Augenbewegungen von Dyslexikern beim Lesen und Implikationen für E-learning Umgebungen


Bachelorarbeit, 2014

56 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einfuhrung

2 Grundlegende Definitionen
2.1 Okulomotorik
2.1.1 Funktionsweise des Auges
2.1.2 Augenbewegungen beim Lesen
2.2 Eye-Tracking
2.2.1 Methode
2.2.2 Geratetyp en und Versuch saufbau
2.3 Dyslexie
2.3.1 Ursachen und Symptome von Dyslexie
2.3.2 Diagnose von Dyslexie
2.4 Lesen und Wortverarbeitung
2.4.1 Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln
2.4.2 Zwei-Wege-Modell: Dual Route Cascaded Model
2.4.3 Einordnung der Dyslexietypen

3 Augenbewegungen bei Dyslexikern und normalen Lesern
3.1 Erklarungsversuche fur das gestorte Blickverhalten
3.2 Basisbefunde
3.3 Textschwierigkeit
3.4 W orthaufigkeit
3.5 Wortlange
3.5.1 Worter
3.5.2 Pseudoworter
3.5.3 Interaktion zwischen W ortlange und W orthaufi gkeit
3.6 Interpretation der Ergebnisse

4 Implikationen fur E-learning Umgebungen
4.1 E-learning
4.1.1 Arten von E-learning
4.1.2 Beispiel einer textbasierten synchronen Lernumgebung
4.2 Gestaltung: Anpassung des Inhaltes
4.2.1 Lesbarkeit und Verstandlichkeit
4.2.2 Vereinfachung von Texten
4.3 Gestaltung: Layout
4.3.1 Klassische Schriftarten
4.3.2 Speziell entwickelte Schriftart: Dyslexie
4.3.3 SchriftgroBe, Zeichenabstand und Farben
4.3.4 Textlayout
4.3.5 Darstellungsformen mit Text, Bild und Ton
4.4 Guidelines fur Dyslexiker

5 Schlussbemerkung und Ausblick

6 Literatur

7 Abbildungsverzeichnis

8 Tabellenverzeichnis

1 Einfuhrung

„Everyone is a genius. But if you judge a fish on its ability to climb a tree, it will live its whole life believing that it is stupid.”

Albert Einstein

Die Legasthenieforschung zeigt seit ihrem Beginn um 1900 enorme Fortschritte. Wahrend anfangs noch die Ansicht verbreitet war, dass Legasthenie1 die Folge mangelnder Intelligenz sei, grenzen sich heutige Definitionen von dieser Falschannahme ab (Lyon, Schaywitz & Schaywitz, 2003). Diese fruhere Ansicht wird auch durch Einsteins Zitat untermauert. Kinder oder Erwachsene, die bezug- lich Lese- oder Rechtschreibaufgaben immerzu Misserfolge verzeichnen, konnen ohne die notwendige Forderung zum einen aggressiv-oppositionell reagieren, zum anderen jedoch auch in einen Kreislauf aus Selbstzweifel und Ruckzug geraten (Warnke & Schulte-Korne, 2008). Untersuchungen dazu haben in den letzten Jah- ren auch in Deutschland regen Anklang gefunden und stellen ein teilweise sehr kontroverses Themenfeld dar. Dyslexie betrifft ca. vier bis sechs Prozent der ge- samten Bevolkerung (Grosche, 2012) und im schulischen Kontext in etwa sechs Prozent der Kinder (Plume & Warnke, 2007). Ein entscheidendes Forschungsfeld diesbezuglich ist der Bereich der Okulomotorik - der Augenbewegungen. Durch die gestorte Textverarbeitung von dyslexischen Personen lasst sich vermuten, dass die Blickbewegungen von denen normaler Leser abweichen. Augenbewegungen, sind von auBen kaum wahrnehmbar, konnen jedoch mit Hilfe der Eye-Tracking Methode erfasst werden. Mit dieser Methode ist es moglich, Blickbewegungen „in Echtzeit unter okologisch validen Bedingungen zu beobachten“ (Radach, Gunther & Huestegge, 2012, S. 186). Durch die Weiterentwicklung verschiedener Eye­Tracking Systeme wurden zahlreiche neue Forschungsgebiete geschaffen, die un­ter anderem auch im Bereich der Neuen Medien FuB fassen (Rakoczi, 2012). Nachrichtenportale beispielsweise nutzen Eye-Tracking Methoden um anhand von sogenannten Heat-Maps zu erkennen, welche Bereiche einer Webseite von den Nutzern sehr gut bzw. kaum wahrgenommen werden. Diese Erkenntnisse konnten ebenfalls in der Gestaltung von E-learning Umgebungen, zum Beispiel in Form von virtuellen Kursraumen, von Nutzen sein und zu besseren Lernergebnis- sen fuhren.

In der folgenden Arbeit wird das Blickverhalten von dyslexischen Lesern im Vergleich zu normalen Lesern untersucht und anschlieBend mogliche Implikatio- nen fur die Gestaltung von effektiven digitalen Lernumgebungen diskutiert. Die Thesis beginnt mit einer Darlegung der Grundlagen fur diese Arbeit. Zunachst wird dabei auf den Begriff der Okulomotorik eingegangen. AnschlieBend folgt eine Klassifizierung verschiedener Dyslexiearten, wobei der Bereich des Lesens in den Mittelpunkt gestellt wird und die Probleme bezuglich Rechtschreibung vernachlassigt werden. Des Weiteren wird hauptsachlich auf die entwicklungsbe- dingte Dyslexie eingegangen. Erworbene Dyslexieformen, bei denen die Personen zuvor problemlos Lesen konnten, werden auBen vorgelassen. Die Grundlagen werden mit der Beschreibung der Vorgange beim Lesen und der Wortverarbeitung abgeschlossen. Nachdem ein theoretischer Hintergrund geschaffen worden ist, werden im Anschluss relevante Ergebnisse aus einer Auswahl von Originalarbei- ten zusammengefasst und wesentliche Erkenntnisse herausgearbeitet. Zum Ab- schluss werden aus den bisherigen Forschungsresultaten, sowie weiteren Befun- den Folgerungen fur die Gestaltung von E-learning Umgebungen geschlossen. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob und wie man Lernumgebungen gestalten kann, um den Problemen, die bei dyslexischen Lernern auftreten, entgegenzuwirken.

2 Grundlegende Definitionen

Um eine Grundlage fur diese Bachelorthesis zu schaffen und mogliche Unklarhei- ten bei der Darstellung des bisherigen Forschungsstandes sowie den Implikatio- nen fur E-learning Umgebungen zu verhindern, wird im ersten Teil der Arbeit eine Ubersicht uber die zentralen Begriffe gegeben und diese definiert. Hierbei wird in besonderem MaBe auf den Bereich der Augenbewegungen, das Krank- heitsbild der Dyslexie, sowie auf die Vorgange beim Lesen und der Wortverarbei- tung eingegangen.

2.1 Okulomotorik

Ein Grundbestandteil dieser Arbeit besteht aus der Darstellung und dem Vergleich von Augenbewegungen (Okulomotorik) bei dyslexischen und normalen Lesern. Zunachst wird hierfur die allgemeine Funktionsweise des Auges erlautert und typische Augenbewegungen beim Lesen skizziert.

2.1.1 FunktionsweisedesAuges

Auf der Netzhaut (Retina) befinden sich etwa 126 Millionen Photorezeptoren, von denen 120 Millionen Stabchen und sechs Millionen Zapfen sind (Musseler, 2008). Stabchen sind dabei deutlich lichtempfindlicher als Zapfen und sind fur das schwarz/weiB Sehen zustandig, wahrend man mit Hilfe der Zapfen Farben erken- nen kann. Die Fovea centralis ist der Punkt mit der hochsten Zapfendichte und somit die Stelle des scharfsten Sehens. Dieser Bereich des fovealen Sehens betragt etwa 1 Grad Radius um den Fixationspunkt (Radach et al., 2012). Im Radius bis funf Grad befindet sich der parafoveale Bereich. AuBerhalb dieser Regionen fin- det das periphere Sehen statt (Abbildung 1). Die Sehscharfe nimmt dementspre- chend mit zunehmender Entfernung zum Fixationspunkt ab (Rayner, 2009).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1. Die foveale, parafoveale und periphere Region beim Lesen (Schotter, Angele & Rayner, 2012, S. 6)

Der Bereich, in dem Informationen aufgenommen werden wird als Blickspanne (perceptual span) bezeichnet. Wie weit dieser Bereich um den Fixationspunkt reicht, kann mit der Moving Window-Technik ermittelt werden. Bei diesem Ver- fahren wird der Text mit Ausnahme eines, vom Leser fixierten Fensters manipu- liert und zum Beispiel durch sinnlose Buchstaben ersetzt (Abbildung 2). Wahrend der Betrachter liest, wird der Text innerhalb des Fensters immer regular angezeigt. Variiert man die GroBe des Fensters kann es zu einer deutlichen Verlangsamung der Lesegeschwindigkeit kommen. 1st das der Fall, so ist das ausgewahlte Fenster zu klein und der Leser nimmt uber das periphere Sehen den manipulierten, sinnlo- sen Text auf. Der Bereich, in dem das gerade nicht mehr der Fall ist, entspricht in etwa der Blickspanne des Betrachters. Ergebnisse einiger Untersuchungen haben ergeben, dass der Wahrnehmungsbereich ca. 14 bis 15 Buchstaben in Leserich- tung und lediglich drei bis vier Buchstaben nach links reicht (Rayner, 1998).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2. Beispiel fur eine "Moving Window" Bedingung (nach Rayner, 2009, S. 1463ff.)

2.1.2 Augenbewegungen beim Lesen

Die Bewegungen des Auges beim Lesen eines Textes bestehen aus sogenannten Sakkaden, welche durch einzelne Fixationen unterbrochen werden. Sakkaden sind schnelle Bewegungen, die beim Lesen durch Sprunge zu erkennen sind und wah­rend denen im Normalfall keine neuen Informationen aufgenommen werden kon- nen. Die Geschwindigkeit dieser Augenbewegungen kann bis zu 500 Grad pro Sekunde erreichen (Rayner, 1998). Radach et al. (2012) unterscheiden zwischen progressiven und regressiven Sakkaden (Regressionen), wobei progressive Sak­kaden in Leserichtung erfolgen und ca. 75 bis 95 Prozent aller Sakkaden ausma- chen. Die Lange dieser Bewegungen liegt im Durchschnitt bei sechs bis acht Buchstaben. Regressive Sakkaden sind folglich entgegen der Leserichtung gerich- tete Bewegungen und weisen nur eine halb so groBe Amplitude auf. Zwischen diesen einzelnen Sprungen finden Fixationen statt, die in der Regel 220 bis 250 ms dauern. Die Dauer einer Fixation gilt als valider Messparameter fur den kogni- tiven Aufwand bei der Aufnahme und Verarbeitung einer Textstelle (Just & Car­penter, 1980; Radach et al., 2012).

Die Verarbeitung von sehr kurzen und bekannten Wortern erfolgt meist ohne hohen kognitiven Aufwand, weshalb solche Worter mit hoher Wahrschein- lichkeit ubersprungen werden. Worter mit zwei bis drei Buchstaben werden dem- nach lediglich in 25 Prozent der Falle fixiert, wahrend Worter mit acht oder mehr Buchstaben fast immer und teilweise auch mehrmals fixiert werden (Rayner, 1998). Springt das Auge nach einer Fixation zu einem folgenden Wort, sollte die Sakkade im optimalen Fall in der Mitte des Zielwortes landen (Bellocchi, Muneaux, Bastien-Toniazzo & Ducrot, 2013). Untersuchungen von Radach (1996) ergaben allerdings, dass der GroBteil der vorwartsgerichteten Sakkaden zwischen Wortanfang und Wortmitte landen (z.B. McConkie, Kerr, Reddix & Zola, 1988; Radach et al., 2012). Der Anteil an Fixationen ist bei Wortern mit bis zu drei oder vier Buchstaben gegen Ende des Wortes relativ hoch, was darauf hin- deutet, dass die Sakkaden bei kurzen Wortern zu lang sind. Ab Wortern mit funf oder mehr Buchstaben verschiebt sich die Verteilung der Fixationen nach links, also in den Bereich zwischen Wortbeginn und Wortmitte. Ausschlaggebend dafur, wo die ausgefuhrte Sakkade landet, ist die Position der vorherigen Fixation. McConkie et al. (1988) untersuchten dabei die Landepositionen in unterschiedlich langen Wortern und konnten Veranderungen in Abhangigkeit der Ausgangslage der Sakkaden feststellen. Demnach wird bei Sakkaden, die weiter links vom Ziel- wort beginnen auch die Verteilung der Landepositionen im entsprechenden Wort nach links verschoben.

2.2 Eye-Tracking

Augenbewegungen sind von auBen zwar wahrnehmbar, allerdings in ihrer Ge- samtheit und im Detail nur schwer zu fassen. So kann bei der Betrachtung einer Szene die grobe Richtung des Auges erfasst werden. Geht es allerdings darum, welcher genaue Punkt in der Ferne beobachtet wird, ist die Grenze der Wahrneh- mung von auBen erreicht. An diesem Punkt setzt das Eye-Tracking an, welches in der Lage ist samtliche Augenbewegungen eines Probanden aufzuzeichnen.

2.2.1 Methode

Da das Hauptaugenmerk in dieser Thesis auf der Textverarbeitung liegt, wird vor allem die aktuelle Leseforschung in den Mittelpunkt geruckt. Beim Lesen bewegt sich das Auge des Betrachters auf engstem Raum und es ist nahezu unmoglich Bewegungsmuster zu erkennen. Die Eye-Tracking Methode ermoglicht es buch- stabengenau und in Echtzeit die Bewegungen des Auges transparent zu machen. Im Folgenden wird die videobasierte Cornea Reflex Methode erlautert, welche im GroBteil der, in dieser Arbeit herangezogenen, Untersuchungen verwendet wird. Dabei handelt es sich um eine „nicht-invasive infrarotbasierte Videotechnik zur Aufzeichnung von Augenbewegungen“ (Bartl-Pokorny et al., 2013, S.193).

Zur Durchfuhrung der Cornea Reflex Methode wird lediglich eine Infra- rotlampe (die zum Beispiel oberhalb des Bildschirms angebracht ist) und eine Infrarotkamera benotigt. Nachdem man durch die Kalibrierung eine ausreichende Genauigkeit garantiert hat, zeichnet die Kamera die Augenbewegungen bzw. den Cornea Reflex auf. Dieser Effekt beschreibt die Spiegelung des Infrarotlichts auf der Hornhaut. Infrarotlicht ist fur das menschliche Auge nicht sichtbar und wirkt somit nicht storend auf den Probanden. Auf der Aufnahme wird die Pupille als dunkler Punkt, der Cornea Reflex als kleiner weiBer Punkt sichtbar (Blake, 2013). Je nach Stellung dieser beiden Punkte konnen kleinste Augenbewegungen erkannt werden. Entscheidend ist, dass sowohl die Pupille als auch der Cornea Reflex zu berucksichtigen sind, um zwischen reinen Augenbewegungen und Kopfbewegun- gen unterscheiden zu konnen. Wurde man lediglich die Pupille beobachten, ware es unmoglich nachzuweisen, ob es sich hierbei um eine Augenbewegung handelt, oder ob der Proband den Kopf bewegt hat (Duchowski, 2007).

Die aufgezeichneten Ergebnisse konnen in sogenannten Heatmaps oder Gaze Plots dargestellt werden (Rakoczi, 2012). Das Erstellen von Heatmaps ist vor allem beim Testen einer ganzen Homepage von Nutzen. Durch farbliche Ab- stufungen lasst sich erkennen, welche Bereiche vom GroBteil der Betrachter fi- xiert wurden. Diese Areale werden dabei beispielsweise rot eingefarbt. Gaze Plots stellen hingegen Blickpfade dar. Hier werden Sprunge der Augen mit Linien ver- anschaulicht welche einzelne Fixationspunkte miteinander verbinden, was vor allem in der Leseforschung hilfreich ist (Abbildung 3). Die GroBe dieser Fixati­onspunkte entspricht der jeweiligen Fixationsdauer (Rakoczi, 2012).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3. Beispiel eines Gaze-Plots (Radach et al., 2012, S. 187)

2.2.2 Geratetypen und Versuchsaufbau

Blake (2013) spricht allgemein von einer Einteilung der Geratetypen in stationare und mobile Systeme. Stationares Eye-Tracking geschieht in Form einer computer- ahnlichen Apparatur, welcher sich der Proband gegenubersetzt. Diese besteht aus einem Bildschirm mit integrierter Infrarotkamera und -lichtquelle (Blake, 2013). Je nachdem, ob der Kopf des Probanden beispielsweise durch eine Kinnstutze fixiert wird, oder er in seinen Bewegungsablaufen vollig frei ist, spricht man von einem tower-mounted oder einem remote, also beruhrungslosen System (Bartl- Pokorny et al., 2013). Wahrend stationare Eye-Tracker meist nur in Laboren ein- gesetzt werden konnen, sind mobile Eye-Tracker (head-mounted) in ihrer Anwen- dung flexibler. Sie sind meist auf Helmen oder anderen Kopfbedeckungen mon- tiert, oder direkt in Brillen eingebaut (Bartl-Pokorny et al., 2013; Blake, 2013).

In der Leseforschung bedarf es einer groBen raumlichen Genauigkeit, wes- halb es nahe liegt, dass eine Fixierung des Kopfes sinnvoll ware, was in zahlrei- chen Studien in Form von Kopf- und Kinnstutzen auch Verwendung findet. In Abbildung 4 wird ein Beispiel fur einen remote Eye-Tracker gezeigt. Unterhalb des Bildschirms befindet sich die Infrarotvideokamera, welche die Reflexion des Infrarotlichts (oberhalb des Bildschirms) auf der Hornhaut des Auges aufzeichnet. Auf der rechten Seite der Abbildung sind zur Veranschaulichung drei beispielhaf- te Szenarien des Cornea Reflexes dargestellt. Befindet sich der weiBe Reflexions- punkt genau auf der Pupille blickt der Proband in die Kamera. Sieht man den Cornea Reflex unterhalb bzw. oberhalb der Pupille blickt der Proband uber bzw. unter die Kamera.

2.3 Dyslexie

Die allgemeine Lese- und Rechtschreibstorung wird nach der ICD-10, der interna- tionalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) unter der Kodierungsziffer F81.0 eingeordnet. Dieses System wird von der Welt- gesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und definiert Dyslexie wie folgt:

The main feature is a specific and significant impairment in the develop­ment of reading skills that is not solely accounted for by mental age, visual acuity problems, or inadequate schooling. Reading comprehension skill, reading word recognition, oral reading skill, and performance of tasks re­quiring reading may all be affected. Spelling difficulties are frequently as­sociated with specific reading disorder and often remain into adolescence even after some progress in reading has been made. Specific developmen­tal disorders of reading are commonly preceded by a history of disorders in speech or language development. Associated emotional and behavioural disturbances are common during the school age period (World Health Or­ganization, 2010).

Somit handelt es sich bei Dyslexie um eine Schwache beim Erwerb von Lese- und Schreibfahigkeiten. Diese ist weder durch das geistige Alter, Probleme mit der Sehscharfe oder mangelhafte Bildung zu erklaren. Die Fahigkeit Gelesenes zu verstehen, Worter wiederzuerkennen und laut vorzulesen, sowie Leistungen bei Aufgaben, welche Lesefahigkeiten benotigen, konnen dabei betroffen sein. Dieses Defizit kann bis in das Erwachsenenalter reichen, selbst wenn zuvor Fortschritte gemacht wurden. Neben der Lese- und Rechtschreibstorung wird unter anderem zwischen einer Isolierten Rechtschreibstorung (F81.1), einer Rechenstorung (F81.2) oder einer kombinierten Storung schulischer Fertigkeiten (F81.3) unter- schieden (World Health Organization, 2010). Da sich diese Arbeit mit Blickbe- wegungen beim Lesen beschaftigt, wird im Folgenden der Schwerpunkt auf die- sen Bereich der Dyslexie gelegt und die Probleme bezuglich Rechtschreibung, sowie oralem Verstandnis vernachlassigt. Des Weiteren werden Formen der er- worbenen Dyslexie (acquired dyslexia), welche in Folge von Hirnschaden nach vollendetem Spracherwerb auftreten konnen, auBen vorgelassen und Dyslexie als Entwicklungsstorung (developmental dyslexia) in den Mittelpunkt gestellt.

2.3.1 Ursachen und Symptome von Dyslexie

Die Ursachen von Dyslexie sind noch immer nicht vollstandig geklart und konnen vielfaltig sein. Daher wird Dyslexie auch als „multi-system deficit“ bezeichnet (Habib, 2000, S. 2373). An erster Stelle spielen vor allem Vererbung, fehlerhafte Konnektivitat der Hirnstrukturen in der linken Hemisphare sowie eine gestorte phonologische Bewusstheit eine Rolle (Abbildung 5) (Schluer & Jokeit, 2007). Letzteres ist dabei eine sehr haufig auftretende Ursache und kann eine Folge der anderen beiden Faktoren sein. Die phonologische Bewusstheit beschreibt dabei die Fahigkeit, einzelne Buchstaben in ihre jeweiligen Laute umzuwandeln. Um die phonologische Bewusstheit zu prufen gibt es zahlreiche Tests. Beispiele hier- fur sind das Erkennen von Reimen (Reimen sich Haus und Maus?) oder das Zu- ordnen einzelner Buchstaben aus Wortern (Kommt in Haus ein „u“ vor?) (Schluer & Jokeit, 2007).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5. Vereinfachtes Ursachenmodell (Schluer & Jokeit, 2007, S. 17)

Im Gegensatz zu den Formen der erworbenen Dyslexie, welche nach dem voll- standigen Spracherwerb zum Beispiel in Folge eines Schlaganfalls auftreten kon- nen, handelt es sich bei der Entwicklungsdyslexie um eine Storung, welche den Schriftspracherwerb in seiner Effizienz und Automatisierung hemmt (Ziegler, Castel, Pech-Georgel, George, Alario & Perry, 2008). Mithilfe intensiver Forde- rung kann es zwar zu Verbesserungen kommen, allerdings bleibt einen lebenslan- gen Niveauunterschied bezuglich der Leseleistung zwischen Dyslexikern und normalen Lesern bestehen, weshalb die Bezeichnung „Entwicklungsstorung“ ge- rechtfertigt erscheint (Grosche, 2012).

Bei der Untersuchung von dyslexischen Schulern und Erwachsenen werden zahlreiche Schwierigkeiten beim lauten Lesen festgestellt. Die auftretenden Symptome werden in Tabelle 1 aufgefuhrt.

Tabelle 1. Auffalligkeiten bei der Lesestorung (nach Warnke, 2011)

Auffalligkeiten bei der Lesestorung

- Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufugen von Worten oder Worttei- len

- Verlangsamtes Lesetempo

- Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zogern und Verlieren der Zeile im Text

- Betontes Zusammenlesen einzelner Buchstaben bzw. Laute (Phoneme)

- Ungenaues Betonen beim lauten Vorlesen

- Vertauschen von Wortern im Satz oder von Buchstabenfolgen (Lautfolgen) in den Wortern

Neben diesen Problemen kann es aber auch zu Defiziten beim Leseverstandnis kommen. So konnen Dyslexiker Gelesenes oft nicht wiedergeben, keine Zusam- menhange herstellen oder Fragen zum Text nicht richtig beantworten (Warnke & Roth, 2000). Typische Symptome bei einer Rechtschreibstorung waren unter an- derem das Verdrehen von Buchstaben im Wort („b“ wird zu „d“, „u“ wird zu „n“) oder Verstellen der Buchstabenreihenfolge innerhalb eines Wortes (Roth & Warnke, 2001).

2.3.2 Diagnose von Dyslexie

Kinder werden nach dem ICD-10 als dyslexisch eingestuft, sofern die Leseleis- tung und Rechtschreibung unter dem Niveau liegt, das aufgrund des Alters (Al- tersdiskrepanzkriterium), der allgemeinen Intelligenz (IQ-Diskrepanzkriterium) und der Beschulung zu erwarten ist (Schulte-Korne & Remschmidt, 2003). Aus- schlusskriterien fur Dyslexie sind Seh- oder Horschwachen, sowie neurologische oder psychiatrische Storungen, welche das Erlernen der Lese- und Schreibfahig- keit negativ beeinflussen konnten. Dyslexie ist oftmals mit Begleiterkrankungen wie zum Beispiel Aufmerksamkeits- oder Hyperaktivitatsstorungen sowie emoti- onalen Storungen verbunden (Roth & Warnke, 2001).

Zur Diagnose werden individuell durchgefuhrte standardisierte Testverfah- ren eingesetzt, welche die Lesegeschwindigkeit, die Lesegenauigkeit sowie das Leseverstandnis prufen. Die Normierung der Tests sollte dabei nicht langer als zehn Jahre zuruckliegen. Dasselbe gilt fur die Uberprufung der Rechtschreibfa- higkeit (Schulte-Korne, 2010). Neben den Messungen zur Lese- und Recht- schreibleistung muss aber auch die kognitive Fahigkeit erfasst werden. Ein sehr gangiges Testverfahren zur Ermittlung des IQs ist der Hamburg-Wechsler- Intelligenztest, welcher sowohl bei der Untersuchung von Kindern als auch bei Erwachsenen angewendet wird (Schulte-Korne, 2010). Die Ergebnisse aus diesen Tests, werden mit denen von Kindern aus der gleichen Klassenstufe verglichen um entsprechende Unterschiede zu erkennen. Besteht eine Diskrepanz von ein bis zwei Standardabweichungen zwischen der, aufgrund von Alter und Intelligenz, zu erwartenden Lese- und Rechtschreibleistung und der tatsachlichen Leistung des Kindes, wird eine Lese- und Rechtschreibstorung diagnostiziert (Schulte-Korne, 2011). Im GroBteil der, in dieser Arbeit, verwendeten Studien ist ein IQ von 85 oder hoher ein Kriterium zur Einbeziehung in die Untersuchungen (z.B. Diirr- wachter, Sokolov, Reinhard, Klosinski & Trauzettel-Klosinski, 2010).

2.4 Lesen und Wortverarbeitung

Nachdem das Krankheitsbild der Dyslexie erlautert wurde, wird im Folgenden der Vorgang des Lesens und der Wortverarbeitung genauer beleuchtet. Hierbei wird auf das Dual Route Cascaded Modell (Coltheart, Curtis, Atkins & Haller, 1993) eingegangen und dieses anschlieBend mit den einzelnen Dyslexieformen in Ver- bindung gesetzt.

2.4.1 Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln

Der Begriff Graphem beschreibt die grafischen Einheiten der Sprache, also ein- zelne Buchstaben oder Buchstabengruppen. Buchstaben sind dabei „visuelle Abs- traktionen phonologischer Informationen“ (Grosche, 2012, S. 20). Die Schwierig- keit bei den Prozessen des Lesens und Schreibens ist zum einen, dass sich Pho­neme, also Laute, in einem Wort anders anhoren konnen als die enthaltenen Buch­staben an sich (Grosche, 2012). Umgekehrt betrachtet kann ein bestimmtes ge- sprochenes Wort auf unterschiedliche Art und Weise geschrieben werden. De Bleser (2006) greift hier das Beispiel „Saal“ auf. Wahrend man das geschriebene Wort aufgrund des Doppelvokals „aa“ mit einem langgezogenen „a“ ausspricht, konnte es orthographisch alternativ ebenso als „Sal“ oder „Sahl“ dargestellt wer- den. Dieses Zusammenspiel von Schrift und Lauten wird als Graphem-Phonem- Korrespondenz bezeichnet. Es sollte im Idealfall automatisiert ablaufen und ist entscheidend fur den Schriftspracherwerb (Schluer & Jokeit, 2007). Beim Lesen von unbekannten Wortern oder gar Pseudowortern wird die phonologische Reko- dierung eingesetzt. Pseudoworter sind dabei oft aussprechbare Buchstabenfolgen, welche in der jeweiligen Sprache jedoch nicht existieren (Neologismen). Die pho- nologische Rekodierung bedarf der Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln, um den jeweiligen Schriftzeichen die entsprechenden Laute zuordnen zu konnen (Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2007).

Es lassen sich bezuglich der Graphem-Phonem-Regeln Unterschiede in verschiedenen Sprachen erkennen. Englisch oder Franzosisch gelten als sehr un- durchsichtige Sprachen. Hier sind die Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln sehr komplex und schwer zu erlernen, was vor allem durch die groBe Anzahl an unregelmaBigen Wortern und Wortern, die bei gleicher oder ahnlicher Aussprache eine unterschiedliche Bedeutung haben (Homophone), bedingt ist (De Luca, Bo- relli, Judica, Spinelli & Zoccolotti, 2002). Im Gegensatz dazu sind Sprachen wie Deutsch oder Italienisch sehr transparent. Das bedeutet diese Sprachen weisen eine hohere Graphem-Phonem-Regularitat auf und sind damit fur Leseanfanger leichter zu erlernen (Klicpera et al., 2007). Moll et al. (2005) veranschaulichen diesen Sachverhalt anhand folgenden Beispiels: der Vokal „a“ wir in den deut- schen Wortern „Ball“, „Garten“ und „backen“ gleich ausgesprochen, wahrend das in den englischen Wortern „ball“, „garden“ und „bake“ nicht der Fall ist.

2.4.2 Zwei-Wege-Modell: Dual Route Cascaded Model

Die grundsatzlichen Prozesse und Komponenten fur den Lesevorgang ergeben sich wie folgt: Zunachst muss der Leser die Bestandteile eines Wortes, also die Buchstaben erkennen und anschlieBend von der Schreibweise des Wortes, der Orthographie auf die Aussprache (Phonologie) schlieBen (Friederici & Lachmann, 2002). Die Zwischenschritte der Analyse des Wortes uber die Orthographie bis hin zur Aussprache werden in zahlreichen Modellen veranschaulicht. Im Folgen- den wird der Prozess mit Hilfe des Dual Route Cascaded Model (DRC) von Col- theart et al. (1993) veranschaulicht. Die Autoren sprechen von einer lexikalischen und einer sub-lexikalischen Route der Verarbeitung beim (lauten) Lesen. Es wird somit entweder auf einem direkten Weg (top-down) oder einem indirekten Weg (bottom-up) auf Worter zugegriffen (Klicpera et al., 2007).

Gelernte und bekannte Worter werden als Eintrage in einem mentalen Lexikon gespeichert. Beim Lesen solcher Worter, kann uber das orthographische Lexikon die jeweilige Representation der gelesenen Buchstabenfolge abgerufen und korrekt ausgesprochen werden. Dieser Vorgang beschreibt die lexikalische Route der Wortverarbeitung. Der Leser kann gelernte sowie unregelmaBige Worter (welche von der Aussprache uber die Buchstaben-Laut-Zuordnung abweichen) lesen, ist jedoch nicht in der Lage, Pseudoworter zu verarbeiten. Da diese Worter nicht erlernt wurden und somit auch keinen Eintrag im orthographischen Lexikon verzeichnen, ist eine Verarbeitung uber die lexikalische Route nicht moglich. Jene Pseudoworter konnen jedoch uber die sublexikalische Route erschlossen werden. Bei der sublexikalischen Route besteht die Moglichkeit, uber die Umwandlung von Graphemen zu Phonemen auf die Aussprache zu schlieBen. Der Leser kann somit Pseudoworter aussprechen, solange sie den sogenannten Graphem-Phonem-Regeln (siehe 2.2.1) folgen. Da bei dieser Route allerdings kein Zugriff auf das mentale Lexikon moglich ist, kommt es zu Fehlern bei unregelmaBigen Wortern, sogenannten Ausnahmewortern. Das Lesen von regelmaBigen Worten uber die sublexikalische Route ist im Allgemeinen zwar moglich, dauert allerdings langer als uber die direkte Route.

[...]


1 In der Thesis wird anstelle des deutschen Begriffs Legasthenie die international gangige Be- zeichnung der Dyslexie verwendet. Dabei umfasst der Begriff im speziellen nur die entwicklungs- bedingte Dyslexie und nicht, die mit ihm haufig in Verbindung gebrachte, erworbene Dyslexie.

Ende der Leseprobe aus 56 Seiten

Details

Titel
Augenbewegungen von Dyslexikern beim Lesen und Implikationen für E-learning Umgebungen
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Mensch-Computer-Medien)
Veranstaltung
Arbeitsbereich Instruktionspsychologie und Neue Medien
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
56
Katalognummer
V510045
ISBN (eBook)
9783346078056
ISBN (Buch)
9783346078063
Sprache
Deutsch
Schlagworte
E-learning, Instruktionspsychologie, Neue Medien, Dyslexie, Okulomotorik, Eye-Tracking, Legasthenie
Arbeit zitieren
Andrea Anetzberger (Autor:in), 2014, Augenbewegungen von Dyslexikern beim Lesen und Implikationen für E-learning Umgebungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/510045

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