2. Der Minnekult und die Stellung der Frau am Artushof
5. Artusgesellschaft im „Parzival“: Kritik Wolframs am klassischen Artusbild?
6. Schluss
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Welt um König Artus und seine Ritter der Tafelrunde erlebte im deutschsprachigen Raum um 1200 in der höfischen Artusdichtung, die durch Chrétien de Troyes in Frankreich begründet wurde, ihren literarischen Höhepunkt. Neben Hartmann von Aue hat auch Wolfram von Eschenbach sich im „Parzival“ des Artusstoffes angenommen, wobei er den Artushof jedoch nicht als einziges Gesellschaftsmodell in seine Erzählung integriert hat. Mit der Welt des Grals und seiner Ritter, den Templeisen, kam vielmehr eine neue Sphäre hinzu, die bereits in Grundzügen im „Percevalroman“ von Chrétien angelegt worden war. Wolfram gestaltete diese jedoch weiter aus und entwickelte auf diese Weise einen zweiten konkreten Gesellschaftsentwurf neben dem Artushof. Während die Gralsgesellschaft von der Forschung jedoch lange Zeit als Gesellschaftsutopie verklärt wurde, fanden König Artus und sein Hof kaum Beachtung oder es wurde ihnen eine grundsätzlich negative Bewertung zuteil. So wurde die Gralswelt als ein völlig anderes und übergeordnetes Gesellschaftsmodell wahrgenommen, wohingegen die Artuswelt als defizitär und existenzunwürdig abgeurteilt wurde. Doch wollte Wolfram mit der Artusgesellschaft tatsächlich Kritik an einem lange Zeit als Ideal verstandenen weltlichen Rittertum üben?
Die folgende Ausarbeitung wird sich deshalb schwerpunktmäßig mit der Darstellung von König Artus und der arturischen Gesellschaft im literarischen Weltentwurf des „Parzival“ befassen. Zunächst soll jedoch ein kurzer Einblick in die Tradition des Artusstoffes gegeben werden, um festzustellen, auf welche Weise sich die Figur des Königs im Laufe der Zeit entwickelt hat.
Der darauf folgende Abschnitt wird sich schließlich der Gestaltung der Artuswelt im „Parzival“ widmen. Dabei sollen die Strukturen des Artuskönigtums und der arturischen Herrschaftsausübung aufgezeigt werden sowie die Bedeutung der Tafelrunde für die Gemeinschaft am Artushof. Ein weiteres Unterkapitel wird sich mit der Zeichnung der Figur des König Artus befassen.
Schließlich sollen unter dem Gesichtspunkt der arturischen Lebensführung zwei für die Artusgesellschaft konstitutive Aspekte untersucht werden, nämlich die der Ritterschaft und die des Minnekults, wobei Letzterer auch die Betrachtung der Frau am Artushof mitein-schließt. Der letzte Abschnitt wird sich mit der Frage auseinander setzen, ob Wolfram durch seine Gestaltung der Artushofes tatsächlich Kritik an diesem Gesellschaftsmodell ausüben wollte.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die mediävistische Forschung zunehmend ihr Interesse an König Artus und der arturischen Gesellschaft entdeckt. Die bisher umfassendste Untersuchung zu diesem Themenkomplex hat Konstantin Pratelidis 1994 vorgelegt, in der er Artus- und Gralsgesellschaft einem detaillierten Vergleich unterzog. Aufgrund seiner hervorragenden fundierten Darstellung wird sich diese Arbeit in vielen Punkten auf das Werk von Pratelidis stützen.
2. Einführung in die Tradition des Artusstoffes
Die Geschichte von König Artus und den Rittern der Tafelrunde kann auf eine lange Tradition zurückblicken, deren genaue Anfänge und Entwicklung allerdings mehr oder weniger im Dunklen liegen, was mitunter auf die schlechte Quellenüberlieferung zurückzuführen ist.
Die Ursprünge des Artusstoffes lassen sich im walisischen und englischen Raum ausmachen. In diesem geographischen Rahmen unterscheidet Gottzmann insgesamt drei Quellengruppen, nämlich die Legende[1], volkstümliche Erzählungen (matière de Bretagne)[2] und insbesondere die englische Historiographie.[3] Vor allem Letztere hat bei der Entstehung der Artuslegende und ihrer Weiterentwicklung eine wesentliche Rolle gespielt. Denn es ist wahrscheinlich, dass einige der zeitgenössischen englischen Chroniken Chrétien de Troyes schließlich die Vorlage lieferten, aufgrund derer er schließlich die höfische Kulisse für seine Dichtungen entwarf.
Eine der frühen Chroniken, die von Arthur berichtet, ist die „Historia Britonum“, die von dem walisischen Geschichtsschreiber Nennius um 829/830 verfasst und im Wesentlichen von einheimischen Sagen beeinflusst worden ist. Arthur ist hier jedoch noch kein König, sondern ein Heeresführer, der im 5. Jahrhundert auf Seiten der (christlichen) britischen Könige in 12 Schlachten erfolgreich gegen die eingefallenen (heidnischen) Sachsen gekämpft hat. Die Geschichte eines keltischen „dux bellorum“, der sich in mehreren Kämpfen erfolgreich profiliert hatte, wurde bereits im 6. Jahrhundert in der Chronik von Gildas „De excidio et conquestu Britaniae“ erzählt, wobei der Autor jedoch Arthur unerwähnt lässt und vielmehr von einem Befehlshaber namens Ambrosius Aurelianus berichtet. Dieser scheint letztlich von Arthur in den späteren Chroniken verdrängt worden zu sein wie z.B. in den walisischen „Annales Cambriae“ aus dem 10. Jahrhundert.[4] Hervorzuheben ist, dass die Gestalt des keltischen Kämpfers zunehmend mit christlichen Symbolen in Zusammenhang gebracht wurde. So trägt Arthur bei Nennius das Bildnis der Jungfrau Maria auf seinen Schultern, während er in den „Annales Cambriae“ drei Tage und Nächte das Kreuz Christi getragen haben soll.[5] Darüber hinaus erscheint Arthur in den Chroniken als Retter eines im Niedergang begriffenen Reiches, „[…] wodurch der reichspolitische Aspekt […] in die Tradition eingeführt [worden] ist.“[6]
Bei diesen Darstellungen sowie der „matière de Bretagne“, die die sagenumwobene Gestalt Arthurs zunehmend populär machten, setzte der englische Geschichtsschreiber Geoffrey of Monmoth an und gab der bis dahin eher nur schemenhaft gezeichneten Figur eine eigene Kontur. Seine um 1138 vollendete „Historia regum Britanniae“ wurde als nationale Geschichtsmythologie im Interesse der normannischen Herrschaftsschicht verfasst. Denn der normannische König Stephan war keineswegs in der britischen Tradition verwurzelt und bedurfte deshalb einer Geschichtskonzeption, die ihn und seine Führungsetage als die tatsächlichen Thronerben der britischen Krone legitimierte. Geoffreys Werk führt die normannische Dynastie auf das Geschlecht der Trojaner zurück und erzählt ihre fast 2000 Jahre alte Geschichte von den mythischen Anfängen bis zu den Eroberungskriegen der Sachsen, wo die Briten unter dem Heerführer Constantin erfolgreich gekämpft und diesen schließlich zum König ernannt hatten. Constantin hat zwei Söhne namens Aurelius Ambrosius und Utherpendragon, der schließlich mit der Frau seines Kriegsgegners, Ygerna, seinen einzigen Sohn Arthur zeugt.[7] Mit 15 Jahren folgt Arthur seinem Vater auf den Thron nach und besiegt in mehreren Schlachten die heidnischen Sachsen. Arthurs Lebensgeschichte als Kämpfer und König endet schließlich ebenso legendär, wie sie begonnen hatte. Denn 542 soll er im Kampf gegen seinen usurpatorischen Neffen Mordred tödlich verwundet und zur Heilung auf die Insel Avalon gebracht worden sein.
Geoffrey gestaltete seinen historisch angelegten Helden Arthur zwar noch als großen Kriegsführer, er fügte dieser Figur allerdings noch Eigenschaften hinzu, die ihn zu einem geeigneten Repräsentanten des neuen höfisch-ideellen Herrschertums machten, das die anglonormannischen Herrscher etabliert hatten. So orientierte sich Geoffrey u.A. an ihrem aufwändigen Hofleben, das gekennzeichnet war durch prachtvolle Hoffeste sowie Ritterspiele und Turniere.[8] In diesem Zusammenhang scheint das große Hoffest von Carlion, das zu Pfingsten zelebriert wurde, das Bild von König Arthur besonders nachhaltig geprägt zu haben.[9] Denn sowohl Chretien als auch seine deutschen Dichterkollegen Hartmann und Wolfram stellen den König traditionell in den Rahmen des berühmten Pfingstfestes. Ein weiteres Element, das stets mit Arthur in Verbindung gebracht wird, ist sicherlich die Tafelrunde, in der alle Ritter des Artushofes unabhängig ihres Ranges nebeneinander Platz nehmen und der König sich als „primus inter pares“ unter seinen adligen Mitstreitern präsentiert.[10] Dieser so eng mit Arthur verbundene Gegenstand findet jedoch bei Geoffrey noch keine Erwähnung. Erst sein literarischer Nachfolger Wace führt in seinen volkssprachigen Überlieferungen „Roman de Brut“ und „Roman de Rou“[11] die Tafelrunde als historisch bezeugte Einrichtung ein.[12] Insgesamt hat Wace Geoffreys „Historia“ aufgrund mündlicher Berichte und Sagen erweitert. Zudem baute er die Schilderungen weiter aus, die Artus, wie er im Französischen genannt wurde, zum höfischen Idealkönig im Rahmen fürstlicher Repräsentation stilisierten. Offensichtlich reagierte Wace durch seinen neuen höfischen Schwerpunkt auf das propagierte kulturelle Leitbild des neuen Herrschers.
Für den Bereich der chronikalischen Tradition ist insgesamt festzuhalten, dass Arthur/ Artus in der britischen Geschichtsschreibung eine wichtige Stellung als Kämpfer, Eroberer und nationale Identifikationsfigur einnahm. Seine „Biographie“ stellte eine Reichsgeschichte der britischen Herrschaft unter den Normannen dar.[13]
Neben dem kriegerischen Aspekt konnte sich im Artusstoff die Stilisierung eines neuen Hoflebens als weiteres Sujet zunehmend etablieren: Artus ist nunmehr strahlender Friedensfürst, großartiger Repräsentant höfischen Lebens und Mittelpunkt einer mustergültigen Gesellschaft. An dieser höfischen Komponente knüpft Chrétien de Troyes letztlich an und baut sie weiter aus, indem er sie „zu einer breiten Skala höfischer Verhaltensweisen, zu einem Kodex gesellschaftlich-sittlicher Normen“[14] ausgestaltet. So überführte der französische Dichter die Figur des König Artus aus ihrem historisch-politisch gedachten Gerüst in eine „übernationale, humanistisch-universalistische Standeskultur“.[15] Sein König ist Herrscher eines geschichtslosen Reiches und regiert, wenn überhaupt, nur indirekt.[16] Seine kriegerische Seite ist vollends in den Hintergrund getreten und wird nur marginal erwähnt. Dagegen werden bei Artus vielmehr jene Charaktereigenschaften und Herrschertugenden hervorgehoben, die überwiegend den gesellschaftlichen Bereich tangieren, der den weiten Komplex höfischer Lebensformen und Gesittung umfasst. So sind die Aktivitäten des Königs geprägt durch beispielhaftes gesellschaftliches Verhalten und prächtige höfische Repräsentation. Das schlägt sich dann auch in der Gestaltung des Artushofes nieder. Dieser ist gekennzeichnet durch seine Prachtentfaltung, seine glanzvollen Festivitäten und vor allem durch institutionalisierte Verhaltensweisen innerhalb des Umgangs zwischen Rittern und Edeldamen, wobei Letztere eine zentrale Rolle spielen aufgrund des am Artushof unabdingbaren Minnedienstes. Im Hinblick auf seine Herrschaftsausübung ist Artus der Tradition der Tafelrunde unterworfen, die eine Gleichberechtigung zwischen ihm und seinen Rittern verlangt. Das bedeutet, dass Artus zwar die Entscheidungen fällt, diese aber im Vorfeld mit seinen Rittern besprochen werden müssen. Die Aufgabe von Artus in seiner Funktion als König ist es schließlich dafür zu sorgen, dass in seinem Reich Gesetze eingehalten werden sowie dass Wahrheit, Glauben und Gerechtigkeit stets Vorschub geleistet wird.[17] Letztlich ist Artus vor allem deshalb zur permanenten Demonstration seines höfischen Wertekanons und seiner Herrschertugenden[18] verpflichtet, da die Aufrechterhaltung dieser konstitutiven Kategorien zu den Aufgaben seines Königtums gehört. Auf Grund derer kann Artus schließlich seine Herrschaft rechtfertigen.
Eine bedeutsame Änderung in der Artusgeschichte gegenüber Geoffrey ist allerdings die Tatsache, dass der König nun nicht mehr allein Handelnder und Repräsentant einer bestimmten Wertewelt ist. Es hat nunmehr eine personelle Trennung stattgefunden, durch die der aktive Teil auf den Protagonisten des Romans übergegangen ist, während Artus fast ausschließlich die Repräsentationsebene vorbehalten blieb.[19] Artus ist deshalb nicht der eigentliche Held der exemplarischen Handlung, sondern ein Ritter seiner Tafelrunde. Dennoch behält der König weiterhin seine Vorbildfunktion und ist somit Garant für das Handlungsgeschehen.[20]
Diese Formelemente der Artusdichtung wurden schließlich auch von den Dichtern des deutschen Sprachraumes übernommen, wobei Mertens konstatiert, dass die Tradition des deutschen Artusromans ihre Wurzeln, ähnlich wie im französischen Sprachraum, im höfischen Antikenroman hat. Die Elemente, die den Artusroman aber zu seiner Gattung machen, wurden der bretonischen Erzähltradition und den Romanen Chrétien de Troyes entnommen. Die Tradition des Artusstoffes war in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Deutschland noch relativ neu und traditionell unbelastet, weshalb er geeignet war für das neue, aktuelle Leitthema dieser Zeit: die höfische Kultur, die sich durch edle Liebe und gerechten Kampf auszeichnete.[21]
In den Chrétienschen Vorgaben von König Artus und seines Hofes fand schließlich Wolfram von Eschenbach das Vorbild für seinen „Parzival“, wobei er keineswegs das Artusbild aus dem „Percevalroman“ uneingeschränkt übernommen hat. Auf welche Weise Wolfram nun König Artus und seine Gesellschaft gezeichnet hat, soll im folgenden Kapitel eingehender betrachtet werden.
3. Die Darstellung von König Artus und seines Königtums im „Parzival“
3.1. Artuskönigtum und Herrschaftsausübung
Zu Beginn des „Parzival“ wird der Leser noch nicht mit dem als idealtypisch verstandenen Rittertum des König Artus konfrontiert. Denn in den ersten beiden Büchern wird zunächst die Geschichte von Parzivals Vater, Gahmuret, thematisiert, in der es noch kein Artuskönigtum gab. Bereits am Ende des ersten Buches gibt Wolfram jedoch den ersten Hinweis auf die Verbindung zur Artusfamilie. Gahmuret legt nämlich in seinem Abschiedsbrief an Belakane seine Verwandtschaftsverhältnisse dar, die aufzeigen, dass er väterlicherseits mit Utepandragun, dem Vater des zukünftigen Königs Artus, verwandt ist. (V. 56,5-14)[22] Artus selbst wird das erste Mal auf dem Turnier von Kanvoleis namentlich erwähnt, auf dem sich Gahmuret und seine Verwandten aus der Mazadan-Sippe einer gegnerischen Partei im Kampf gegenüberstehen. Auch hier ist von Artus noch nicht als König und Stellvertreter eines höfischen Rittertums die Rede, sondern als Sohn des bretonischen Herrschers Utepandragun. Dem Turnier kann er nur deshalb nicht beiwohnen, da er dem Zauberer Clinschor nachstellt, der seine Mutter Arnive entführt hatte. (65,29-66,6)
In diesem Handlungsabschnitt, der noch vor der Geburt Parzivals angesiedelt ist, werden vor allem zwei wichtige Dinge aufgezeigt. Zum einen die Problematik des Verwandtenkampfes und zum anderen die Generationenfolge, die nach Brunner nicht nur auf der biologischen Ebene anzusiedeln sei, sondern vor allem die zivilisatorischen Unterschiede aufzeige, „[…] die in der Perspektive des Romans historische Differenzen, historischen Wandel, ja kulturellen Fortschritt signalisieren.“[23] So können im „Parzival“ vier Formen des Rittertums unterschieden werden: die vor-arturische Ritterwelt, die arturische Ritterwelt, die außerarturische Ritterwelt und die Gralswelt.
Die Welt, die noch vor dem Einzug des Artusrittertums Bestand hatte, ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass ihr ein herausragender Mittelpunkt fehlte, um den sich die Ritter versammeln konnten und der ihnen gewisse Regeln vorgab, an die sie sich hätten halten können und müssen. Denn zur Zeit Gahmurets ziehen die Ritter bereits in den Kampf mit dem Ziel, am Ende für ihre Bemühungen mit dem Minnelohn entschädigt zu werden. Durch das Fehlen einer mehr oder weniger moralisch-ethischen Instanz, enden diese Kämpfe jedoch häufig mit dem Tod des Gegners. Letztlich hat aber auch das Turnier von Kanvoleis gezeigt, wie schnell die Ritter im Kampf ihre Contenance verlieren.[24] (78,5-12)
Diesem „Missstand“ wird jedoch in der epischen Welt des „Parzival“ durch das Entstehen eines neuen höfischen Rittertums entgegengewirkt, das sich in den 15-20 Jahren zwischen dem Turnier von Kanvoleis und dem Auszug Parzivals aus dem Wald von Soltane entwickelt hat und nach dem Sohn Utepandraguns benannt worden ist. In dieser Zeit hat Artus die Nachfolge seines Vaters angetreten und jenes von ihm geschaffene aristokratische Gesellschaftsmodell mit ihm als König an der Spitze etabliert. Das besagte Artusrittertum wird das erste Mal von dem Ritter Karnahakanz benannt, als er auf Parzivals Frage, von wem die Ritterschaft verliehen werde, folgende Antwort gibt:
„daz tuot der künec Artûs.
Junchêrre, komt ir in des hûs,
der bringet iuch an ritters namn,
daz irs iuch nimmer durfet schamn.“ (123,7-10)
König Artus erscheint hier als Verkörperung eines untadeligen Rittertums, dessen moralisch-ethische Vorbildfunktion in besonderer Weise unterstrichen wird.
[...]
[1] Die früheste schriftliche Erwähnung von Arthur, wie der König im englischen Bereich genannt wurde, findet sich in der um 692/697 entstandenen„Vita Columbae“ des irischen Mönchs Adamnans. Die eigentliche Verbreitung des Artusstoffes scheint jedoch erst im 11. Jahrhundert einzusetzen, da schriftlichen Zeugnisse nun zunehmen. Gottzmann, S. 22.
[2] Seit Beginn des 12. Jahrhunderts sind volkstümliche Sagen von Arthur in England bezeugt. Mertens führt diese auf insel- und festlandkeltische Traditionen zurück, die wahrscheinlich im 11. Jahrhundert begann, Arthur zu einer Sagengestalt zu gestalten. Mertens, S. 20 f.
[3] Gottzmann, S. 21.
[4] Mertens, S. 19.
[5] Vgl. Gottzmann, S. 26 f. Mertens sieht darin die Absicht der klerikalen Autoren begründet, auf das Christentum der einheimischen Bevölkerung aufmerksam zu machen. Mertens, S. 20.
[6] Gottzmann, S. 28.
[7] Bereits die Zeugung Arthurs erfolgte vor einem sagenhaften bzw. magischen Hintergrund. Denn die Begegnung Utherpendragons mit Ygerna wurde erst durch den legendären Propheten Merlin möglich, der ihm die Gestalt von Ygernas Gatten gegeben hatte. Dennoch kam Arthur als legitimer Sohn Utherpendragons zur Welt, da Ygernas Ehemann im Kampf fiel und er nun die Frau seines Widersachers ehelichen konnte. Vgl. Ebenda, S. 31 und Mertens, S. 16.
[8] Mertens, S. 15.
[9] Arthur lässt sich bei diesem Anlass mit seiner Frau von den Erzbischöfen zum König krönen. Gottzmann, S. 32.
[10] Ebenda, S. 35 f.
[11] Das Werk wurde im Auftrag von König Heinrich von Anjou um 1155 verfasst.
[12] Mertens, S. 23.
[13] Ebenda, S. 18 f.
[14] Gürttler, S. 10.
[15] Gürttler, S. 8.
[16] Ebenda, S. 9.
[17] Mertens, S. 10.
[18] Diese Herrschertugenden führt Gürttler auf die Rechtsvorstellungen des mittelalterlichen Lehnsystems zurück, das vor allem folgende Eigenschaften von seinem Herrscher verlangte: Rechtgläubigkeit und Kirchentreue, „Milte“, d.h. Sorge für die Wohlfahrt seiner Untertanen sowie Freigiebigkeit seinen Vasallen gegenüber (wurde als Treueverpflichtung in der Beziehung zwischen Feudalherr und Vasall verstanden), Gerechtigkeitssinn und Friedensbewahrung. Vgl. Gürttler, S. 10 f.
[19] Vgl. Schirok, S. 63 und Gernentz, S. 633.
[20] Mertens, S. 14.
[21] Ebenda, S. 11.
[22] Der Text wird im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin/ New York: de Gruyter 1998. Nachweis mit Angabe von Abschnitt und Vers unmittelbar hinter dem Text.
[23] Brunner, S. 62.
[24] Ebenda, S. 64 f.
- Arbeit zitieren
- Nicole Rösingh (Autor:in), 2005, König Artus und die arturische Gesellschaft im Parzival Wolfram von Eschenbachs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/48326
-
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen. -
Laden Sie Ihre eigenen Arbeiten hoch! Geld verdienen und iPhone X gewinnen.