Korrespondenzen zwischen Symbolik und Figurenpsychologie in Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel"


Hausarbeit, 2005

14 Seiten, Note: sehr gut (1,0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Bahnwärter Thiel – Ein (nicht nur) naturalistischer Text

III. Figurenpsychologie der Titelfigur

IV.1: Darstellung der Natur
IV.2.: Darstellung der Technik

V. Korrespondenzen zwischen Symbolik und Figurenpsychologie

VI. Fazit

VII. Literatur

I. Einleitung

Die Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert war prägend für das Leben der Menschen dieser Zeit. Die veränderten Lebensbedingungen wurden von den Künstlern aufgegriffen. Gerhart Hauptmanns novellistische Studie Bahnwärter Thiel thematisiert die Gefahren der industriellen Technologie zur Zeit des Naturalismus.

Das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit nimmt eine epochale Einordnung von Hauptmanns Novelle vor, wobei nachgewiesen wird, dass es sich dabei nicht um einen rein naturalistischen Text handelt. Im Weiteren erfolgt eine Charakterisierung der Titelfigur im Hinblick auf ihre psychologische Entwicklung und eine Analyse der Symbolik in der Darstellung von Natur und Technik in der Novelle. Abschließend wird untersucht, inwiefern die Bilder aus Natur und Technik das Innenleben des Bahnwärters spiegeln.

II. Bahnwärter Thiel – Ein (nicht nur) naturalistischer Text

Die literarische Epoche des Naturalismus (ca. 1880-1900) zeichnete sich aus durch die naturgetreue Abbildung der Wirklichkeit ohne Stilisierung oder metaphysische Erhöhung. Die Naturalisten forderten eine von der Wahrheit durchdrungene Literatur, sie forderten Lebensnähe von der Kunst und komplexe Darstellung des Lebens ohne Idealisierungen. Die Alltagsrealität sollte möglichst objektiv dargestellt werden, ohne Manipulation durch Erzählerfiguren. Die Kunst orientierte sich an wissenschaftlichem Positivismus und einem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild. Das literarische Werk sollte ein naturwissenschaftliches Experiment sein, in dem der Schriftsteller die menschliche Maschine auseinander nimmt. Die Literatur findet ihre wissenschaftliche Legitimation in Evolutionstheorie, Determinismus, Kausalität und Objektivität; evolutionäre Mechanismen werden nachgeahmt. Inhaltlich geht es häufig um Scheiternde, denen die gesellschaftliche Anpassung nicht gelingt. Im Naturalismus werden erstmals die unteren Schichten literaturfähig, der Mensch wird in seiner Abhängigkeit von ökonomischen, sozialen und familiären Bindungen dargestellt. Häufig ist in naturalistischer Literatur die Darstellung sozialer Unterschichten im Sekundenstil.[1]

Gerhart Hauptmanns 1888 erschienene Novelle Bahnwärter Thiel weist wesentliche Elemente des Naturalismus auf. Sie behandelt die Determiniertheit menschlichen Lebens, die Titelfigur ist schicksalhaft in ihrer Passivität gefangen. Das Leben des Bahnwärters nimmt seinen vorherbestimmten Lauf, die drohende Gefahr durch die Züge wird bereits auf der ersten Seite angedeutet. Die Novelle ist eine Milieustudie ohne subjektive Kommentare eines Erzählers, besonders Anfang und Ende sind in sehr sachlichem Stil gehalten. Ansätze der Vererbungslehre zeigen sich in der Figur des kleinen Tobias, der die kränkelnde Gestalt seiner verstorbenen Mutter und die innerlichen Schwächen beider Eltern in sich trägt[2]. Bei E. Hilscher heißt es dazu:

"In der Novelle kann man viele Merkmale des naturalistischen Themenkatalogs wiedererkennen: die schicksalhafte Passivität einer plebejischen Zentralgestalt, Vererbungsprobleme, Triebhaftigkeit, Milieugebundenheit, eine naturwissenschaftlich exakte Krankheitsanalyse und eine sehr detailliert beschreibende Erzählweise, die kaum über den Standort der Beteiligten hinausgeht."[3]

Die Verknüpfung der Beschreibung der Außenwelt mit der psychologischen Innenwelt der Titelfigur war eine Neuerung des Naturalismus, die es so in realistischen Erzählformen zuvor nicht gegeben hat, ebenso neu war das Motiv einer Abhängigkeit durch sexuelle Triebsteuerung.

Des weiteren war die Eisenbahn ein beliebtes Motiv des Naturalismus, der ersten Kunstströmung der industriellen Gesellschaft, wobei besonders Hauptmann erstmals auf die Gefahren der neuartigen Technologie verweist:

"Die inhaltliche Zuwendung der Naturalisten zu den Produkten der technischen Revolution entspringt eher einer negativen Faszination, ist weithin von Skepsis und Furcht bestimmt. Gleich der erste Absatz des Bahnwärter Thiel deutet die Gefährdung des Menschen durch die Technik an."[4]

Dennoch weist der Text darüber hinaus auch viele moderne und realistische Elemente auf: Hier finden sich nur wenige, kaum mundartliche Dialoge, Gespräche werden nur skizzenhaft angerissen. Der Text weist sogar Modernismen wie die erlebte Rede auf. Der Erzähler gibt detaillierte, an Metaphern reiche Naturbeschreibungen und folgt der Tradition realistischer Erzählweise durch Erzählerkommentare und symbolische Szenerien. Hauptmanns Werk steht in einem Spannungsfeld zwischen Poetischem Realismus und Naturalismus,

"[...] zum Beispiel läßt er trotz aller psychologischen Akribie Naturempfindungen und Gedanken in die Erzählung einfließen, die dem sonst so pedantischen Bahnwärter schwerlich zuzutrauen sind. Eine ungewöhnliche Bilderfülle steht im dann zu Gebote. Auch im übrigen weicht die Geschichte von einer naturalistischen Formgebung ab. Sie enthält nur wenige Dialoge und verzichtet [...] auf mundartliche Färbung; sie bietet dramatisch zugespitzte Konflikte, ernste Lebensprobleme eines einfachen, kontaktscheuen Menschen und kein weitschweifiges Zustandsprotokoll.".[5]

Der Text enthält nicht nur die objektiven Beschreibungen des Erzählers, der Erzähler berichtet auch von Träumen und Visionen der Figur und gibt mythisch anmutende Naturbeschreibungen. Die Novellenstruktur des Realismus wird verkehrt, die Handlung steuert auf eine Katastrophe zu.

Abschließend ist also festzuhalten, dass Gerhart Hauptmanns Novelle eine Vermischung von naturalistischen Detailwiedergaben mit Stimmungsbildern und symbolhaften Motiven, eine symbolisch durchwirkte realistische Darstellung ist, und damit kein rein naturalistischer Text. Laut P. Sprengel ist die Novelle "der Tradition des realistischen Erzählens [...] in der wiederholten Einschaltung von Erzählerkommentaren, im Wechsel der Perspektive und im Aufbau symbolischer Szenerien verpflichtet."[6]

III. Figurenpsychologie der Titelfigur

Hauptmanns Novelle beginnt mit der zeitlich gerafft erzählten Biografie des Bahnwärters. Die Exposition erfolgt aus der Perspektive eines sonntäglichen Kirchgängers. Der Erzähler beschreibt Thiel als ordentlichen, pflichtbewussten, frommen Mann von kräftiger Gestalt, der in zehn Jahren nur zwei Mal nicht zum Dienst und in der Kirche erschienen ist, und zwar aufgrund von Verletzungen durch vorbeifahrende Züge (S.3).[7] Thiels Trauer nach dem Tod seiner ersten Frau Minna wird vom Erzähler durch die Beschreibung von Äußerlichkeiten ausgedrückt, die jedoch auf innere Zustände verweisen:

"Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und militärisch gescheitelt wie immer, nur dass er den breiten, behaarten Nacken ein wenig gesenkt trug und noch eifriger der Predigt lauschte oder sang, als er es früher getan hatte." (S.4).

Thiels robustes Äußeres steht im Gegensatz zu seinem Innenleben; er ist ein emotionaler, sensibler Mensch mit "unverwüstliche[m] Phlegma" und einem "kindgute[n], nachgiebige[n] Wesen" (S.6). Während sein Innenleben mit dem seiner verstorbenen Frau korrespondiert, mit der er "durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war" (S.6), entspricht sein Äußeres dem seiner zweiten Frau Lene, "einem dicken und starken Frauenzimmer" (S.4), deren "Gesicht ganz so grob geschnitten war wie das seine, nur dass ihm im Gegensatz zu dem des Wärters die Seele abging" (S.5). Obwohl Lene zwar "eine unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin" ist, zeichnet sich ihr Charakter durch "eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaftlichkeit" (S.5) aus. Zu Lene empfindet der Bahnwärter eher erotische Anziehung als tiefgehende Liebe. Thiel ist verfangen in einer sexuellen Abhängigkeit zu Lene, er "geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig" (S.6f). Auch die Sorge um seinen kleinen Sohn Tobias, dessen Mutter Minna gleich nach der Geburt gestorben ist, lässt Thiel den Entschluss zu der erneuten Heirat fassen (S.4). Lediglich seine phlegmatische Gutmütigkeit lässt ihn die Ehe mit Lene aushalten, sein anfänglicher Widerstand gegen Lenes Herrschsucht verliert sich im zweiten Ehejahr vollends.

Der Bahnwärter hat den Tod seiner geliebten Minna nicht überwunden, die Trauer um seine erste Frau zeigt mystische Züge. Während der einsamen Stunden seines Dienstes in seinem abgeschiedenen Bahnwärterhäuschen bewahrt er das Andenken an die Tote: "So erklärte er sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim für geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet sein sollte" (S.7).

Thiel spaltet sein Leben auf in einen Teil für die tote Frau und einen Teil für die lebende. Häufig empfindet er, wenn er in Gedanken bei Minna ist, Abscheu vor seiner jetzigen Ehe und vor sich selbst (vgl. S.7), schafft es jedoch noch, das Leben mit beiden Frauen durch die räumliche und zeitliche Trennung im Gleichgewicht zu halten. Nachdem Thiel eines Tages zufällig Zeuge der Misshandlungen wird, die der kleine Tobias durch Lene erfährt, beginnt sich etwas in seinem Inneren zu verändern. Er verlässt zunächst kommentarlos den Ort des Geschehens und verrichtet wie immer pflichtbewusst seinen Dienst. Währenddessen wird ihm plötzlich bewusst, dass Lene, wenn sie den neben seinem Dienstort gelegenen Acker bestellen will, in das Reich eindringen wird, das bisher nur ihm und dem Andenken an seine verstorbenen Frau gehört. Über diesen Gedanken grübelnd überkommt ihn mit einem Mal die Erkenntnis, was er seinem Sohn durch seine Passivität angetan hat:

[...]


[1] Vgl. Žmegač, Viktor (Hrsg.): Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1981. S. 220-227.

[2] Vgl. Böckmann, Paul: Der Naturalismus Gerhart Hauptmanns. In: Gerhart Hauptmann. Wege der Forschung. Darmstadt 1976. S. 217 - 249

[3] Hilscher, Eberhard: Gerhard Hauptmann. Berlin 1969. S. 100.

[4] Sprengel, Peter: Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung. München 1984. S. 188.

[5] Hilscher, a.a.O., S. 100

[6] Sprengel, a.a.O., S. 194

[7] Angaben von Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe des Primärtextes der Reclam-Ausgabe Bahnwärter Thiel, Stuttgart 2001. Der Text folgt der Edition:

Hass, Hans-Egon (Hrsg.): Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe. Bd. 6: Erzählungen, Theoretische Prosa. Berlin 1963

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Korrespondenzen zwischen Symbolik und Figurenpsychologie in Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Germanistisches Institut)
Veranstaltung
Literatur der Jahrhundertwende um 1900
Note
sehr gut (1,0)
Autor
Jahr
2005
Seiten
14
Katalognummer
V49081
ISBN (eBook)
9783638456173
ISBN (Buch)
9783638751131
Dateigröße
510 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar der Dozentin: "Eine sehr detaillierte Analyse der Symbolik und der Figurenpsychologie. Sprachlich-stilistisch ist die Arbeit sehr erfreulich. Auch gelingt die Integration der Positionen der Sekundärliteratur in die eigenen Betrachtungen."
Schlagworte
Korrespondenzen, Symbolik, Figurenpsychologie, Gerhart, Hauptmanns, Bahnwärter, Thiel, Literatur, Jahrhundertwende
Arbeit zitieren
Simona Kirpal (Autor:in), 2005, Korrespondenzen zwischen Symbolik und Figurenpsychologie in Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/49081

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