Externe Demokratieförderung der EU in Tunesien


Hausarbeit, 2019

31 Seiten, Note: 1

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Dokumentenanalyse

3. Die tunesische Systemtransformation
3.1 Systemtransformation nach Merkel
3.2 Tunesiens Entwicklung seit 2011 und Einordnung in die Transformationsphasen

4. Externe Demokratieförderung in Tunesien durch die EU
4.1 Modelle der Demokratieförderung der EU nach Lavenex und Schimmelfennig
4.2 Demokratieförderung durch die EU in Tunesien
4.2.1 Die EU und das Ben-Ali-Regime
4.2.2 Die Reaktion der EU auf Transition und Demokratisierung
4.3 Wahrnehmungen der EU-Demokratieförderung durch tunesische Akteure

5. Fazit

Bibliographie

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Als Ursprungsland der arabischen Aufstände im Jahr 2011 gilt Tunesien acht Jahre später als einziger und letzter Hoffnungsträger für demokratische Entwicklung. Während in anderen arabischen Staaten wie Marokko und Ägypten weiterhin bzw. wieder autokratische Regime regieren, konnte in Tunesien mit der neuen Verfassung von 2014 eine Demokratie aufgebaut werden, die jedoch nicht als konsolidiert gilt.

Seit der Verabschiedung der neuen Verfassung und den ersten freien Parlamentswahlen Tune- siens im Jahr 2014 hat das Land zwar viele Schritte der demokratischen Konsolidierung ge- macht, jedoch steht die junge Demokratie aktuell vor großen Schwierigkeiten und Herausfor- derungen. Tunesien leidet seit langem unter mangelndem wirtschaftlichem Wachstum und es herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter der jungen Bevölkerung. Korruption ist weiterhin allgegenwärtig und wichtige politische Reformen wurden nicht durchgeführt. So wurde bis heute kein Verfassungsgericht eingerichtet, obwohl die neue Verfassung von 2014 dies vorsieht. Die Regierung der nationalen Einheit, die eine Form der Machtteilung primär zwischen der islamistischen Ennahda und der säkularen Partei Nidaa Tounes darstellt, ist ge- fährdet, da gut die Hälfte der Abgeordneten von Nidaa Tounes die Partei verlassen haben und sich teilweise der neu gegründeten Partei Coalition Nationale angeschlossen haben. Zu all diesen Entwicklungen kommt eine zunehmende Unzufriedenheit und mangelndes Vertrauen der Bevölkerung in die Politik. Vor diesem Hintergrund stellen die im September 2019 anste- henden Parlamentswahlen ein wichtiges Ereignis für die Demokratie Tunesiens dar.

Bei dem Prozess der demokratischen Transition und Transformation spielten auch externe Akteure wie die Europäische Union eine große Rolle. Die EU führt seit den späten 1960er Jahren Beziehungen mit Tunesien, die anfangs vor allem auf wirtschaftlicher und finanzieller Basis beruhten. Seit die Demokratieförderung in den 1990er Jahren als explizites, formales und allgemeines Ziel der EU erklärt und mit dem Barcelona-Prozess 1995 die Institutionali- sierung der Mittelmeerpolitik der EU eingeleitet wurde, verstärkten sich auch die Beziehun- gen zu Tunesien. Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) sollte besonders die außenpo- litischen Beziehungen zu Nachbarländern der EU stärken, denen keine Zutrittsmöglichkeiten zur EU offenstanden. Zudem sollte im Rahmen der ENP Demokratieförderung betrieben wer- den.

Die Aufstände in mehreren arabischen Ländern, die durch das politische Schlüsselereignis der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in Sidi Bouzid im Dezember 2010 eingeleitet wur- de, überraschten nicht nur lokale, sondern auch europäische Eliten. Nach den Aufständen musste die EU sich eingestehen, dass die Versuche der Demokratieförderung in den südlichen Nachbarstaaten während der vorangegangenen Jahrzehnte gescheitert waren. Im Falle Tunesi- ens änderte die EU ihren Kurs direkt nach der Flucht des Präsidenten Ben Ali und sicherte der tunesischen Gesellschaft ihre Unterstützung bei der Transition des politischen Systems in eine Demokratie zu. Auch auf regionaler Ebene reagierte die EU rasch mit einer Revision der Eu- ropäischen Nachbarschaftspolitik, die eine erhöhte Differenzierung der Politik in Bezug auf die einzelnen Nachbarländer vorsieht, einen Fokus auf demokratische Kriterien legt und die Kooperation mit der Zivilgesellschaft verstärken soll. Kritiker jedoch behaupten, die Demo- kratieförderung im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik sei weiterhin mangelhaft, wiederhole alte Fehler und trage nicht zur Lösung der stärksten, oben genannten Konflikte in Tunesien bei.

Diese Arbeit soll daher die Frage beantworten, inwiefern die externe Demokratieförderung der EU im Rahmen der ENP zur Institutionalisierung und Konsolidierung der Demokratie in Tunesien nach 2011 beigetragen hat. Dafür soll in einem ersten Schritt festgestellt werden, in welcher Phase des Demokratisierungsprozesses sich Tunesien aktuell befindet, um dann in einem zweiten Schritt den europäischen Einfluss näher zu betrachten. Vorläufige Hypothesen, die sich aus der explorativen Phase der Dokumentenanalyse ergeben, lauten hierbei, dass die Demokratieförderung der EU die spezifischen tunesischen Besonderheiten zu wenig berück- sichtigt und mit ihrer Politik nicht zur Lösung der relevanten Konfliktlinien beiträgt. Ein be- sonders wichtiger Aspekt hierbei ist die Spaltung zwischen säkularen und religiösen Gruppie- rungen, die -so die Hypothese- von der EU mehr verstärkt als verringert wird. Eine weitere Hypothese ist, dass die EU aktuell mehr an einer Stabilisierung als an der Demokratisierung Tunesiens interessiert ist und deshalb eine kurzfristig angelegte Politik betreibt.

Die Forschungsfrage soll im Folgenden mithilfe einer Dokumentenanalyse analysiert und beantwortet werden. Dabei werden wissenschaftliche Aufsätze, Studien, Zeitungsartikel und andere Dokumente herangezogen. In einem ersten Schritt soll Tunesien anhand seiner aktuel- len politischen Situation mithilfe von Merkels Theorie der Systemtransformation in eine der Demokratisierungsphasen eingeordnet werden. Lavenex und Schimmelfennig stellen in einem 2013 erschienen Sammelband drei verschiedene Modelle vor, nach denen die EU in der Ver- gangenheit Demokratieförderung betrieben hat. Die Modelle Linkage, Leverage und Gover- nance sollen helfen, die Funktionsweise der EU-Außenpolitik besser zu verstehen und die Wirksamkeit dieser zu analysieren. Die Demokratieförderung der EU in Tunesien im Rahmen der ENP soll einem der drei Modelle zugeordnet werden, um eine theoretische Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage zu schaffen. Zuletzt soll noch die Wahrnehmung der europäischen Politik durch tunesische Akteure angesprochen werden, um schließlich die Ana- lyse der Stärken und Schwächen der EU-Politik in Bezug auf die Demokratisierung Tunesiens ermöglichen.

2. Dokumentenanalyse

Um die Literatur zu analysieren, die für die Untersuchung der Demokratieförderung der EU in Tunesien herangezogen wird, wird die qualitative Methode der Dokumentenanalyse verwen- det. Hierfür gibt es verschiedene Forschungsroutinen und das Vorgehen variiert von Ansatz zu Ansatz. Die vorliegende Arbeit orientiert sich an der Vorgehensweise von Noetzel, Krumm und Westle, die ein Dokument als „die Gesamtheit einer Datenstruktur, in der Informationen von einem Produzenten an einen Empfänger übermittelt werden” (Westle, 2018: 325) definie- ren. Darunter zählen audiovisuelle Aufzeichnungen aller Art, also nicht nur schriftliche Texte, sondern beispielsweise auch Tabellen, Bilder oder Filme. In dieser Arbeit werden unter ande- rem wissenschaftliche Texte, Zeitungsartikel oder gesetzliche Abkommen verwendet, die ei- nen relativ neutralen Sprachstil aufweisen und informieren, aber die LeserInnen teilweise auch von einem bestimmten Standpunkt überzeugen wollen.

Die Vorgehensweise der Dokumentenanalyse lässt sich in verschiedene Phasen einteilen: Am Anfang steht die explorative Phase, die dazu dient, sich einen Überblick zu verschaffen, die Forschungsfrage und das Forschungsdesign zu entwickeln und gegebenenfalls Hypothesen zu entwickeln. In der zweiten Phase der Hauptuntersuchung geht es um die gezielte Auswahl und Analyse von Texten, welche die Forschungsfrage beantworten können. Dabei wird unter- schieden zwischen “äußerer Kritik”, wobei die Authentizität geprüft und die formalen Kenn- zeichen eines Dokuments eingeordnet werden und der ausführlicheren “inneren Kritik”, bei der der sachliche Inhalt, die Funktionen, Struktur und der Sprachstil der Dokumente analysiert und interpretiert werden. Die letzte Phase stellt schließlich die Auswertung dar. Hier wird bewertet, wie ergiebig die untersuchten Dokumente sind und ob es Widersprüchlichkeiten zwischen einzelnen Dokumenten gibt, um schlussendlich die Validität der Ergebnisse zu prü- fen und ein Endergebnis zu formulieren (vgl. ebd.: 328).

Diese stufenweise Analyse wird für die vorliegende Arbeit weitgehend übernommen, einige Aspekte wie die sprachliche Untersuchung sind jedoch für die Fallstudie nicht relevant und werden daher vernachlässigt.

3. Die tunesische Systemtransformation

3.1 Systemtransformation nach Merkel

In der politikwissenschaftlichen Literatur gibt es keine universelle Übereinstimmung bezüg- lich der wesentlichen Merkmale von Demokratie, jedoch werden bestimmte Aspekte wie Massenpartizipation, freie und offene Wahlen und Respekt für grundlegende Menschenrechte, sowie die Verbindung mit Liberalismus und einem Rechtsstaat häufig genannt. Ebenso wenig existiert ein Idealtypus der Demokratie, sondern es bestehen weltweit vielmehr verschiedenar- tige Typen und Modelle demokratischer Systeme.

Dementsprechend lässt sich in den Politikwissenschaften auch keine allgemeingültige Theorie der Demokratisierung ausmachen, vielmehr existieren verschiedene Ansätze und Modelle, die den Übergang von einem autoritären System in eine Demokratie erklären oder idealtypisch darstellen. Einer dieser Erklärungsansätze stammt von Wolfgang Merkel, der in seinem Buch „Systemtransformation“ zuerst in die theoretischen Grundlagen der Transformationsforschung einführt und diese dann an Beispielen der drei Demokratisierungswellen nach Huntington anwendet (Merkel, 2010). Im Folgenden soll Merkels Theorie kurz dargestellt werden, um sie dann anschließend auf das Beispiel Tunesien zu übertragen.

Wie in Abbildung 1 erkennbar, teilt Merkel eine Systemtransformation in mehrere Phasen ein. Dabei unterscheidet er die drei Hauptphasen, Ende des autokratischen Systems, Institutionali- sierung und Konsolidierung der Demokratie, welche sich häufig überlappen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: „Systemwechsel - vom autokratischen System zur Demokratie“ (Merkel, 2010: 95)

Vor Untersuchen eines Transformationsprozesses ist besonders darauf zu achten, ob das Land bereits vor dem autokratischen System Demokratieerfahrungen gemacht hat und wie lange und welcher Gestalt das autokratische System war. Das Ende des autokratischen Systems kann verschiedene systeminterne und -externe Ursachen haben. Systemintern zeigt sich oft ein Legitimitätsdefizit autokratischer Systeme aufgrund ökonomischer Ineffizienz oder – im Gegenteil – aufgrund ökonomischer Effizienz. Auch politische Schlüsselereignisse können in Kombination mit gescheiterten oder erfolgreichen Modernisierungsprozessen zum Ende eines autokratischen Systems führen (vgl. Merkel, 2010: 98f). Als systemexterne Ursachen nennt Merkel Kriegsniederlagen, den Wegfall externer Unterstützung oder den Dominoeffekt, der jedoch keine primäre Ursache darstellt (vgl. ebd.: 99f).

Für die Transition, also den Übergang eines autokratischen Systems in eine Demokratie, prä- sentiert der Autor sechs idealtypische Verlaufsformen, die sich in der Realität meist vermi- schen. So können Systeme sich im Laufe einer langandauernden Evolution demokratisieren oder von alten Regimeeliten demokratisiert werden. Gegenteilig dazu steht der von unten er- zwungene Systemwechsel, bei dem eine mobilisierte Öffentlichkeit gegen das autokratische System protestiert. Weitere Verlaufsformen sind ein zwischen Regimeeliten und Regimeop- position ausgehandelter Systemwechsel, ein Regimekollaps oder der Zerfall eines meist auto- ritären oder totalitären Imperiums und die darauffolgende Neugründung eines oder mehrerer Staaten (vgl. ebd.: 101ff).

Während der Institutionalisierungsphase werden „die neuen demokratischen Institutionen etabliert“ (ebd.: 105). Dies bedeutet konkret, dass das neue demokratische Regierungssystem eines Staates aufgebaut wird, wobei sich das Verhältnis der Legislative zur Exekutive syste- matisch unterscheiden kann und so verschiedene Regierungstypen entstehen können. Den Weg zur Entstehung eines Regierungssystems erklärt Merkel mithilfe von vier Ansätzen, die sich gegenseitig ergänzen können. So kann ein Regierungssystem das Ergebnis vorheriger konstitutioneller Erfahrungen des Landes sein und auf soziokulturellen Besonderheiten des Landes beruhen. Oft besteht jedoch auch ein starker Zusammenhang zwischen Verlauf des Systemwechsels und der Form des entstandenen Regierungssystems. Auch rationale Strate- gien und Handlungen beteiligter Akteure spielen eine Rolle und zuletzt kann ein Regierungs- system auch eine Imitation anderer, erfolgreicher Demokratien sein (vgl. ebd.: 107f).

Mit der Verabschiedung einer durch eine verfassungsgebende Versammlung erarbeiteten neu- en Verfassung oder einer demokratisch revidierten alten Verfassung ist die unsicherste Zeit vorbei und die Phase der demokratischen Konsolidierung beginnt. Der Begriff der Konsoli-dierung ist nicht unumstritten, da er verschieden weit gefasst werden kann. Merkel geht von einem maximalistischen Konsolidierungsbegriff aus, bei dem eine Demokratie erst dann kri- senresistent und vollständig konsolidiert ist, wenn die Konsolidierung auf vier verschiedenen Ebenen abgeschlossen ist:

1. Konstitutionelle Konsolidierung (Makroebene: Strukturen)
2. Repräsentative Konsolidierung (Mesoebene: Akteure)
3. Verhaltenskonsolidierung (Mesoebene: informelle politische Akteure)
4. Konsolidierung der Bürgergesellschaft (Mikroebene: Bürger) (vgl. Merkel, 2010: 112).

Im Folgenden soll die aktuelle Lage Tunesiens skizziert werden und in eine der Phasen nach Merkels Demokratisierungstheorie eingeordnet werden. Da dies nicht die Haupterkenntnis der Arbeit darstellt, gibt der nächste Abschnitt lediglich einen verkürzten Überblick.

3.2 Tunesiens Entwicklung seit 2011 und Einordnung in die Transformationsphasen

Seit der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1956 bis zu den Umbrüchen 2011 herrschten in Tunesien zwei Präsidenten, bis 1987 Habib Bourguiba und darauf folgend Zine el-Abidine Ben Ali. Beide Regime stellten für Tunesien eine lange Zeit der autokratischen Herrschaft dar, während der die Macht sehr stark personalisiert war (vgl. Alexander, 2016: 5). Ben Ali entmachtete seinen Vorgänger Bourguiba und besaß damit als Präsident keinerlei demokrati- sche Legitimation. Er ließ zwar nach dem langjährigen Einparteiensystem einige Oppositi- onsparteien (nicht jedoch die islamistische Partei Ennahda) sowie die zuvor durch Bourguiba verbotene Tunesische Menschenrechtsliga (LTDH) zu, verstärkte jedoch ab den 1990er Jah- ren den Kampf gegen den radikalen Islamismus und unterdrückte politische Gegner zuneh- mend (vgl. ebd.: 3). 1999 standen bei der Präsidentschaftswahl zwar mehrere Kandidaten zu Wahl, de facto jedoch stand das Ergebnis bereits vor der Wahl fest. Ab den 2000ern wurde die Presse- und Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt, zivilgesellschaftliche Organisationen konnten nur unter starker Kontrolle des Regimes arbeiten. Der Einfluss des Familienclans Ben Alis und seiner Frau Leila Trabelsi auf die Wirtschaft vergrößerte sich enorm, er kontrollierte die wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes, indem Regulierungen umgangen und neue Gesetze geschaffen wurden, die es dem Clan erlaubten, sich unter dem Deckmantel der Lega- lität zu bereichern. Das Regime isolierte sich mehr und mehr von der Gesellschaft und auch die Eliten hatten keine Möglichkeiten mehr, Politik mitzugestalten, sofern sie nicht Teil des Clans waren. Die wirtschaftliche Situation Tunesiens in den 2000er Jahren war schlecht, es hatte sich eine breite und gebildete Mittelschicht herausgebildet, die jedoch große Schwierig- keiten hatte, einen Arbeitsplatz zu finden. Die prekäre Beschäftigungslage sowie die großen Wohlstandsunterschiede zwischen den gut entwickelten Küstenregionen und dem Landesin- neren riefen mehr und mehr Unmut unter der Bevölkerung hervor (vgl. Alexander, 2016: 70). Bereits seit 2008 gab es in der Bergbauregion Gafsa Aufstände, die als Vorläufer der Revolu- tion gelten. Dort herrschte große Armut und Arbeitslosigkeit. Als sich dann der Obst- und Gemüsehändler Bouazizi am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid selbst verbrannte, löste dies eine große Protestwelle aus, die bis über die Landesgrenzen hinaus eine riesige Wirkung ent- fachte und in westlicher Literatur oft als der „Arabische Frühling“ bezeichnet wird.

Die Massenproteste waren in Tunesien anfangs hauptsächlich gegen die Probleme der hohen Arbeitslosigkeit und stark gestiegenen Lebensmittelpreise sowie Energiekosten gerichtet, entwickelten sich bald jedoch zu einem Kampf um politische Ordnung (vgl. ebd.: 78). Nach- dem Ben Ali am 14. Januar 2011 ins Ausland geflüchtet war, übernahmen zivile Übergangs- verwaltungen für mehr als drei Jahre die Kontrolle über den Transitionsprozess. Nach einer langen Phase der Verfassungsgebung wurde im Jahr 2014 eine neue tunesische Verfassung verabschiedet und das Parlament gewählt. Im Folgenden sollen die Vorkommnisse anhand von Merkels Theorie theoretisch eingeordnet werden. Dabei werden aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit nicht alle Aspekte vollständig diskutiert, vielmehr sollen zu den ein- zelnen Phasen beispielhaft einige Aspekte herausgegriffen und analysiert werden.

Vorautokratische Demokratieerfahrungen in Tunesien festzustellen, stellt sich als schwierig heraus. Ein Faktor, der eine Demokratisierung Tunesiens sicherlich erleichtern kann, ist die relative ethnische Homogenität des Landes, welches vor allem von Arabern und Berbern be- wohnt ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung sieht den Nationalstaat als legitim an und identifiziert sich mit diesem (vgl. Mersch, 2018). Ob die säkulare Prägung des Landes, die vor allem unter Bourguiba vorangetrieben, aber auch mit der antiislamistischen Haltung Ben Alis weitergeführt wurde, als eine demokratische Erfahrung gesehen werden kann, ist zu bezwei- feln. Durch die Unterdrückung und Verfolgung von religiösen Gruppierungen schloss Ben Ali einen großen Teil der Bevölkerung von der Partizipation in Politik und Gesellschaft aus. Auch die zentrale Rolle des Gewerkschaftsdachverbandes UGTT in der tunesischen Gesellschaft und Politik kann nicht eindeutig als demokratische Erfahrung gewertet werden. Die UGTT leistete sicherlich einen großen Beitrag dazu, dass die Interessen verschiedenster Gruppen von Arbeitern gegenüber der Politik repräsentiert wurden. Ein Teil der Union war jedoch durch das Regime Ben Alis kooptiert und selbst von tiefer Korruption durchzogen (vgl. Alexander, 2016: 75). Auch die „pluralistischen“ Wahlen von 1999 stellten sich als Scheinwahlen heraus, sodass die Bilanz vorautokratischer Demokratieerfahrungen sehr schwach ausfällt.

Tunesien weist also bis zur Revolution 2011 eine durchgängig autokratische Struktur auf, vom französischen Protektorat bis zu den beiden autoritären Regimen unter Bourguiba und Ben Ali. Als systeminterne Ursache für das Ende des autokratischen Regimes kann eine Legi- timitätskrise aufgrund ökonomischer Inneffizienz festgestellt werden. Die Herrschaft des Ben Ali-Familienclans über große Teile der Wirtschaft sowie weitere Faktoren wie ungenügende Investitionen machten ausreichendes wirtschaftliches Wachstum unmöglich. Systemexterne Ursachen sind nicht eindeutig feststellbar, doch einige Vorkommnisse trugen sicher ihren Teil zum Ende des autokratischen Regimes bei, so beispielsweise die weltweite Finanzkrise 2008. Während dieser sank die europäische Nachfrage nach tunesischen Exporten und weniger Tou- risten reisten nach Tunesien. Dies hatte einen Verlust von Arbeitsplätzen zur Folge, der vor allem die Regionen im Landesinneren traf, denen es wirtschaftlich ohnehin schon nicht gut ging (vgl. Alexander, 2016: 71). Die geographische Nähe zu Europa und die starke Verwo- benheit mit der europäischen Wirtschaft verbanden Tunesien schon seit Jahrzehnten enger mit dem demokratisch geprägten Kontinent. Auch die zunehmende Popularität sozialer Netzwer- ke im Internet leistete sicher einen Beitrag dazu, dass in der tunesischen Gesellschaft mehr und mehr Ansprüche auf demokratische Prinzipien geweckt wurden.

Tunesien war das erste arabische Land, in dem eine mobilisierte Öffentlichkeit gegen ein au- tokratisches Regime protestierte und Erfolg hatte. Ben Ali flüchtete mit seiner Familie nach kurzer Zeit und somit war die Macht des Regimes gebrochen und die Phase der Demokratisie- rung fand ihren Anfang. Die Entdifferenzierung, also das Auflösen alter Strukturen des autori- tären Regimes und das Ersetzen dieser mit neuen Strukturen, konnte beginnen. Im Oktober 2011 fanden freie Wahlen für die verfassungsgebende Versammlung mit proportionaler Re- präsentation statt. Die Mehrheit der Sitze gewann dabei die islamisch geprägte Partei Ennah- da, daneben bekamen die neu gegründete säkulare Partei Nidaa Toune s sowie 17 weitere Par- teien und acht unabhängige RepräsentantInnen die Chance, die neue tunesische Verfassung zu gestalten.

Mitte des Jahres 2013 kam es jedoch zu sozialen Unruhen und Mordanschlägen auf zwei Ab- geordnete, die zur kurzzeitigen Aussetzung des Transitionsprozesses führten. Der Militär- putsch in Ägypten ließ Panik unter TunesierInnen aufkommen, vor allem Mitglieder der isla- mischen Partei fürchteten dasselbe Schicksal, das die ägyptischen Muslimbrüder zeitgleich traf. Eine starke Polarisierung zwischen Ennahda und der Opposition erschwerte den Transi- tionsprozess. Doch die Vereinigung der UGTT, des Unternehmerverbandes UTICA, der An- waltskammer ONAT und der tunesischen Menschenrechtsliga LTDH (das sog. Quartett des nationalen Dialogs) konnten den Verfassungsgebungsprozess durch intensive Gespräche retten (vgl. Paul, 2015). Die Verabschiedung der neuen tunesischen Verfassung im Januar 2014 und die darauffolgenden Parlamentswahlen im Oktober desselben Jahres können als das Ende der erfolgreichen Transition betrachtet werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Externe Demokratieförderung der EU in Tunesien
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
1
Jahr
2019
Seiten
31
Katalognummer
V506066
ISBN (eBook)
9783346059468
ISBN (Buch)
9783346059475
Sprache
Deutsch
Schlagworte
externe, demokratieförderung, tunesien
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Externe Demokratieförderung der EU in Tunesien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/506066

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