Metalyrik und Gesellschaftskritik in Gertrud Kolmars "Die Dichterin". Die schreibende Frau in der Weimarer Republik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zum Begriff Metalyrik

3. Interpretation von Die Dichterin

4. Zur Situation der schreibenden Frau in der Weimarer Republik

5. Schlussbetrachtung

6. Bibliographie

1. Einleitung

„Dichterin ohne Publikum, Randfigur, unbekannte, vergessene Autorin“1. Gertrud Kolmar (1894-1943) zählt fraglos weder zu den prominentesten Autorinnen des frühen 20. Jahrhunderts2 noch zu denen, deren literarisches Werk lückenlos erschlossen und ohne Weiteres erschließbar wäre, ein Faktum, an dem die nationalsozialistische Büchervernichtung die Hauptschuld trägt.3 Monika Shafi bezeichnet Gertrud Kolmar als die „Außenseiterin schlechthin“4, deren Rezeption im Urteil der Kritiker von „Respekt und Ruhmlosigkeit“5 gleichermaßen gekennzeichnet ist. Während ihre Bewunderer „ihre ungewöhnliche lyrische Stimme“6 loben, wirken ihre „traditionelle Themen- und Formenwahl“7 bereits zu Lebzeiten Kolmars anachronistisch8 und geben daher bis heute Anlass zu Skepsis und Geringschätzung. Jedoch hat die Kolmar-Forschung seit Mitte der Neunziger Jahre – nicht zuletzt da die Gedenkjahre ihres 50. Todestages 1993 und ihres 100. Geburtstages 1994 in diesen Zeitraum fallen – neue Impulse und somit quantitativ wie qualitativ Substanz verliehen bekommen. Im Zuge der neuen Auseinandersetzung mit Kolmars Lyrik widmeten sich verschiedene Studien auch in Einzelinterpretationen dem Gedicht Die Dichterin, dem Eingangsgedicht ihres Zyklus Weibliches Bildnis. Der zyklische Charakter der Gedichtsammlungen Kolmars verbietet es zwar geradezu, einzelne Gedichte isoliert zu interpretieren, da die zyklische Formation „eine epische Struktur in Lyrik […] schafft“9 und die Gedichte sich somit nur aus ihren Zusammenhängen deuten lassen. Der Dichterin kommt als Eingangsgedicht jedoch zugleich die Rolle eines „Programmgedicht[s]“10 zu, das in dieser Funktion vorausweisendes Potential besitzt und somit als Grundskizze auf die in Weibliches Bildnis folgenden Gedichte appliziert werden kann.

Die bislang in der Forschungsliteratur vorliegenden Interpretationen dieses Gedichts setzen fast allesamt unterschiedliche Analyseschwerpunkte. Johanna Woltmann (1998) stellt den Gesichtspunkt des Autobiographischen in den Vordergrund. Ein rein autobiographisches Verständnis von Kolmars Werk negierend, beurteilt sie Kolmars Darstellungen abschließend als „autobiographisch getönt[]“11. Ähnlich, aber pathetischer, klingt das Gesamturteil von Monika Shafi (1995). Sie sieht im Zyklus Weibliches Bildnis „die Autobiographie von Weiblichkeit schlechthin“12. Anet Reinert (1996) untersucht Die Dichterin hinsichtlich der Ich-Konstituierung. Mithilfe der Termini „Ich als Sie“13 und „Ich als Ich“14, die in Anspielung auf den Wechsel des Personalpronomens in Die Dichterin gewählt werden, geht sie der Frage nach: „Wie entwirft das Ich sich selbst?“15 Im gleichen Band beschäftigt sich Chantal Müller (1996) ausführlich mit der Frage nach der Sprachproblematik in Die Dichterin. Müller sieht in dem Gedicht den „Zweifel enthalten, ob ein Text als Dingliches und Äußeres überhaupt ein taugliches Medium sein kann zur Vermittlung des Innenlebens eines Menschen an die Außenwelt.“16 Die bislang letzte und umfangreichste Interpretation des Gedichtes stammt von Silke Nowak (2007). Maßgebend für ihre Arbeit ist „[d]as poetologische Motiv der Gefangenschaft“17. Im Unterschied zu den bislang genannten Interpretinnen steht sie der Versuchung, „die Poetik und Person Kolmars hier [in Die Dichterin ] unmittelbar mit Händen greifen zu können“18, äußerst argwöhnisch, ja ablehnend gegenüber.19 „Geradezu grotesk wird es, wenn damit Überzeugungen der ,Dichterinʻ wie: ,Der Mann ist soviel klüger, als wir sindʻ zu einem zentralen Bestandteil von Kolmars Poetik erklärt werden.“20 Nowak zufolge ist es Kolmars Intention, „Bilder des Weiblichen und Jüdischen so zum Sprechen zu bringen, daß ihr Fadenschein von Natur erlischt.“21

Eine explizite Auseinandersetzung mit dem metalyrischen Moment des Gedichtes erfolgte bislang in der Forschungsliteratur jedoch nicht. Gründen hierfür wird im anschließenden Kapitel u. a. nachgegangen. Die Lücke, die durch die Nichtbeachtung des metalyrischen Aspekts in Die Dichterin in der Forschung vorhanden ist, soll durch die vorliegende Arbeit geschmälert werden. Dem Hauptteil dieser Arbeit, einer auf die metalyrischen Elemente und eng daran gekoppelt auf die gesellschaftskritische Botschaft fokussierten Interpretation von Die Dichterin, geht ein kurzes Kapitel zur Begriffsbestimmung der Metalyrik voran. Im Anschluss an die Interpretation erfolgt eine Einordnung der Befunde in den sozialhistorischen Kontext des Weimarer Literaturbetriebs mit vorrangigem Blick auf geschlechterideologische Tendenzen dieser Zeit. In der Schlussbetrachtung sollen die im Verlaufe der vorliegenden Arbeit gewonnenen Erkenntnisse gebündelt und abschließend bewertet werden.

2. Zum Begriff Metalyrik

Einige grundlegende Hinweise für das Verständnis dessen, was Metalyrik umfasst, finden sich in Rudolf Brandmeyers Beitrag Poetologische Lyrik 22 (2011) im Handbuch Lyrik: „In der gängigen Definitionspraxis sind es Gedichte, die von Aspekten der Poetik sprechen“23. Diese Aussage ist recht unspezifisch formuliert und umrahmt den Teilbereich der Lyrik, welcher als Metalyrik zu bezeichnen ist, nur in äußerst groben Zügen. Jedoch weist die Formulierung „In der gängigen Definitionspraxis“ bereits darauf hin, dass sich Präzisierungen in der Definition von Metalyrik geradezu aufdrängen, um klare Abgrenzungen zu anderen Formen und Subgattungen der Lyrik zu schaffen und die Metalyrik als eigenständigen Teilbereich ausweisen zu können. „Den poetologischen Texten kommt das differenzierende Merkmal zu, selbstreflexive Texte zu sein“24, die somit einen „Status als Metatexte“25 beanspruchen. Merkmale wie Selbstreflexivität oder Selbstreferenz und auch der Metastatus poetologischer Texte vermögen es jedoch nicht, das gesamte Spektrum der Metalyrik definitorisch abzudecken, denn die allgemein gehaltene Aussage, es seien „Gedichte, die von Aspekten der Poetik sprechen“26, wird damit nicht substantiell angereichert.

Eine inhaltliche Spezifikation des Begriffs Metalyrik findet sich allerdings in Marion Gymnichs und Eva Müller-Zettelmanns Aufsatz Metalyrik: Gattungsspezifische Besonderheiten, Formenspektrum und zentrale Funktionen (2007). Von „den beiden Hauptformen der Metalyrik, die unterschieden werden können, […] explizite Metalyrik […] und implizite Metalyrik“27 wird vor allem die explizite Metalyrik in zusätzliche, binär angeordnete Kategorien ausdifferenziert.

Als erstes Unterscheidungsmerkmal nennen die Autorinnen die „Ebene des Gedichtes“28. Dabei stellt sich die Frage, ob die „Metaisierung auf Inhaltsebene [oder] Vermittlungsebene“29 stattfindet. Tritt ein lyrischer Sprecher als explizit vermittelnde Instanz zutage, so liegt Metalyrik auf der Vermittlungsebene vor. Ebenso kann es sein, dass der lyrische Sprecher im Hintergrund bleibt und die metalyrischen Elemente fast beiläufig in das Gedicht einfließen lässt (Metalyrik auf Inhaltsebene).

Gymnich und Müller-Zettelmann unterscheiden weiterhin „zwischen punktueller und extensiver Metalyrik“30. „Häufigkeit und […] Umfang metalyrischer Elemente in einem Gedicht“31 sind hierbei ausschlaggebend, ob ein Gedicht im Ganzen oder nur in Teilen als metalyrisch eingestuft wird.

Hinter den Begriffen „der ,offenenʻ und der ,verdecktenʻ Metalyrik“32 verbirgt sich die Frage nach dem Grad „der Identifizierbarkeit metalyrischer Signale“33. Allen voran steht hierbei das vom Dichter gewählte Vokabular zur Untersuchung. Bedient er sich solcher Begriffe, die offenkundige Assoziationen zur Lyrik evozieren, spricht man von offener Metalyrik. Sind die Anspielungen eher unterschwellig oder in abstrahierter Form dargestellt, ist es eine verdeckte Metalyrik.

Die thematische Einbindung von metalyrischen Elementen stellt ein weiteres Unterscheidungskriterium dar. Der „Gedichttypus der ,reinen expliziten Metalyrikʻ“34 unterscheidet sich vom „,inhaltlich kombinierte[n] Modusʻ der Metalyrik“35 darin, dass sein zentrales Anliegen darin besteht, metalyrische Reflexionen anzuvisieren, während der zweitgenannte Modus metalyrische Komponenten nur supplementär oder gar instrumentalisierend verwendet.

Bei der Unterscheidung von „,werkinternerʻ […] Metalyrik“36 und „,werkexternerʻ Metalyrik“37 ist der „Geltungsbereich metalyrischer Elemente“38 ausschlaggebend. Werkinterne Referenz verweist exklusiv auf das Gedicht selbst, indem sie anzufinden ist, werkexterne Referenz kann hingegen „auf die Produktion und Rezeption von Gedichten, auf andere Texte oder auch auf den historischen und politischen Kontext“39 Bezug nehmen.

Zuletzt kann das „Funktionspotential von Metalyrik“40 bei der Ausdifferenzierung von expliziter Metalyrik zurate gezogen werden. „Eine grundlegende Entscheidung lässt sich in dieser Hinsicht […] zwischen ,kritischerʻ und ,nicht-kritischerʻ Metalyrik treffen“41. Maßgebend für eine solche Einschätzung ist die seitens des lyrischen Sprechers kundgegebene Einstellung gegenüber des von ihm metaisierten Betrachtungsgegenstandes.

Da das nachfolgend analysierte Gedicht ein explizit metalyrisches ist, sei an dieser Stelle der Vollständigkeit halber eine kurze Erläuterung zur impliziten Metalyrik zitiert:

Unter impliziter Metalyrik ist im Unterschied zu allgemein-literarischer Selbstreferentialität […] eine besondere und markierte indirekte Autofokussierung zu verstehen, die im Leser eine bewußte und über das gattungsübliche Maß hinausgehende Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Fiktionalität hervorrufen soll.42

In der Rückbesinnung auf die in der Einleitung angedeutete Frage danach, weshalb bislang in der Forschung keine explizit auf die metalyrische Lesart ausgerichtete Analyse und Interpretation von Die Dichterin erfolgte, kann auf das erste Zitat Brandmeyers in diesem Kapitel zurückverwiesen werden: „In der gängigen Definitionspraxis sind es Gedichte, die von Aspekten der Poetik sprechen“43. „Aspekte der Poetik“ muss man jedoch schon sehr weit auslegen, um damit etwa Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu meinen. In der Regel klingen in einer solchen Formulierung eher Gedanken an selbstreflexive Aussagen zur Poetik an sich, zur Kunstauffassung und -theorie oder an formal-stilistische Fragen des Dichtens mit. In einem solchen Sinne wäre Die Dichterin gar nicht als metalyrisches Gedicht deutbar. Vielleicht wurde eine Explikation der metalyrischen Lesart bislang aber auch (vor allem in den autobiographischen Interpretationsansätzen) als überflüssig erachtet, weil die Schnittmenge metalyrischer Reflexion und der „Illusion autobiographischen Schreibens […], die der Neigung vieler Leser, Dichter und lyrischen Sprecher gleichzusetzen, Vorschub leistet“44, ohnehin relativ groß ist. Da Brandmeyer und Gymnich/Müller-Zettelmann in ihren Aussagen jedoch konform gehen, dass „[d]as poetologische Gedicht […] vom Autor […], vom Werk und vom Leser“45 handeln und Metalyrik nicht zuletzt „über die gesellschaftliche Rolle des Dichters […] reflektier[en]“46 kann, erscheint – wie im Weiteren zu zeigen sein wird – eine solche metalyrische Deutung völlig legitim.

3. Interpretation von

Gertrud Kolmars Gedicht Die Dichterin entstand circa in den Jahren 1927/2847, nachdem sie nach mehrjähriger Schaffenspause und einem längeren Aufenthalt in Frankreich u. a. daraus resultierend neue Schreibanlässe und Inspiration bezogen hatte.48 Erstmals abgedruckt wurde das Gedicht 1938 in der Sammlung Die Frau und die Tiere, in dem sich eine Auswahl aus zwei Zyklen befindet. Einer dieser Zyklen heißt Weibliches Bildnis. Dieser beinhaltet das eingangs genannte und in der Folge untersuchte Gedicht Die Dichterin.

„In Weibliches Bildnis […] setzt Kolmar sich […] mit weiblichen Lebensentwürfen auseinander“49. Mit dem Eröffnungsgedicht Die Dichterin, „einem programmatischen Gedicht, das eine Verbindung herstellt […] zwischen Leben und Werk, zwischen Person und Text“50, nimmt Kolmar Bezug auf frauenspezifische Probleme im Zusammenhang mit der sozialen Konstruktion von Geschlechterrollen und der weiblichen Selbst- sowie der männlichen Fremdverortung der Frau im Gesellschaftssystem der Weimarer Republik.51 Wenngleich tunlichst davon abgesehen werden muss, Weibliches Bildnis als autobiographische Offenbarung Kolmars zu identifizieren, so ist dennoch augenscheinlich, dass „ein persönliches Erfahrungsmoment“52 hierbei maßgebend für Themen, Motive und Inhalte gewesen sein dürfte.53

Die Dichterin besteht aus zehn Strophen, wobei die erste und letzte Strophe jeweils aus nur einem Vers bestehen. Diese bilden einen Rahmen um die zweite bis neunte Strophe, die aus je vier Versen zusammengesetzt sind. Jambisches Versmaß und die Verwendung eines Kreuzreims verleihen dem Gedicht zwar eine gewisse Beständigkeit, die jedoch von einer systematischen Besonderheit bezüglich des Reimschemas geprägt ist. Den Kreuzreim legt Kolmar nämlich so an, dass dieser erst ab dem dritten Vers beginnt. Die beiden ersten Verse sind Waisen. Mithilfe dieses Winkelzugs wird jedes zweite Reimpaar durch die Strophengrenzen voneinander getrennt. Durch diesen Aufbau sind die Reimwörter nicht imstande sich vollwertig zu ergänzen. Sie können nicht ihre volle Wirkkraft entfalten. Dieser ''Rückstand'' kann über das gesamte Gedicht hinweg nicht mehr wettgemacht werden. Er kann schließlich nur dadurch kompensiert werden, dass das letzte Reimwort „fühlt“54 alleinstehend im letzten, den äußeren Rand der Rahmung bildenden Vers steht.

Die Kommunikationssituation des Gedichts konstituiert sich auf der einen Seite durch ein weibliches lyrisches Ich (vgl. V. 16 / 22). Aus Gründen der besseren Nachvollziehbarkeit wird in der Folge der Terminus lyrische Sprecherin gewählt. Auf der anderen Seite richtet diese sich an ein Publikum, welches als die Leserschaft des vorliegenden Gedichts identifizierbar ist („Der du dies liest“, V. 3). Wenn auch keine explizite Selektion der Adressaten vorgenommen wird, so kann doch herausgelesen werden, dass im Speziellen die männliche Leserschaft angesprochen werden soll (vgl. V. 10f.). Dem Umstand, dass diese Intention herausfordernd (wenn nicht gar illusorisch) ist, ist sich die lyrische Sprecherin dabei durchaus bewusst („Dies wird nicht sein“, V. 15).

Gleich mit dem ersten Vers wird die Grundlage für die sich im Verlaufe des Gedichts entfaltende innere Zerrissenheit der lyrischen Sprecherin gelegt. Dort heißtes: „Du hältst mich in den Händen ganz und gar“ (V. 1). Das Symbol der „Hände[]“ (V. 1) dient hierbei als findiger Ausgangspunkt für die Ausgestaltung des mehrdeutigen Blickwinkels, welchen die lyrische Sprecherin auf ihre persönliche, aber vor allem auch auf die kollektiv-weibliche Zwangslage einnimmt. Zum einen evoziert das Symbol der haltenden Hände das Gefühl von Geborgenheit und Schutz.55 Dazu passend ist auch das Bild „eines kleinen Vogels“ (V. 2), womit die „Hände[]“ (V. 1) sogar in die Nähe eines mütterlichen Nests gerückt werden.56 Zum anderen ermöglicht das Symbol der Hände eine der ersten Deutung konträr gegenübergestellte Auslegung. Der Hand ist nämlich ebenso die sinnbildliche Charakteristik der Manipulation zu eigen, was in ihrer Bedeutung „als fassende, greifende, in besitz und gewalt nehmende“57 Hand zur Geltung kommt. Als Fundament für die Entfaltung einer komplexen Gesellschaftskritik ist die Doppeldeutigkeit des Hände-Symbols somit äußerst dienlich. Die Alliteration „ganz und gar“ (V. 1) rundet den Eingangsvers stimmig ab und verleiht ihm darüber hinaus eine prospektive Gültigkeit und Bedeutsamkeit für alle folgenden Strophen. Ferner liegt bereits im ersten Vers ein verdecktes metalyrisches Element vor, welches erst bei der zweiten Lektüre als solches erkennbar wird. Das Halten bezieht sich nämlich nicht nur auf die lyrische Sprecherin, sondern auch vorausweisend auf das „Buch“ (V. 26).

In der Aussage „Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt“ (V. 2) kommt einerseits die rein funktional-organische Reaktion des Herzens auf einen psychischen Erregungszustand zum Ausdruck. Die lyrische Sprecherin beschreibt also zunächst nichts weiter als einen beschleunigten Herzschlag, der durch Anspannung, Nervosität, Angst o. ä. verursacht worden sein mag. Andererseits kann sich in der Verbindung mit dem Zusatz „In deiner Faust“ (V. 3) aber auch die symbolische Wirkkraft des Herzens entfalten. Der im äquivoken Hände-Symbol begründete Gegensatz von ersehnter Geborgenheit und sorgenvoll vorgeahnter Deprivation persönlicher Freiheit wird vorerst durch den jähen Faustschluss zuungunsten des herzlich erwünschten Zustandes entschieden. Im Gegensatz zu den „Händen“ (V. 1) ist die „Faust“ (V. 3) ohne Zweifel und ausschließlich als „ein Symbol der Gewalt und Aggression“58 zu deuten.

Der Leser dieses Gedichts wird explizit darauf hingewiesen, „acht“ (V. 3) zu geben, denn er „blätter[t] einen Menschen um“ (V. 4). An dieser Stelle wird die sich durch das Gedicht ziehende Allegorie der Dualität von „Mensch[]“ (V. 4) und „Buch“ (V. 26) eingeführt, was gleichsam die „metalyrische Lesart für das gesamte Gedicht […] motivier[t]“59. Durch diese allegorische Verknüpfung wird der Konnex hergestellt, der „dem Text jene doppelte Identität [verleiht], die sich jeder eindeutig dualen Zuordnung entzieht“60 und somit „eine Einheit von Schöpferin und ,Geschöpfʻ etabliert“61, die es erlaubt, alle Erfahrungen der Dichterin ungefiltert auf den Umgang mit ihrem literarischen Produkt zu beziehen, und umgekehrt. Zusätzlich wird die metalyrische Textauslegung bereits in der zweiten und dritten Strophe des Gedichts durch die Verdichtung des offenen metalyrischen Vokabulars – „liest“ (V. 3), „blätterst […] um“ (V. 4), „Pappe“ (V. 5), „Druckpapier und Leim“ (V. 6), „schwarzen Zeichen“ (V. 8) – befördert.

[...]


1 Monika Shafi: Gertrud Kolmar. Eine Einführung in das Werk. München 1995, S. 13.

2 Vgl. Walter Fähnders/Helga Karrenbrock: „Einleitung“. In: Walter Fähnders/Helga Karrenbrock (Hgg.): Autorinnen der Weimarer Republik. 2. Aufl. Bielefeld 2008. S. 7-20, hier S. 17.

3 Vgl. Marion Brandt: „,Mehr als ein seltsam belebtes Bild – und weniger als eine Zauberinʻ. Über Gertrud Kolmar“. In: Walter Fähnders/Helga Karrenbrock (Hgg.): Autorinnen der Weimarer Republik. 2. Aufl. Bielefeld 2008. S. 59-78, hier S. 77.

4 Shafi: Gertrud Kolmar, S. 23.

5 Ebd., S. 14.

6 Ebd., S. 14.

7 Ebd., S. 12.

8 Vgl. ebd., S. 12.

9 Chryssoula Kambas: „Einleitung“. In: Chryssoula Kambas (Hg.): Lyrische Bildnisse. Beiträge zu Dichtung und Biographie von Gertrud Kolmar. Bielefeld 1998. S. 7-14, hier S. 13.

10 Johanna Woltmann: „Selbstdarstellung in bildlichen Prozessen. Der Stellenwert des Autobiographischen im Werk Gertrud Kolmars“. In: Chryssoula Kambas (Hg.): Lyrische Bildnisse. Beiträge zu Dichtung und Biographie von Gertrud Kolmar. Bielefeld 1998. S. 115-124, hier S. 115.

11 Woltmann: „Selbstdarstellung in bildlichen Prozessen“, S. 124.

12 Shafi: Gertrud Kolmar, S. 85.

13 Anet Reinert: „Ich-Konstituierung im Gedichtzyklus <<Weibliches Bildnis>>“. In: Heidy Margrit Müller (Hg.): Klangkristalle. Rubinene Lieder : Studien zur Lyrik Gertrud Kolmars. Bern u. a. 1996. S. 90-111, hier S. 93.

14 Ebd., S. 94.

15 Ebd., S. 95.

16 Chantal Müller: „Die Sprachproblematik in <<Die Dichterin>> und <<An die Gefangenen>>“. In: Heidy Margrit Müller (Hg.): Klangkristalle. Rubinene Lieder : Studien zur Lyrik Gertrud Kolmars. Bern u. a. 1996. S. 50-68, hier S. 61.

17 Silke Nowak: Sprechende Bilder. Zur Lyrik und Poetik Gertrud Kolmars. Göttingen 2007, S. 121.

18 Ebd., S. 163.

19 Vgl. ebd., S. 125.

20 Ebd., S. 165.

21 Ebd., S. 167.

22 Die Begriffe Metalyrik und Poetologische Lyrik werden synonym verwendet.

23 Rudolf Brandmeyer: „Poetologische Lyrik“. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011. S. 157-162, hier S. 157.

24 Ebd., S. 157.

25 Ebd., S. 157.

26 Ebd., S. 157.

27 Marion Gymnich/Eva Müller-Zettelmann: „Metalyrik: Gattungsspezifische Besonderheiten, Formenspektrum und zentrale Funktionen“. In: Janine Hauthal u. a. (Hgg.): Metaisierung in der Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen, historische Perspektiven, Metagattungen, Funktionen. Berlin/New York 2007. S. 65-91, hier S. 67.

28 Ebd., S. 71.

29 Ebd., S. 70.

30 Ebd., S. 72.

31 Ebd., S. 72f.

32 Ebd., S. 74.

33 Ebd., S. 74.

34 Ebd., S. 75.

35 Ebd., S. 75.

36 Ebd., S. 77.

37 Ebd., S. 77.

38 Ebd., S. 77.

39 Ebd., S. 78.

40 Ebd., S. 78.

41 Ebd., S. 78.

42 Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst. Heidelberg 2000, S. 215.

43 Brandmeyer: „Poetologische Lyrik“, S. 157.

44 Gymnich/Müller-Zettelmann: „Metalyrik“, S. 69f.

45 Brandmeyer: „Poetologische Lyrik“, S. 158.

46 Gymnich/Müller-Zettelmann: „Metalyrik“, S. 65.

47 Shafi: Gertrud Kolmar, S. 35.

48 Vgl. Marion Brandt: „Hohe Kerze der Richtenden. Gertrud Kolmars Frankreichreise und der Neubeginn ihres literarischen Schaffens im Jahr 1927“. In: Chryssoula Kambas (Hg.): Lyrische Bildnisse. Beiträge zu Dichtung und Biographie von Gertrud Kolmar. Bielefeld 1998. S. 15-28, hier S. 15.

49 Shafi: Gertrud Kolmar, S. 38.

50 Dieter Kühn: Gertrud Kolmar. Leben und Werk, Zeit und Tod. Frankfurt am Main 2008, S. 392.

51 Vgl. hierzu den Aufsatz von Anet Reinert: „Ich-Konstituierung“.

52 Shafi: Gertrud Kolmar, S. 84.

53 Vgl. ebd., S. 84.

54 Gertrud Kolmar: Gedichte. Auswahl und Nachwort v. Ulla Hahn. Frankfurt am Main 1986. S. 9f., V. 34. Nach dieser Ausgabe wird künftig direkt im Text mit Verszahl zitiert.

55 Vgl. Nowak: Sprechende Bilder, S. 169.

56 Vgl. ebd., S. 169.

57 Deutsches Wörterbuch. Hg. von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 10, Sp. 343.

58 Shafi: Gertrud Kolmar, S. 86.; vgl. auch Nowak: Sprechende Bilder, S. 169.

59 Gymnich/Müller-Zettelmann: „Metalyrik“, S. 68.

60 Shafi: Gertrud Kolmar, S. 86.

61 Ebd., S. 87.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Metalyrik und Gesellschaftskritik in Gertrud Kolmars "Die Dichterin". Die schreibende Frau in der Weimarer Republik
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
27
Katalognummer
V502185
ISBN (eBook)
9783346033901
ISBN (Buch)
9783346033918
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Metalyrik, Poetologie, Weimarer Republik, Die Dichterin
Arbeit zitieren
Marco Lipinski (Autor:in), 2017, Metalyrik und Gesellschaftskritik in Gertrud Kolmars "Die Dichterin". Die schreibende Frau in der Weimarer Republik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/502185

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