Das Ziel dieser Arbeit ist es, den Wandel der Ästhetik der Berliner Schule zu beschreiben. Dieser Wandel, der sich in Narration und Bildgestaltung abzeichnet, wird im Bezug zum Realitätseindruck dieser Filmsprache behandelt. Dazu wird die folgende Forschungsfrage gestellt: Inwieweit weichen die Filme Toni Erdmann und Phönix von den wesentlichen Merkmalen der Ästhetik der Berliner Schule ab? Darüber hinaus wird eine Einschätzung gegeben, ob man bei diesen beiden Beispielen noch von Filmen der Berliner Schule sprechen kann. Um diese Fragen zu beantworten, wurden wesentliche Merkmale dieser Ästhetik erarbeitet, die die Grundlage für die Analysen bilden. Es konnte festgestellt werden, dass sich die Berliner Schule durch einen lakonisch-alltäglichen-Realismus auszeichnet. Dieses Grundmerkmal erfüllt Toni Erdmann nahezu in allen Stilmitteln und verliert, trotz der Hinwendung zum Genre Komödie, nicht an Authentizität. Phönix entfernt sich weiter von dieser Form des Realismus. Beide Filme tragen diese Ästhetik in sich, sollten aber nicht als Filme der Berliner Schule bezeichnet werden. Der Erfolg des Films Toni Erdmann zeigt, dass eine kluge Mischung aus Berliner Schule und bestimmten Genrekonventionen großes Potenzial besitzt. Das deutsche Kino könnte langfristig davon profitieren.
Inhaltsverzeichnis
Kurzfassung
Abstract
Inhaltsverzeichnis
III Einleitung
1 Die Berliner Schule
1.1 Begrifflichkeit
1.2 Entstehung
1.3 Kritik im In- und Ausland
2 Merkmale der Berliner Schule
2.1 Filmischer Realismus
2.1.1 Lakonischer Realismus
2.1.2 Realistische Mise en phase
2.2 Grundlegende Elemente des Realismus der Berliner Schule
2.2.1 Die Abkehr von festen Plotstrukturen
2.2.2 Die Fokussierung auf das Alltägliche
2.3 Merkmale der Narration und Inszenierung
2.3.1 Hauptfiguren
2.3.2 Die Inszenierung der Kommunikation
2.3.3 Themen
2.3.4 Auslassungen und Leerstellen
2.3.5 Orte der Handlung
2.4 Merkmale der Bildgestaltung
2.4.1 Die Kameraarbeit
2.4.2 Farbe und Licht
2.4.3 Montage
3 Filmanalyse Phönix und Toni Erdmann
3.1 Die Regisseure und Inhalt der Filme
3.2 Abgleich in Narration und Bildgestaltung
3.2.1 PHÖNIX
3.2.2 TONI ERDMANN
4 Fazit.. 58
4.1 Wandel der Ästhetik der Berliner Schule
4.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Filmverzeichnis
Kurzfassung
Das Ziel dieser Arbeit ist es, den Wandel der Ästhetik der Berliner Schule zu beschrei - ben. Dieser Wandel, der sich in Narration und Bildgestaltung abzeichnet, wird im Be - zug zum Realitätseindruck dieser Filmsprache behandelt. Dazu wird die folgende For- schungsfrage gestellt: Inwieweit weichen die Filme TONI ERDMANN und PHÖNIX von den wesentlichen Merkmalen der Ästhetik der Berliner Schule ab? Darüber hinaus wird eine Einschätzung gegeben, ob man bei diesen beiden Beispielen noch von Filmen der Berliner Schule sprechen kann. Um diese Fragen zu beantworten, wurden wesentliche Merkmale dieser Ästhetik erarbeitet, die die Grundlage für die Analysen bilden. Es konnte festgestellt werden, dass sich die Berliner Schule durch einen lakonisch-alltägli- chen-Realisums auszeichnet. Dieses Grundmerkmal erfüllt TONI ERDMANN nahezu in allen Stilmitteln und verliert, trotz der Hinwendung zum Genre Komödie, nicht an Au- thentizität. PHÖNIX entfernt sich weiter von dieser Form des Realismus. Beide Filme tragen diese Ästhetik in sich, sollten aber nicht als Filme der Berliner Schule bezeich- net werden. Der Erfolg des Films TONI ERDMANN zeigt, dass eine kluge Mischung aus Berliner Schule und bestimmten Genrekonventionen großes Potenzial besitzt. Das deutsche Kino könnte langfristig davon profitieren.
Abstract
The aim of this work is to describe the change in the aesthetics of the Berliner Schule. This change, which is apparent in narration and image design, is treated in relation to the reality impression of this film language. The following research question is posed: To what extent do the films TONI ERDMANN and PHÖNIX deviate from the essential featu- res of the aesthetics of the Berliner Schule? In addition, an assessment is given as to whether one can still speak of films from the Berliner Schule in these two examples. In order to answer these questions, essential characteristics of this aesthetic were develo- ped, wich form the basis for the analysis. It was found that the Berliner Schule is cha- racterized by a laconic, everyday realism. TONI ERDMANN fulfills this basic characteri- stics in almost all stylistic means and, despite turning to the genre of comedy, does not lose its authenticity. PHOENIX is moving further away from this form of realism. Both films have this aesthetic in them, but should not be named as films of the Berliner Schule. The success of TONI ERDMANN shows that a clever mixture of aspects of the Berliner Schule and certain genre conventions has great potential. German cinema could benefit from this.
Einleitung
International hoch anerkannt, vom deutschen Publikum lange Zeit verschmäht, zeigen die neueren Filme der Berliner Schule, dass realitätsnahes Kino auch in Deutschland den Sprung in die Prime Time schaffen kann. Radikale, neuartige Erzählweisen brin- gen frischen Wind in die Kinolandschaft und beeinflussen Filmemacher weltweit. Das zeigt sich insbesondere am Einfluss des Regisseurs Christian Petzold, sowie am Welt- erfolg der Regisseurin Maren Ade, die mit TONI ERDMANN für die Oscars nominiert war.
Die Filme der Berliner Schule fallen auf, sind außergewöhnlich in ihrer Gestalt. Sie bre- chen mit gängigen Konventionen und entwickeln dagegen eigene, stilprägende filmäs- thetische Mittel. Sie verschaffen dem alltäglichen Leben Platz auf der Leinwand. Ge- ben Raum für individuelle Schicksale. Die Filmemacher gehen in Konfrontation mit der gegenwärtigen Realität. Sie begeben sich auf die Suche nach Liebe, Zuneigung und Identität. Dabei behandeln sie das Scheitern der modernen Gesellschaft in genau die - sen Punkten. Die Filme finden zu keinem Happy End, schmeicheln dem Zuschauer nicht. Den Regisseuren ist mehr an der authentischen Auseinandersetzung mit ihrer ei- genen Wirklichkeit gelegen, als daran ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Im Gegensatz zur Unterhaltungsindustrie bauen die Filmemacher der Berliner Schule kei- ne Traumwelten auf, in die man flüchten kann. Sie fordern die Auseinandersetzung und bieten im Gegenzug eine Ästhetik, die die Sinne schärft.
Ein Zugang zu den Figuren muss vom Zuschauer erarbeitet werden. Als stilprägend kann auch der Verzicht auf gängige Erzählmuster oder Plotstrukturen gesehen werden. Die Genauigkeit in der Darstellung der Gefühlswelt in Relation zu den wenigen grund- legenden Gestaltungsmitteln, die dabei verwendet werden, verleiht der Ästhetik der Berliner Schule eine besondere Kraft. Die Regisseure Christian Petzold, Angela Schna- nelec und Thomas Arslan verfolgen ihre Ziele seit den Anfängen konsequent. Andere Regisseure und Filmschaffende ließen sich beeinflussen und traten in Kontakt mit den unfreiwilligen Initiatoren dieser Ästhetik, die alle auf ihre eigene Handschrift verweisen und als unabhängige Autorenfilmer in Zeiten schwieriger Finanzierungsverhältnisse be- schrieben werden können. Dennoch und gerade aufgrund des regen Austausches und dem gemeinsamen Ziel, dem Alltäglichen und dem Gegenwärtigen Raum zu verschaf- fen, entwickelte sich eine verbindende Ästhetik.
Ein Wandel findet statt, der die Berliner Schule im Ganzen betrifft. In dieser Arbeit wer- de ich versuchen, diesen Wandel anhand von zwei Filmen aufzuzeigen. In den nunmehr über 20 Jahren vom ersten Film bis zu TONI ERDMANN 2016, kann man vorsichtig von einer Öffnung sprechen, die natürlich nicht jeden Regisseur in gleicher Weise be- trifft. Von anfänglich sehr strengen und intellektuellen Filmen zu einer Art, die sich auch dem breiten Publikum annähert. Gerade die tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Genre fällt hierbei besonders auf. Dies kann gut an den gewählten Filmbeispielen gezeigt werden. Petzolds PHÖNIX spielt mit den Konventionen des Film Noir. Ades TONI ERDMANN mit denen der Komödie. Auch in anderen Filmen der Berliner Schule ist seit 2010 eine Auseinandersetzung mit Genres, wie dem Thriller oder dem Western, zu beobachten.
Zu Beginn dieser Bachelorarbeit werde ich die Entstehung der Bezeichnung Berliner Schule erklären, sowie die Absichten der Filmemacher erläutern. Zentraler Bestandteil dieser Arbeit ist die Auseinandersetzung mit wichtigen Filmen der ersten und zweiten Generation. Bei der Wahl der Filme, die in die Erarbeitung der Merkmale einfließen, ziehe ich vor allem diejenigen in Betracht, die besonders wenig genretypische Merkma- le besitzen und sich dadurch stark von konventionellen Erzählweisen abgrenzen. Da- durch hoffe ich, die Einzigartigkeit der Berliner Schule und die Absicht realitätsnah zu erzählen, besonders gut herausarbeiten zu können. Sind einmal Hauptkomponenten identifiziert, werde ich versuchen Einzelkomponenten in der narrativen, sowie gestalte- rischen Machart zu bestimmen, die stilprägend sind. Diese sollen im weiteren Verlauf die Grundlage für die Analyse der beiden Filmbeispiele bilden.
Ich habe die Filme TONI ERDMANN und PHÖNIX ausgewählt, weil sie zu den jüngsten Fil- men der Regisseure Christian Petzold und Maren Ade gehören und international sowie national erfolgreich sind. Ade und Petzold werden seid langem dieser Ästhetik zuge- ordnet. Dabei habe ich darauf geachtet, dass sowohl ein Vertreter der ersten Generati- on (Petzold) als auch eine Vertreterin der zweiten, jüngeren Generation (Ade) in die Analyse den Wandel betreffend mit einfließen.
Ich möchte durch die Begutachtung der beiden Filmbeispiele, TONI ERDMANN und PHÖNIX, herausfinden, inwieweit sie mit gleichen oder ähnlichen Mitteln wie die Mehr- heit der Filme der Berliner Schule, in narrativer sowie gestalterischer Hinsicht, arbeiten. Dabei wird besonders interessant sein, wo vermutlich aufgrund ihrer relativen Nähe zu Genres der Komödie und des Film Noir, Abweichungen zu finden sind. In diesem Zuge werde ich auch auf die Frage eingehen, ob die beiden Filmbeispiele noch ohne weite- res zur Ästhetik der Berliner Schule gezählt werden können. Darüber hinaus möchte ich abschließend den Wandel der Filme hin zu einem breiteren Publikum erklären. Zu guter Letzt gebe ich einen kurzen Ausblick, wie es mit der Entwicklung dieser Ästhetik weitergehen könnte.
1 Die Berliner Schule
1.1 Begrifflichkeit
In dieser Bachelorarbeit beziehe ich mich mit der Begrifflichkeit Berliner Schule oder Neue Berliner Schule auf die seit Mitte der 1990er Jahre bestehende Stilrichtung im deutschen Kino, die maßgeblich geprägt wurde von Filmemachern wie Christian Pet- zold, Angela Schanelec und Thomas Arslan. Bereits in den 1970er Jahren wurde bei- läufig von der Berliner Schule im Film gesprochen.1 Damals in Bezug auf den Arbeiter- film dieser Jahre.
Die Berliner Schule zeichnet sich durch bestimmte ästhetische, inhaltliche und themati- sche Merkmale aus. Darunter versteht man Filme die nur mit begrenzten Mitteln der Bildgestaltung arbeiten, sich dabei aber keinen Manifesten unterwerfen wie es die Dogma 95 Bewegung zur gleichen Zeit tat. Auch gibt es kein politisches Programm, das von den Regisseuren vertreten wird.
Es sind Filme, die sehr genau erarbeitet sind und eine zurückgenommene, unaufdring- liche Erzählhaltung einnehmen, geradezu distanziert wirken. Sie zeigen den Willen der Regisseure den Alltag zu erzählen. Das tun sie aus ihrer ganz persönlichen Weltsicht heraus. Daher sind die Filme durchaus unterschiedlich in ihrer Form. Diese Auseinan- dersetzung mit der gegenwärtigen Realität zeigt sich in vielen Aspekten dieser Ästhetik und steht in der Tradition des europäischen Autorenkinos.
Der Begriff wurde von den Filmkritikern Rainer Gansera und Merten Worthmann ge- prägt, die in ihren Filmkritiken auf Ähnlichkeiten in den Filmen von Schanelec, Arslan und Petzold sprachen. Die ersten Filme, die in die Kritiken von Worthmann und Ganse- ra einflossen und so zum Namen Berliner Schule beitrugen sind: Thomas Arslan DER SCHÖNE TAG (Gansera) und Schanelec MEIN LANGSAMES LEBEN (Worthmann).
Die Urheberschaft dieses Begriffs muss Merten Worthmann zugeschrieben werden. Er benutzte den Begriff erstmals in einem Beitrag in Die Zeit vom 27. September 2001.2 Auf diese Tatsache legt auch Rüdiger Suchsland großen Wert,3 wo doch die Mehrheit von Autoren zu dieser Thematik fälschlicherweise Rainer Gansera als den Urheber be- titeln. Dieser hat nachweislich erstmals im Artikel Glücks-Pickpocket 4, der am 03. No- vember 2001 in der Süddeutschen Zeitung zu lesen war, von der Berliner Schule ge- sprochen. Vermutlich wird Gansera überwiegend als Urheber betitelt, weil er sich, im Gegensatz zu Worthmann, immer noch stark mit der Thematik auseinandersetzt.
1.2 Entstehung
Der Begriff stammt demnach nicht von den Filmemachern selbst, die nicht darauf aus waren sich ein Label zu geben.5 Ganz im Gegenteil legen die Regisseure, die zur Berli- ner Schule gezählt werden, besonderen Wert darauf, dass ihre Filme einen individuel- len Charakter besitzen, gerade in der Ausformung der filmischen Realität eine eigene Handschrift entwickeln.6
Nichtsdestotrotz gibt oder gab es starke Verbindungen. Sowohl unter den Regisseuren der ersten Generation: Schanelec, Arslan und Petzold, die als Gründungsfiguren dieser Ästhetik gelten, als auch unter der zweiten Generation, die vor allem durch Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg vertreten wird, zu der aber auch Maren Ade, Ulrich Köhler und Valeska Griesebach zählen, um nur einige zu nennen.7 Teil dieses Kreises sind aber auch Kameramänner, Cutter und Produzenten.
Zusammen mit Sebastian Kutzli haben Hochhäusler und Heisenberg 1998 die Zeit- schirft Revolver – Kino muss gefährlich sein gegründet.8 Diese gilt als Sprachrohr der Filmschaffenden um die Berliner Schule und funktioniert nach dem Prinzip Regisseure interviewen Regisseure.
Am besten beschreibt man diesen losen Verbund von Filmemachern als „Netzwerk von Gleichgesinnten“9. Gerade dieser dynamische Gruppencharakter ohne Zwang und starke Bindung, ist ein wesentliches Charakteristikum, auf das die Ähnlichkeiten der Filme zueinander und die stetige Weiterentwicklung des Stils eines jeden Regisseurs zu beruhen scheint. Auf dieses Merkmal können sich auch viele der Regisseure eini- gen, wenn es um die Betrachtung des Labels der Berliner Schule von innen heraus geht, das immer auch kritisch gesehen wird. Wie Petzold in einem Interview mit Spie- gel Online aus Anlass einer Retrospektive im Museum of Modern Arts 2013 bekräftigte, habe sich diese Gruppenaktivität, das gemeinsame Filme schauen und darüber reden, für sein Verständnis von Film als sehr wertvoll erwiesen.10
Die Gemeinsamkeiten in den Filmen der ersten Generation (Schanelec, Arslan und Petzold), beruhen also auf dem Austausch miteinander, was scheinbar unweigerlich mit dem zeitgleichen Studium an der deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zusam- menhängen mag. Im Kontext ihres Studiums der Regie und der aktuellen Umbrüche durch den Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989, standen die Drei im regen Austausch miteinander. Die Bezeichnung Berliner Schule kann aber auch auf die Bedeutung des Ortes Berlin im Kontext der Wiedervereinigung zurückgeführt werden. Das ehemals ge- teilte Berlin war nach dem Fall der Mauer besonders stark von Umstrukturierungspro- zessen betroffen. Nicht nur politisch, sondern besonders kulturell und auf der persönli- chen Ebene. Viele Berliner, besonders die ehemaligen Bürger der DDR, waren auf der Suche nach einer neuen Identität in einem neuen System. Viele mussten sich anpas- sen, um nicht vom Wandel verschluckt zu werden. Diese Orientierungsphase führte zu einer Haltlosigkeit in Teilen der Bevölkerung. Diese kulturelle und strukturelle Wende blieb auch von den Regisseuren der Berliner Schule nicht unbemerkt und zeigt sich in den ersten Filmen deutlich. Die Frage nach der eigenen Identität in einem vereinigten Deutschland beschäftigte sie ebenso, wie das Herausfallen aus einem System und die Suche nach Anschluss.11
Zu dieser Zeit waren Beziehungskomödien sehr erfolgreich. Diesen Illusionismus lehn- ten die drei Gründungsfiguren ab. Man wollte keinen Mainstream; dem gleichen folgen, was in den USA erfolgreich war und hier nur nachgemacht wurde. Ihre Filme sollten persönlich sein und der Autor in den Filmen erkennbar werden. Weg von reiner Unter- haltung im Sinne des Eskapismus als Flucht vor der Wirklichkeit, setzten die Filmema - cher den Fokus auf das alltägliche Leben in einem Deutschland zur Zeit der Wende. Petzold antwortet in einem Spiegel-Interview rückblickend auf die Frage was die Filme von Angela Schanelec, Thomas Arslan und ihm gemein hätten:
„ Als wir anfingen, hatten wir alle das Gefühl, es gibt sehr viel über Deutschland zu er zählen, aber es werden immer nur Geschichten importiert. Wenn's in den USA einen Blockbuster gibt, macht ProSieben daraus eine Billigversion und verkauft sie als TV-Event. Wir dagegen wollten einfach mal rausgehen, um zu sehen: Wie leben wir eigent lich?12
In diesem Zitat wird die Absicht der ersten Generation deutlich, wovon sich die zweite Generation inspirieren ließ, der Wirklichkeit in der aktuellen Gegenwart den Platz in den Filmen zu geben, der ihr lange Zeit verwehrt wurde. Christoph Hochhäusler äußert sich im ersten Magazin der Revolver Reihe programmatisch und beschreibt eine Art Gegen-Kino, die die Berliner Schule für ihn sein kann:
„Leblose Figuren nach populistischem Kalkül hinterlassen keine Spuren. Gute Unter haltung aber ist die Unterhaltung, die berührt. Durch Genauigkeit. Jenseits aller Fragen der Form muss es ein Bewusstsein für den Menschen geben. Nicht Berechnung darf den Plot bestimmen, sondern glaubwürdige, wiedererkennbare Charaktere und die Leidenschaft, von ihnen zu erzählen.“13
Die Genauigkeit, die Hochhäusler hier fordert, beschreibt eine analytische Betrach- tungsweise. Sowohl in der Erarbeitung der Filme als auch in der filmischen Perspektive zeigt sich diese beobachtende Haltung in den Filmen der Berliner Schule. In der Aus- einandersetzung in der deutschen Gegenwart schreckt man nicht davor zurück, sie, in ihrer ganzen Tristesse, Orientierungslosigkeit und Alltäglichkeit, zu zeigen. Man hat ne- ben den Städten auch das Land besucht, dem in damaligen Filmen laut Petzold nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und dem in deutschen Filmen der 80er und frühen 90er Jahre nur über platte Stereotype Ausdruck verliehen wurde.14
Die Filmemacher beschäftigten sich mit der deutschen Filmgeschichte. Den Filmen des Weimarer Kinos und den Filmen der Neuen Deutschen Welle der 70er Jahre wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt. Darunter erwähnt Petzold explizit Fassinders HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN oder Wenders ALICE IN DEN STÄDTEN.15 International war man dem Film der Nouvelle Vague und auch des italienischen Neorealismus zugewandt, die zum europäischen Autorenkino zählen. Peter Nau sieht Ähnlichkeiten im Film DEALER von Arslan mit Bressons PICKPOCKET (1959).16 Auch nimmt Arslans Film DER SCHÖNE TAG direkten Bezug auf Eric Rohmers Film CONTE D'ÉTÉ (1996).17 Rainer Gansera äußert sich über Arlsan im Bezug auf seinen Film DER SCHÖNE TAG in vergleichender Weise mit Bresson oder Rohmer.18 Schanelecs Filme werden von einigen Kritikern gerne unter den Einfluss Rohmers, Godards oder Bressons gestellt. Sie selbst verweist aber auf die Literatur als ihre erste Inspirationsquelle, wie Thomas Schick anführt.19
Die Filme der Berliner Schule sind nicht vordergründig politisch oder gesellschaftskri- tisch, so wie es die Filme des Neuen Deutschen Films waren. Obwohl die Geschichten immer auf der zwischenmenschlichen Ebene ausgetragen werden, kann man aber dennoch gesellschaftliche Fragestellungen oder Missstände von ihnen ablesen.20 Dar- über erhalten die Filme immer auch eine politische Komponente. Die Filme transportie- ren aber in erster Linie ein Gefühl der Zeit, sowohl der Zeit als solche, als auch im Be- zug zur Beschreibung eines Gesellschaftsgefühls, das dem Zeitpunkt ihres Entstehens zugeordnet werden kann. Daher können manche Filme rückblickend als Art Zeitzeug- nisse gesehen werden. Sie sind teilweise dokumentarisch veranlagt. Wie Anke Leweke beschreibt, ist Thomas Arslans GESCHWISTER, der dem deutsch-türkischen Familienle- ben gewidmet ist und in Berlin Kreuzberg spielt, ein Beispiel dafür.21 Es zeigt umher- streifende Jugendliche in einem zentralen Stadtteil, der damals noch nicht von Gentrifi- zierung betroffen war.
Die Absicht der Drei war es also, der deutschen Kinowelt ihre eigene Idee von guter Unterhaltung nahezubringen. Dabei halten sie die Entwicklung eines eigenen Stils, ei- ner eigenen Perspektive auf die Gegenwart für unabdingbar. Dies führte letztendlich zu einem sowohl persönlichen Stil als auch zu dem, was wir heute, wenn auch oft nur un- ter Vorbehalt, als die Berliner Schule bezeichnen. Ein stilles aber mutiges Kino, das entgegen den Zuschauererwartungen und ohne Kompromisse seine sehr persönlichen Wünsche verfolgt. Dass es manche dieser Regisseure mit der Ästhetik, die aus diesen Anfängen hervorging, sogar in die Hauptsendezeit (20.00 bis 23.00 Uhr) des öffentlich- rechtlichen Fernsehens schaffen, steht am Ende einer jahrzehntelangen Entwicklung. Beispiele sind u.a. SCHLAFKRANKHEIT (Köhler, 2011)22, ALLE ANDEREN (Ade, 2009)23 oder DER RÄUBER (Heisenberg, 2010)24.
1.3 Kritik im In- und Ausland
Auf der Internetseite des Deutschlandfunk Kultur schreibt Journalist und Moderator Pa- trick Wellinski davon, dass der deutsche Film ohne die Berliner Schule international wohl komplett untergegangen wäre.25 Die Filmjournalistin Anke Leweke berichtet in ei- nem Beitrag auf der Seite des Goethe Institutes von einer Art Zeitzeugnis, das manche Filme der Berliner Schule rückblickend seien. Sie bezieht sich dabei auf Filme wie: MEIN LANGSAMES LEBEN (Schanelec, 2001), GESCHWISTER (Arslan, 1997), DEALER (Ars- lan, 1999) oder DER SCHÖNE TAG (Arslan, 2001). Des Weiteren hebt sie die genaue Be- handlung von gegenwärtigen Umbrüchen in Deutschland zu Zeiten nach der Wende positiv hervor, die im übrigen deutschen Kino sonst nicht häufig thematisiert wurden. Außerdem findet sie es gut, dass die Filmemacher in einem Diskurs stehen, d.h. dass wieder darüber gesprochen wird, was das Medium Film vielleicht noch leisten kann.26 Auch die starke Hinwendung zur ernsthaften Erarbeitung eines „reflektierten Realismus“27 wird von einigen anderen Filmkritikern gewürdigt.
Allgemein kann die überwiegend wohlwollende Fachkritik erklärt werden, indem man erkennt, dass die Berliner Schule sich traut neue Wege zu gehen. Unter schwierigen Finanzierungsverhältnissen, mit kleinen Budgets, behalten die Filmemacher ihren An- spruch sowohl sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, als auch mit Konventio- nen zu brechen. Hierbei muss auch die Relevanz von Filmfestivals genannt werden, die oftmals die einzige Bühne bieten, um diese Filme bekannt zu machen.
Vor allem in den USA und in Frankreich werden die Filme besprochen. Nach Pierre Gras, einem einflussreichen französischen Filmkritiker und Autor, war das deutsche Kino nach Rainer Werner Fassbinders Tod und den letzten erfolgreichen Filmen von Wim Wenders sowohl bei französischen Zuschauern als auch bei der Fachkritik Frank- reichs nicht mehr interessant. Erst 2004, mit bestimmten Filmen der Berliner Schule, wurde das Interesse erneut geweckt.28 Damals brachte der Verleiher ASC Distribution die Filme MARSEILLE (Schanelec, 2004), UNTERWEGS (Krüger, 2004) und KLASSENFAHRT (Winckler, 2002) in die Kinos. Daraufhin wurde die Stilrichtung unter französischen Kri- tikern gefeiert als die Nouvelle Vague Allemande (Neue Deutsche Welle). Zeitschriften wie Cahiers Du Cinema, Liberation und Le Monde berichteten teilweise ausführlich und durchweg recht wohlwollend über die Filme der Berliner Schule.29
In den USA wurde die Berliner Schule 2013 mit einer Retrospektive im Museum of Mo- dern Art gewürdigt und für die Einflüsse auf den internationalen Film hochgeschätzt.30 Auf Filmfestivals mit vielen Preisen ausgezeichnet, genießt die Berliner Schule einen guten Ruf bei Festival-Jurys. Nichtsdestotrotz schaffen es diese Filme nur langsam und vornehmlich in kulturellen Spartensendern, wie arte ins Fernsehen. Es ist natürlich fest- zuhalten, dass es sich bei den Filmen der Berliner Schule um anspruchsvolle Filme handelt, die den Begriff Unterhaltung anders auslegen als der durchschnittliche Fern- sehzuschauer. Es wäre zwar vermessen zu sagen, es gäbe in Deutschland kein Publi- kum für diese Filme, das gibt es sehr wohl, nur eben sind die Einspielergebnisse, mit Ausnahme einiger Filme, eher mau.31
Die Zahlen der erfolgreichsten deutschen Filme in deutschen Kinos, nach der Anzahl der Kinobesucher im Jahr 201732 zeigen, wo das Interesse des durchschnittlichen deut- schen Kinopublikums liegt. An erster Stelle steht mit weitem Abstand der dritte Teil der Komödie FACK JU GÖHTE mit rund sechs Millionen Zuschauern, mit rund zwei Millionen Zuschauern folgt DIE BULLYPARADE - DER FILM auf Platz zwei in der Statistik. Die weite- ren Filme sind ebenfalls hauptsächlich Komödien. Daraus lässt sich schließen, dass der größte Teil der deutschen Zuschauer wohl am liebsten auf witzige Art unterhalten wird, einem Eskapismus zugewandt ist, den die Berliner Schule zu vermeiden sucht.
Es gibt auch deutsche Regisseure der Gegenwart, die der Berliner Schule mit starker Abneigung begegnet sind. Ich möchte das viel zitierte Interview zwischen Rüdiger Suchsland und Oskar Röhler aus dem Jahr 2004 bemühen, indem sich Röhler über die Berliner Schule folgendermaßen äußert:
„Die sind immer spröde, immer streng. Es passiert in den Filmen eigentlich immer nichts. Sie sind immer langsam, immer trist, es wird eigentlich nie etwas wirklich gesagt in den Filmen – und das ist dann <die Berliner Schule>, die kommen bei der Kritik im- mer gut weg und haben dann so 5.000 bis 10.000 Zuschauer.“33
Oder hier ein Auszug aus dem Blog des Regisseurs Dietrich Brüggemann aus dem Jahr 2013, der in einem Beitrag mit dem Titel „Fahr zur Hölle, Berliner Schule“ schreibt:
„Gekünstelte Dialoge. Reglose Gesichter. Ausführliche Rückenansichten von Leuten. Zäh zerdehnte Zeit. Willkommen in der Welt des künstlerisch hochwertigen Kinos, will - kommen in einer Welt aus quälender Langeweile und bohrender Pein.“34
Kritik wird auch vonseiten ausgemachter Fans der Berliner Schule laut, wie Rüdiger Suchsland formuliert, erkenne er in vielen Gesprächen den Wunsch nach „mehr Opu- lenz, mehr Launen anstelle von Sekundärtugenden wie Disziplin.“35 Wie Suchsland hin- leitend aufführt, wird den Filmen „Protestantismus“, eine „unnötige[r] Sprödigkeit“ und „entrückte[n] Figuren“36 vorgeworfen. Suchsland selbst attestiert „das mutige Fallenlassen ins Genre fehlt“37. Seiner Meinung nach zeigen einige Filme, wie DER RÄUBER (Hei- senberg, 2009), IM SCHATTEN (Arslan, 2010) oder JERICHOW (Petzold, 2008) die richti- gen Ansätze, seien jedoch noch zu zurückhaltend in der Auseinandersetzung mit Gen- rekonventionen.
Wie man an den beiden Zitaten sowie an den Ausführungen Suchslands ablesen kann, sind die Filme der Berliner Schule in den Augen vieler keine leichte Kost. Im Vergleich zu den anfangs aufgeführten positiven Kritiken erkennt man, wie kontrovers die Berli- ner Schule diskutiert wird.
2 Merkmale der Berliner Schule
Die Merkmale, die ich in den folgenden Kapiteln erörtern möchte, liegen Filme der ers- ten sowie der zweiten Generation zugrunde darunter sind: GESPENSTER (Petzold, 2005), YELLA (Petzold, 2007), JERICHOW (Petzold, 2008), BARBARA (Petzold, 2012), GESCHWISTER (Arslan, 1997), DER SCHÖNE TAG (Arslan, 2001), MARSEILLE (Schanelec, 2004), UNTER DIR DIE STADT (Hochhäusler, 2010), EINE MINUTE DUNKEL (Hochhäusler, 2011), DER RÄUBER (Heisenberg, 2009), SEHNSUCHT (Griesebach, 2006), BUNGALOW (Köhler, 2002), DER WALD VOR LAUTER BÄUMEN (Ade, 2003) und ALLE ANDEREN (Ade, 2009).
2.1 Filmischer Realismus
Die Frage nach der Darstellung und Wertigkeit von Realitätseindrücken in filmischen Erzählweisen bedarf immer auch einer Definition der Betrachtungsweise auf den Realismus im Medium Film und der Frage nach der filmischen Realität als solcher. Eine ge- naue Definition und Herleitung der verschiedenen filmtheoretischen Betrachtungswei- sen würde den Rahmen dieser Bachelorarbeit sprengen. Daher werde ich mich nur auf einige wenige Begriffe einlassen, die ich für unabdingbar halte, um die wesentlichen Charakterzüge der Ästhetik der Berliner Schule zu beschreiben. Die Erarbeitung dieser Ästhetik findet unter anderem im Hinblick auf wesentliche Unterschiede zum konventio- nellen Kino der Genres und des Kinos der festen Plotstrukturen statt.
Im Zentrum meiner Betrachtung soll die Frage stehen, aus welchen Komponenten, in narrativer und visueller Gestalt, dieser lakonische Realismus des Alltäglichen, wie ich ihn in einem anschließenden Kapitel definieren möchte, beschaffen ist. Einführend möchte ich darauf hinweisen, dass die folgenden Merkmale niemals auf alle Filme der Berliner Schule zutreffend sein können. Es sollen lediglich Annäherungswerte erzielt werden und solche Merkmale extrahiert werden, die besonders markant sind. Da die Berliner Schule nicht ohne Vorbehalt als konkrete Stilrichtung oder Gruppierung zu be- zeichnet werden kann, ist es ausgeschlossen von festen Regeln oder gar Standards zu sprechen.
2.1.1 Lakonischer Realismus
Die Art von Realismus, die sich in der Ästhetik der Berliner Schule zeigt, möchte ich im Folgenden als lakonisch-alltäglichen-Realismus bezeichnen. Das Attribut alltäglich wer- de ich in späteren Kapiteln näher erläutern. Um die Lakonie in der Ästhetik der Berliner Schule näher zu beschreiben, muss man wissen, dass in diesen Filmen immer auch eine Abstraktion der Wirklichkeit stattfindet, die in der Bildsprache bis zum Grad der Stilisierung reicht. Das beschreibt Rainer Gansera 2001 bereits treffend in seiner ers - ten Kritik zur Berliner Schule.38 Die Erzählweise vieler dieser Filme wird außerdem als „nüchtern-analytische Erzählweise“39 beschrieben.
Das Adjektiv lakonisch bezieht sich zumeist auf Schrift oder Wort und wird im Duden beschrieben als: „kurz, einfach und ohne Erläuterung.“40 Als Synonym wird unter ande- rem „wortarm“ angeführt. Diese Beschreibung trifft, sowohl auf der Ebene der Bildge- staltung, als auch im Hinblick auf die Handlung zu. Sowohl die Dialogführung als auch die Bildsprache sind nahezu karg oder minimalistisch gehalten. Dennoch wirken die Mittel der Filmsprache bei der Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehungen sehr genau. Durch die Reduktion der Mittel geht also keine Armut in der Beschreibung des Innenlebens einer Figur einher. Es wird lediglich ein anderer Zugang gewählt. Man könnte sogar sagen, erst durch die Reduktion der Mittel entsteht diese ganz besondere Ästhetik. Darauf zielt die Beschreibung über das Adjektiv lakonisch ab. Es soll durch diese Bezeichnung herausgestellt werden, dass die Ästhetik der Berliner Schule im- stande ist, mit begrenzten Mitteln eine authentische Beschreibung der Wirklichkeit zu erzielen, die umfassend sein kann.
Ich schließe mich mit der Bezeichnung dieses Realismus, der sich von anderen Realis- men unterscheidet, einer Meinung des Filmkritikers Rüdiger Suchsland an. Dieser schreibt 2012 von einem „lakonischen Realismus“41, den er in den Filmen der Berliner Schule ausmacht. Dabei führt er an, dass es den Filmemachern weniger um die Fin- dung und Darstellung von Wahrheiten geht, sondern eher um einen „bestimmten Willen zur Wirklichkeit“42.
Die Bezeichnung lakonischer-Realismus liegt also nahe. Man kann in diesem Zusam- menhang auch von einer „Sprache der Beiläufigkeit“43 sprechen, wie Suchsland. Dieser Ausdruck beschreibt die Art der Berliner Schule, ihre Aussagen in der alltäglichen La - konie zu verstecken. Die Botschaft, insofern es denn eine konkrete geben sollte, wird nicht direkt offenkundig gemacht, sondern geht in besonderer Form in die Nebensäch- lichkeiten des alltäglichen Lebens über und wird darüber kommuniziert.
Vom lakonischen Realismus spricht man auch in der Malerei und der Literatur. Zum Beispiel wird in der Auseinandersetzung mit der Sprache des zeitgenössischen Schrift- stellers Haruki Murakami oft von einer lakonischen Ausdrucksform gesprochen.44 Dies zielt wohl vor allem auf die Einfachheit seiner Sprache ab. Eine interessante Ähnlich- keit zwischen der Literatur von Haruki Murakami und den Filmen der Berliner Schule ist das Stilmittel der inhaltlichen Auslassungen bzw. Leerstellen in der Erzählung, den Ver- zicht auf umfangreiche Erklärungen, Hinleitungen oder Einführungen.
2.1.2 Realistische Mise en phase
Mise en phase nennt es der Filmtheoretiker Guido Kirsten nach Roger Odin, wenn der Zuschauer dem Geschehen des Films gut und gerne folgt.45 Der Zuschauer tritt mit dem Rhythmus eines Filmes in Kontakt und stellt sich darauf ein. So wie der Rezipient bei schnellen Momenten eines Actionfilms eingebunden bleiben kann, so ist es auch bei einem langsamen Rhythmus, wie dem der Berliner Schule, möglich im Erzählfluss zu bleiben.46 Dabei erfüllt der langsame Rhythmus eine andere Funktion: Er kann „das quälend langsame Vergehen von Zeit erfahrbar machen“47, wie es Britta Hartmann tref- fend beschreibt. Demnach muss also beispielsweise die Andersartigkeit in Plotstruktur oder Dialogführung der Filme der Berliner Schule keineswegs bedeuten, dass der Zu- schauer in der Rezeption gestört wird. Es wird lediglich ein anderes Ziel formuliert und dementsprechend auch andere Mittel der Umsetzung gewählt. Die Filme der Berliner Schule verlangen nach einer aufmerksamen Haltung. Wird diese Haltung eingenom- men, wovon ich in dieser Arbeit ausgehe, so stellt sich ein Erzählrhythmus ein, dem man bereit sein kann zu folgen.
Kirsten erläutert das Erreichen der realistischen Mise en phase an einer Beispielszene aus dem Film XIAO WU, auch bekannt unter dem Namen THE PICKPOCKET (Jia Zhang- ke, 1997).48 In eigener Betrachtung dieser Szene erkenne ich große Ähnlichkeiten zur Berliner Schule: Die Hauptfigur Xiao Wu ist ein Taschendieb. Er trifft seinen alten Freund Xiao Yong. Da es Xiao Yong peinlich ist sich mit dem Taschendieb zu zeigen, er ist mittlerweile ein geachteter Geschäftsmann, schickt er ihn in einen seiner Lagerräu- me. Xiao Wu wartet auf seinen alten Freund. Dieses Warten wird durchgehend in einer statischen Einstellung aufgenommen und steht über ganze 42 Sekunden. Es folgt ein unspektakulärer Umschnitt, als sein Freund endlich eintrifft. Xiao Yong teilt der Haupt- person mit, dass er morgen heiraten wird. Nach einer ganzen Weile, während die bei- den rauchend dasitzen, fragt der Taschendieb, ob er nicht eingeladen werde? Worauf der Geschäftsmann antwortet, es sei nur ein kleines Familienfest geplant.
Die Gesprächspausen übertreffen bei Weitem die Momente in denen gesprochen wird. In dieser Szene geht es um die Darstellung von Peinlichkeit durch kommunikative Bar - rieren. Der Taschendieb erwartet, dass er eingeladen wird, der Geschäftsmann will ihn nicht einladen, weil er und die Gäste bei seiner Hochzeit an seine kriminelle Vergan- genheit erinnert werden. Keiner spricht aus, was er denkt. Dennoch wird es durch die Länge der Einstellungen, die Inszenierung und die Dialoggestaltung kommuniziert. Wie wir aus dem Leben wissen, wirken gerade die peinlichen Momente besonders stark, wenn sie lange anhalten. Diese Szene erinnert an die frühen Filme Arslans oder Scha- nelecs, aber auch anderer Regisseure der Berliner Schule, die der Zeit ihren Raum ge- ben und ohne viel Dialog das Innenleben der Figuren transportieren. Kirsten erkennt in dieser Szene in erster Linie keine gewollte Künstlichkeit, sondern die Absicht des Re - gisseurs die zeitliche Dimension erfahrbar zu machen, um darüber eine Beschreibung des Innenlebens der Figuren zu gelangen.49
Der Gegenpol zur Mise en phase ist die sogenannte D éphasage. Sie liegt in Momenten vor, in denen die filmischen Mittel derart hervortreten, dass der Zuschauer aus dem Erzählfluss gebracht wird.50 Der Begriff gehört zur Ausdrucksweise Roger Odins in sei- ner wissenschaftlichen Behandlung der Frage, wie genau Filme verstanden werden.51
Ob es zu einer Mise en phase oder Dephasage kommt, hängt viel von der inneren Hal- tung des Zuschauers ab.52 Wie oben angesprochen gehe ich davon aus, dass man den Absichten der Inszenierung und Rhytmitisierung in diesem Punkt eher wohlgesonnen gegenübersteht und werde daher bei den Merkmalen nicht weiter auf die Dephasage durch persönliche Erwartungshaltungen, Wertevorstellungen, Erfahrungen oder der Gleichen eingehen.
2.2 Grundlegende Elemente des Realismus der Berliner Schule
Bei einer Einschätzung, inwieweit sich grundlegende Merkmale in der Ästhetik der Ber- liner Schule abzeichnen, muss man feststellen, dass sich Verbindungen vor allem in der Abkehr von etablierten Normen in Erzählung, Inszenierung und Bildgestaltung er- kennen lassen. In ihrer grundlegenden Haltung, geltende Konventionen zu hinterfragen und neue Mittel der Erzählung und Gestaltung zu etablieren, ähneln sich die Filmema- cher und ihre Filme.53 Sie bieten andere, alternative Auflösungen an. Dabei spielt die Reduktion in der Ausformung der einzelnen Erzählmittel eine wesentliche Rolle. Dies vollzieht sich unter der Prämisse dem Eindruck des wirklichen Lebens der Gegenwart gerecht zu werden und seiner fiktionalen Form zuträglich zu sein. Das hängt wiederum stark von der individuellen Sichtweise der Regisseure auf ihre individuelle Wirklichkeit ab und kann daher zu deutlichen Unterschieden in der Gestaltung der Filme führen.
Die Ausgangsfrage bei der Findung von verbindenden Merkmalen ist also, inwieweit sich die Erzählweise von konventionellen Normen abgrenzt und welche evtl. gleicharti- gen Strategien dabei zum Vorschein treten. Besonderes Augenmerk wird dabei auf ihre Wirkung hin zu einer gesamtheitlich authentischen und realitätsnahen Filmsprache ge- legt.
2.2.1 Die Abkehr von festen Plotstrukturen
Ein grundlegendes Merkmal von realistischen Filmen ist die Abwendung von filmdra- marturgischen Konventionen, wie Schlichter aufführt.54 Auch Kirsten stellt fest, dass of- fene Plotstrukturen typisch für den realistischen Film sind.55 Filmemacher, die realisti- sche Filme entwickeln, wenden sich also bewusst gegen stereotype Genrekonventio- nen oder die klassische Narration. Genres beruhen auf bestimmten Systematiken in der Entwicklung und Ausformung der Drehbuchstruktur. Funktionen eines Genres, nach Hans Jürgen Wulff, können sein:56 Ermöglichung eines schnellen ersten Ein- drucks durch erkennbare genretypische Indizien in Struktur, Inszenierung und Gestal- tung. Dies erleichtert die schnelle Zuordnung durch den Zuschauer. Darüber können auch Strategien der Vermarktung, sowie der Produktion, bis zu einem bestimmten Grad, vereinheitlicht werden. Über diesen Grad der Vereinheitlichung können schließ- lich auch Kosten gespart werden, was sich besonders stark in der amerikanischen Filmindustrie zeigt.
Dem liegt die Frage zugrunde, welche Methodiken in Drehbuch, Inszenierung und Ge- staltung besonders gut funktionieren, um eine gewünschte Wirkung zu erzielen. Dabei geht es in konventioneller Sichtweise vor allem um die Einbindung des Zuschauers und das Vorantreiben einer Geschichte. Die gewünschte Wirkung ist je nach Genre eine andere. Will man im Thriller zum Beispiel Spannung erzeugen und beängstigen, so ist es in einer Komödie das größte Ziel den Zuschauer zum Lachen zu bringen. Dazu wur- den filmdramarturgische Grundstrukturen entwickelt, die sich zum Beispiel im Verlauf des Spannungsbogens, der Ausformung des Höhepunktes oder in stereotypen Figu- rencharakteristika voneinander unterscheiden. Darunter fallen auch die Verwendung einer ausgearbeiteten Exposition, deutliche Wende- und Höhepunkte, sowie ein Ende, das den Konventionen des jeweiligen Genres zumindest annähernd entspricht. So zeigt sich zum Beispiel in der Struktur eines konventionellen Drama sehr oft die Ent- wicklung von anfänglich guten und sicheren Verhältnissen, hin zu starken Negativereig- nissen. Das Ende ist, ähnlich der klassischen Tragödie, traurig. Wohingegen bei der Komödie oftmals anfangs ein Negativereignis steht, sich aber dennoch ein heiterer Grundton einstellt und die Geschichte im Verlauf zu einem positiven Ende führt. Das Ausbleiben oder die Andersartigkeit solcher Konventionen möchte ich nun als Charak- teristikum der Berliner Schule näher beschreiben.
[...]
1 Vgl. Zu Hüningen, James: Berliner Schule. Stand: 13.01.2012. Filmlexikon der Universität Kiel. URL: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=1388. Abruf am: 02.12.2018.
2 Vgl. Worthmann, Merten: Mit Vorsicht genießen. Stand: 27.09.2001. Deutsches Filminstitut.
URL: https://www.filmportal.de / node/34787/material/628526. Abruf am: 15.11.2018.
3 Vgl. Suchsland, Rüdiger: Eine gewisse Idee des Kinos. Die Berliner Schule zwischen Ausnahmeerscheinung und Symptom des deutschen Kinos der Nullerjahre. In: Chris Eschhopfen; Linda Kujawski (Hg.): Die Nullerjahre. Zwischen Stagnation und Innovation. Der deutsche Film im neuen Jahrtausend. Schüren Verlag, Marburg 2012. S. 89.
4 Vgl. Gansera, Rainer: Glücks-Pickpocket. Thomas Arslans traumhafter Film „Der schöne Tag“. In: Süddeutsche Zeitung. Ausgabe: 03.11.2001. S.14.
5 Vgl. Suchsland, 2012. S. 90.
6 Vgl. Hochhäusler, Christoph: Revolver Selbstgespräch. In: Marcus Seibert (Hg.): Revolver.
Kino muss gefährlich sein. Das Beste aus 14 Ausgaben Revolver. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2006. S.14.
7 Schick, Thomas: Filmstil, Differenzqualitäten, Emotionen. Zur affektiven Wirkung von Autorenfilmen am Beispiel der Berliner Schule. Springer Verlag, Potsdam 2015. S. 293.
8 Vgl. Hochhäusler, Christoph: Revolver Selbstgespräch. Marcus Seibert (Hg.), 2012. S.10.
9 Vgl. Schütz, Mariella: Langeweile. Das andere Fenster zum Dasein. In: AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. 41, 2008. S. 31.
10 Vgl. Beier, Lars-Olav: Christian Petzold über MoMa-Retrospektive zur Berliner Schule. Stand: 23.11.2013. Spiegel-Online. URL: http://www.spiegel.de/kultur/kino/christian-petzold-ueber-moma-retrospektive-zur-berliner-schule-a-934501.html. Abruf am: 9.12.2018.
11 Roy, Rajendra: Introduction. In: Rajendra Roy; Anke Leweke (Hg.): The Berlin School. Films from the Berliner Schule. The Museum of Modern Arts, New York 2013. S. 11.
12 Vgl. Beier, 2013.
13 Hochhäusler, Christoph: fast forward. In: Marcus Seibert (Hg.): Revolver. Kino muss gefährlich sein. Das Beste aus 14 Ausgaben Revolver. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2006. S.47.
14 Vgl. Beier, 2013.
15 Vgl. ebd.
16 Vgl. Nau, Peter: Der Can, der kann. Ein kleiner Film, ganz groß: Dealer von Thomas Arslan erinnert an Bresson. In: Guntram Vogt (Hg.): Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 1990 bis 2000. Schüren Verlag, Marburg 2001. S. 772f.
17 Vgl. Schick, 2015. S.331ff.
18 Vgl. Gansera, 2001.
19 Vgl. Schick, 2015. S. 398f.
20 Vgl. Leweke, Anke: Das Kino, Überraschend und gefährlich. Stand: Oktober 2016. Goethe- Institut e. V.. URL: https://www.goethe.de/de/kul/flm/20838234.html. Abruf am 21.01.2019.
21 Vgl. ebd.
22 Vgl. O.V.: Eintrag: „Schlafkrankheit“. ARD Programm. Ausstrahlungstermin: 06.02.2013, 20:15 Uhr, ARTE. URL: https://programm.ard.de/TV/arte/schlafkrankheit/eid_287249378221246. Abruf am: 21.01.2019.
23 Vgl. O.V.: Eintrag: „Alle Anderen“. ARD Programm. Ausstrahlungstermin: 17.03.2018, 21:45 Uhr, ONE. URL:https://programm.ard.de/TV/ONE/Programmkalender/?sendung=28722558817607. Abruf am: 21.01.2019.
24 Vgl. O.V.: Eintrag: „Der Räuber“. ARD Programm. Ausstrahlungstermin: 08.02.2013, 20:15 Uhr, ARTE. URL: https://programm.ard.de/TV/arte/der-r-uber/eid_287249 378223257. Abruf am: 21.01.2019.
25 Vgl. Wellinski, Patrick: „Berliner Schule“ – bewundert und verachtet. Stand: 19.08.2017. Deutschlandradio. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/deutscher-film-berliner- schule-bewundert-und-verachtet.2168.de.html?dram:article_id=393870. Abruf am: 06.1.2019.
26 Vgl. Leweke, 2016.
27 Baute, Michael; Knörer, Ekkehard; Pantenburg, Volker u.a.: „Berliner Schule“. Eine Collage. In: Kolik Film. Sonderheft 6. Oktober 2006. S. 7-14.
28 Vgl. Gras, Pierre: ARTE Interview. In: André Hörmann; Nadya Luer (Regie): Die Berliner Nouvelle Vague. Fernsehsendung. Ausstrahlungstermin: ARTE Deutschland, 11.01.2017, 21:45 Uhr. Timecode: 00:20:46 – 00:21:08.
29 Vgl. Suchsland, 2012. S. 89f.
30 Vgl. Rajendra, 2013. S.11f.
31 Vgl. Wellinski, 2017.
32 Statista: Ranking der zehn erfolgreichsten deutschen Filme nach der Anzahl der Kinobesucher im Jahr 2017. Stand: Februar 2018. Statista GmbH. URL: https://de.statista. com/statistik/daten/studie/36347/umfrage/die-erfolgreichsten-deutschen-filme-nach-der- anzahl-der-besucher/. Abruf am: 25.11.2018.
33 Röhler, Oskar; zitiert nach Suchsland, Rüdiger. In: Suchsland 2012. S.87.
34 Brüggemann, Dietrich: Fahr zur Hölle, Berliner Schule. Stand: 11.02.2013. Blog Dietrich Brüggemann. URL: https://d-trick.de/blog-de/fahr-zur-holle-berliner- schule/ . Abruf am: 25.11.2018.
35 Suchsland, 2012. S. 101.
36 Ebd. S. 101.
37 Ebd. S. 101.
38 Vgl. Gansera, 2001.
39 Beier, 2013.
40 O.V.: Eintrag: „lakonisch“. Duden Online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/lakonisch. Abruf am: 02.12.2018.
41 Suchsland, 2012. S. 88.
42 Ebd. S. 88.
43 Ebd. S. 91.
44 Vgl. Brüggemeyer, Maik: Schwebezustand zwischen Fantastik und Realismus. Stand: 08.04.2018. Deutschlandradio. URL: https://www.deutschlandfunk.de/haruki-murakami-die- ermordung-des- commendatore.700.de.html?dram:article_ id=415045. Abruf am: 02.12.2018.
45 Vgl. Kirsten, Guido: Filmischer Realismus. Schüren Verlag, Marburg 2013. S. 158.
46 Vgl. ebd. S. 176.
47 Hartmann, Britta: Aller Anfang. Zur Initialphase des Spielfilms. Schüren Verlag, Marburg 2009. S. 271.
48 Vgl. Kirsten, 2013. S.177f.
49 Vgl. Kirsten, 2013. S.178.
50 Vgl. Kessler, Frank: Déphasage. Stand: 23.09.2012. Filmlexikon der Universität Kiel. URL: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=7951. Abruf am: 22.01.2019.
51 Vgl. ebd.
52 Vgl. ebd.
53 Vgl. Gras, Pierre: Good Bye, Fassbinder!. Der deutsche Kinofilm seit 1990. Alexander Verlag, Berlin 2014. S.146f.
54 Vgl. Schlichter, Ansgar: Realismus I. Stand: 24.07.2011. Filmlexikon der Universität Kiel. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5512. Abruf am: 22.01.2019.
55 Vgl. Kirsten, 2013. S. 167.
56 Vgl. Wulff, Hans Jürgen: Genre. Stand: 24.08.2014. Filmlexikon der Universität Kiel. http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=190. Abruf am: 22.01.2019.
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