Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einordnung der Institution Schule im Deutschen Kaiserreich in einen gesellschaftlich-politischen Kontext um 1900
2.1 Kritik am Schulwesen
3. Figurenanalyse
3.1 Hans Giebenrath
3.2 Joseph Giebenrath und seine Beziehung zu Hans
4. Beschreibung der Schule im Roman „Unterm Rad
4.1 Schüler-Lehrer-Beziehung
5. Hans Identitätskrise, sein Scheitern und sein Tod
5.1 Motive und Symbole in „Unterm Rad“
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Nur nicht matt werden, sonst kommt man unters Rad‘ ‘1
1906 erschien der Schulroman „Unterm Rad“ von Hermann Hesse, der als Kritik am damaligen wilhelminischen Schulsystem gesehen wird. Wie auch ein Großteil seiner anderen Romane, enthält auch dieser autobiographischen Züge, die sich auf Hesses Schul- und Jugendzeit beziehen. Der Roman handelt von dem Jungen Hans Giebenrath und seiner gescheiterten Schullaufbahn. Aufgrund von zu hohem Aufstiegsdruck innerhalb der Gesellschaft, durch seinen Vater und durch einseitigen schulischen Druck, kommt es zum rätselhaften Tod des Protagonisten.
Passend zum Seminarthema „Vom Wunsch, ein anderer zu werden - Adoleszenzliteratur um 1900“ gewährt „Unterm Rad“ als Schulroman, eine Untergruppe der Adoleszenzliteratur, einen guten Einblick in die Adoleszenzthemen der Identitätsfindung, des gesellschaftlichen und schulischen Drucks und des letztendlichen Scheiterns des Protagonisten. Der gesellschaftliche und schulische Druck kann zur Überforderung führen, wenn er nicht anderweitig ausgeglichen werden kann. Überforderung durch Leistungsdruck in der Schule ist eine, die zur Belastung der Seele und der Nerven führt. Der Roman wird hauptsächlich auf den Raum beziehungsweise die Institution Schule untersucht und für die Analyse in mehrere Erzählabschnitte eingeteilt: Der erste Teil ist die Vorbereitung auf das Landexamen und die Zeit in Maulbronn, der Zweite beschreibt Hans‘ Zeit in dem Seminar und der letzte Teil umfasst die Zeit nach Hans‘ Austritt aus der Klosterschule bis zu seinem Tod. Bezogen auf das Thema ist der mittlere Teil von großer Bedeutung, der seine Seminarzeit beschreibt. Er korrespondiert mit den anderen Teilen, um weitere Gründe für Hans‘ Scheitern heraus zu arbeiten.
Zentrale Fragestellungen sind:
1. In welchem Zusammenhang stehen der schulische Druck und die verwehrte Identitätsfindung des Protagonisten Hans und trifft die Aussage zu, dass die Schule an seinem letztendlichen Scheitern beteiligt ist?
2. Wie lässt sich die Schüler-Lehrer-Beziehung beschreiben?
3. In welchem Verhältnis steht der Protagonist zu der Institution Schule?
4. Welche Motive und Symbole werden im Roman beschrieben um die Krise des Protagonisten zu verdeutlichen?
Um die Situation in der Institution Schule um 1900 besser nachvollziehen zu können, soll diese zunächst für das Deutsche Reich beziehungsweise für das Königreich Baden-Württemberg vorgestellt werden, da der Roman dort spielt. Es wird untersucht, ob es öffentliche Kritik am Schulsystem gab und in welchen sozialen Kontext das Thema „Schule“ einzuordnen ist.
Die Textanalyse beginnt mit einer ausführlichen Figurenanalyse des Protagonisten Hans Giebenrath. Danach wird auf seinen Vater Joseph Giebenrath sowie die Beziehung zwischen Vater und Sohn eingegangen. Anschließend wird die Institution Schule, wie sie der Roman darstellt, analysiert und mit einer Beschreibung der Schüler-Lehrer-Beziehung abgeschlossen. Vor dem Fazit wird, auf die Identitätskrise von Hans sowie sein Scheitern und sein Tod eingegangen werden. Um diese Punkte genauer definieren zu können, wird dieses Kapitel mit einer Herausarbeitung der Motive und Symbole abgeschlossen. Darauf folgt dann das Fazit, in welchem die Ergebnisse zusammengefasst und die Fragestellungen beantwortet werden sollen.
2. Einordnung der Institution Schule im Deutschen Kaiserreich in einen gesellschaftlich-politischen Kontext
Der Roman „Unterm Rad“ von Hermann Hesse ist zeitlich in die Zeit des Deutschen Kaiserreiches einzuordnen. Mit der deutschen Reichsgründung unter dem preußischem König Wilhelm I. entstand erstmals ein deutscher Nationalstaat. Gerade zu Beginn war das Deutsche Reich durch eine Vorherrschaft des Königreichs Preußen dominiert und wurde bis 1890 von der Politik des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, welcher ab 1871 auch die Position des Reichskanzlers des Deutschen Reiches besetzte, stark beeinflusst. Er sorgte zwar mit einem Sozialsystem für die die Erhaltung der inneren Stabilität des Reiches, wurde aber aufgrund seiner stark konservativen Einstellung, die der fortschrittlichen Entwicklung der Gesellschaft gegenüberstand und auch nicht mit der Einstellung des neuen Kaisers, Wilhelm II., zusammenpasste, 1890 aus seinem Amt entlassen. Nach der Entlassung Bismarcks begann die sogenannte „Wilhelminische Epoche“, die 1918 mit der Abdankung des Kaisers endete.
Die „Wilhelminische Epoche“ war in weiten Teilen von der Militarisierung der Gesellschaft geprägt.2
Der Militarismus ist auch im wilhelminischen Schulwesen wieder zu finden. Die Schule war ein wesentlicher Bestandteil dieser politisch-schulischen Ordnung des Reiches. Das Schulsystem des Deutschen Kaiserreiches war in drei Bereiche aufgeteilt. Zum einen gab es die Volksschule, die acht Jahre besucht werden sollte. Während dieser Zeit wurden grundlegende Kenntnisse vermittelt und man nannte sie auch „Schule der Untertanen“.3 Die Schüler sollten gehorsam und gottesfürchtig erzogen werden. Außerdem gab es noch die Realschule, die mindestens neun Jahre besucht werden musste. An der Realschule wurde die mittlere Schicht der Angestellten und kleineren Beamten ausgebildet. Ein Abschluss nach dem zehnten Schuljahr verkürzte den verpflichtenden Militärdienst von drei Jahren auf ein Jahr und war die Voraussetzung für die Unteroffizierlaufbahn. An der Realschule wurde kein Latein unterrichtet. Zuletzt gab es noch das Gymnasium, welches für eine schmale Elite vorbehalten war. Das Abitur galt als Voraussetzung um eine aktive Offizierskarriere anzustreben oder auch um an einer Universität studieren zu können. Am Gymnasium wurden unter anderem Altgriechisch und Latein unterrichtet. Als Abspaltungen vom Gymnasium gab es außerdem noch das Realgymnasium und die Oberrealschule. An diesen Schulen wurden Griechisch und Latein gegen moderne Sprachen und Naturwissenschaften ausgetauscht. 1900 wurden die Abschlüsse des Realgymnasiums und der Oberrealschule mit dem des Gymnasiums gleichgestellt.4
Das drei gliedrige Schulsystem lässt sich auf eine Schulreform von Wilhelm von Humboldt zurückführen. Dieser hatte mit dieser Schulreform allerdings ein System einführen wollen, in welchem die Schule den Schülern „objektiv meßbare Leistungen abverlang[t], an denen [sie] wachsen und reifen soll[en]“5. Mit der wachsenden Militarisierung der Bevölkerung wurde aus dieser Vorstellung ein System, welches die Schüler zu treuen Staatsbürgern erziehen und die individuelle Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit in den Hintergrund rücken sollte.6
Der Hintergrund des Romans ist das baden-württembergische Schulsystem, dessen Besonderheiten kurz dargestellt werden sollen:
Die Grundzüge des Systems stimmten mit dem des gesamten Kaiserreiches überein, allerdings wurde im süddeutschen Raum des Reiches mehr Wert auf christlich-religiöse Werte gelegt als auf deutsch-nationale. Es gab Volksschulen, die zum Teil unter Aufsicht der evangelischen und zum Teil unter Aufsicht der katholischen Kirche standen. Darüber hinaus gab es in großen Städten auch Gymnasien und für die Elite der Bevölkerung auch Lateinschulen. Für die Bevölkerungsschicht, die kein Geld für ein Gymnasium oder eine Lateinschule hatten, bestand dann nur die Möglichkeit, dass ihre Kinder eine Volksschule besuchten und durch das Bestehen des Landexamens die Möglichkeit bekamen ein evangelisches Seminar zu besuchen, welches sie auf ein Studium der evangelischen Theologie vorbereiten sollte. Dieses Seminar war für viele die einzige Möglichkeit innerhalb der Gesellschaft aufzusteigen.7
2.1 Kritik am Schulwesen
Die Kritik am wilhelminischen Schulwesen von einigen Teilen der Gesellschaft und einigen Lehrern war tiefgreifend. Einer der Hauptpunkte war, dass der schulische Druck auf den einzelnen Schüler immer größer wurde. Dem Individuum wurde keine Chance gelassen, sich eigenständig zu entwickeln. Der Aspekt der Überforderung wurde insbesondere bei sensiblen Schülern wirksam, weil sie mit der Erziehung zu Untertanen nicht zurecht kamen. Kritisiert wurde auch, dass die Schüler nur einseitig lernten. Das heißt, dass sie leistungsorientiert arbeiten mussten und sie nur nach schulischen Leistungen bewertet wurden und nicht nach guten beziehungsweise auch schlechten Charaktereigenschaften oder Fähigkeiten. Besonders deutlich wird die kritische Sicht auf das wilhelminische Schulwesen in den Schulromanen, die um 1900 entstanden sind. Schulromane sind eine Variation des klassischen Adoleszenzromans und in ihrem Mittelpunkt steht, auch in dieser Variante, ein männlicher Protagonist. Eine gute Beschreibung des Schulromans ist die von Gina Weinkauff und Gabriele von Glasenapp:
Hier ist der Handlungsort Schule, an dem das krisenhafte Aufeinandertreffen zwischen Individuum und Gesellschaft inszeniert wird. In fast allen Fällen hat diese Konfrontation, die sich u.a. in psychischen und physischen Quälereien der Schüler von Seiten der Lehrer, aber auch von Seiten der Mitschüler manifestiert, für den Protagonisten verheerende Folgen: Er hält dem Druck der Umwelt nicht stand und nimmt sich das Leben oder quittiert seinen Entwicklungsprozess, indem er die Schule verlässt und in sein Elternhaus zurückkehrt.8
Wichtige Autoren, die hier zu nennen sind, sind unter anderem Emil Strauß (Freund Hein), Robert Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß), Rainer Maria Rilke (Die Turnstunde) sowie Hermann Hesse (Unterm Rad). Viele Erzählungen, wie zum Beispiel auch „Unterm Rad“, enthalten autobiographische Züge des Autors, wodurch man mit den Texten einen guten Einblick in das wilhelminische Schulwesen bekommt. Auch waren die Romane mit Sicherheit nicht nur kritisch der Schule gegenüber, sondern auch der Gesellschaft und dem Staat. Um 1900 entstand auch die Gegenbewegung der Reformpädagogik gegen die Engführung von Staat und Schule, welche die „Institutionalisierung, als für die Schülerinnen und Schüler gesundheitsschädigende, ja tödliche Instrumentalisierung begreift“.9
3. Figurenanalyse
Um nun den außertextuellen Teil mit dem textuellen Teil beziehungsweise dem Analyseteil zu verbinden, soll zunächst der Protagonist Hans Giebenrath mit einer Figurenanalyse vorgestellt werden. Danach wird auf seinen Vater Joseph Giebenrath näher eingegangen, um die Beziehung zwischen ihm und Hans herausarbeiten zu können. Im selben Abschnitt soll auch auf die bereits angesprochene Einteilung des Romans eingegangen werden.
3.1 Hans Giebenrath
Hans Giebenrath, der Protagonist des Romans, ist ein 14-Jähriger Junge in der „Blüte des Knabentrotzes“10, der mit seinem Vater zusammen in einem kleinen Städtchen im Schwarzwald wohnt.11 Seine Mutter ist schon seit mehreren Jahren tot12 und sein Vater sehr streng. Er wird als ein dünner und blasser Junge beschrieben, welcher kaum Wadenmuskulatur hat13, was unter anderem daran liegt, dass er viel Zeit drinnen verbringt und lernt.14 Mit seinem Erscheinungsbild hebt Hans sich von den anderen Bewohnern seiner Heimatstadt stark ab:
Das kleine Schwarzwaldnest zeitigte sonst keine solchen Figuren, es war von dort nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung über das Engste hinaus gehabt hätte. Gott weiß, wo der Knabe die ernsthaften Augen und die gescheite Stirn und das Feine im Gang her hatte.15
Es wird darauf hingewiesen, dass er diese Art von seiner Mutter haben könne, welche zu Lebzeiten allerdings nur als „ewig kränklich und bekümmert“16 wahrgenommen wurde.
Trotz Hans‘ Äußerem, was als schwächlich dargestellt wird, achtet sein Umfeld nicht auf dieses, sondern nur auf Hans Begabung. Man sah ihn als „feine[n] Kopf und überhaupt etwas Besonderes“17. Hans besucht eine Lateinschule und ist dort Klassenbester.18 Deshalb wird er von seiner Stadt als einziger Kandidat zu dem Landexamen in Stuttgart geschickt.19 Um sich auf das Examen gut vorzubereiten, erhält er von seinem Rektor, seinem Mathematiklehrer und dem Pfarrer außerplanmäßige Unterrichtsstunden.20 Da Hans sehr ehrgeizig ist, lernt er zusätzlich zuhause bis spät abends.21 Auch während des Konfirmandenunterrichts, welchen er eigentlich besuchen soll um vor einer „geistige[n] Überlastung“22 bewahrt zu werden, lernt er weiter Latein oder Griechisch.23 Um mehr Zeit für das Lernen zu haben, muss Hans seine Freizeitbeschäftigungen aufgeben- Das Angeln, das Spazieren gehen24, das Schwimmen und seine Kaninchen.25 Darüber hinaus hat er keine Freunde mit denen er etwas unternehmen könnte, da sein damaliger Freund August nun eine Lehre zum Mechaniker macht und bei Hans die „Streberei“26 eingetreten ist. Dass Hans diese Beschäftigungen und ein Freund fehlen, wird deutlich, als er seinen Kaninchenstall und das Wasserrad mit einem Handbeil zertrümmert, „als könnte er damit sein Heimweh nach den Hasen und nach August und nach all den alten Kindereien totschlagen“27. Zusätzlich werden immer wieder Kopfschmerzen erwähnt, die Hans zu schaffen machen.28 Hans ist sehr sensibel und ihm fehlt die Zuneigung seiner Mutter. Darüber hinaus fehlt es Hans an Selbstvertrauen, was deutlich wird, als er die Prüfungen im Landexamen abgeschlossen hat und sich nicht sicher ist, ob er das Examen bestanden hat.29
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1 Hesse, Hermann: Unterm Rad. 11. Auflage 2005, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. S. 102 Z.32f
2 Friedrich-Ebert-Stiftung zur Wilhelminischen Ära. Internetseite:
https://www.fes.de/hfz/arbeiterbewegung/epochen/wilhelminische-ara-1890-1918. Besucht am 01.09.18
3 Thenorth, Heinz-Elmar: Schule im Kaiserreich. In: Schule und Unterricht im Kaissereich. Hrsg. Von Hans- Dietrich Schultz und Reinhard Dithmar/ Ludwigsfelder Verlagshaus. Ludwigsfelde, 2006. S. 12
4 Langenberg-Pelzer, Gerit: Das Motiv des Selbstmords in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. 1995, Aachen, S. 104-108
5 Langenberg-Pelzer, Gerit (1995). S. 105
6 Langenberg-Pelzer, Gerit (1995). S. 105
7 Langenberg-Pelzer, Gerit (1995). S. 103-112
8 Weinkauff, Gina/von Glasenapp, Gabriele: Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Verlag Ferdinand Schöningh. Paderborn 2010. S. 126 zu Schülerromane der Jahrhundertwende
9 Hamann, Christof: Institutionen der Pädagogik in Literatur und Film. Einleitung. In: Institutionen der Pädagogik. Hrsg. Von Metin Genf und Christof Hamann / Verlag Königshausen & Neumann GmbH. Würzburg, 2016. S. 25
10 Hesse, Hermann (2005). S. 17
11 Hesse, Hermann (2005). S. 10
12 Hesse, Hermann (2005). S. 10
13 Hesse, Hermann (2005). S. 41
14 Hesse, Hermann (2005). S. 13
15 Hesse, Hermann (2005). S. 10
16 Hesse, Hermann (2005). S. 10
17 Hesse, Hermann (2005). S. 11
18 Hesse, Hermann (2005). S. 53
19 Hesse, Hermann (2005). S. 12
20 Hesse, Hermann (2005). S. 12
21 Hesse, Hermann (2005). S. 13
22 Hesse, Hermann (2005). S. 12
23 Hesse, Hermann (2005). S. 13
24 Hesse, Hermann (2005). S. 15
25 Hesse, Hermann (2005). S. 18
26 Hesse, Hermann (2005). S. 18
27 Hesse, Hermann (2005). S. 19
28 Hesse, Hermann (2005). S. 14
29 Hesse, Hermann (2005). S. 33