Frühe Entstehungsgeschichte und Bedeutung der gesetzlichen Unfallversicherung.


Hausarbeit, 2020

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historische Entwicklung und Hintergründe der gesetzlichen Unfallversicherung
2.1 Die Arbeitsbedingungen im produzierenden Gewerbe zu Zeiten der Industrialisierung (1850 – 1914)
2.2 Historischer Hintergrund einer Versicherung gegen Arbeitsunfälle
2.2.1 Politische Diskussionen über die Einführung einer Unfallversicherung
2.2.2 Die Kaiserliche Botschaft und das Unfallversicherungsgesetz
2.2.3 Leistungsumfang der gesetzlichen Unfallversicherung zur damaligen Zeit – Schwerpunkt Prävention
2.3 Die Gewerbeinspektion am Beispiel von Marie Baum
2.4 Die Bedeutung der Einführung von Sozialversicherungen, speziell der Unfall-versicherung, für die Armenfürsorge der damaligen Zeit

3. Die gesetzliche Unfallversicherung und ihr Bezug zur Sozialen Arbeit in der heutigen Zeit
3.1 Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession – Grundideen nach Silvia Staub-Bernasconi
3.2 Das Leistungsspektrum der gesetzlichen Unfallversicherung heutzutage
3.3 Die Rolle der Sozialen Arbeit in unserem Gesundheitswesen und mögliche Konflikte
3.4 Körperliche und psychosoziale Risiken im Vergleich

4. Fazit

Literaturverzeichnis

Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

Fakultät Wirtschaft und Soziales

Department Soziale Arbeit

Modul 1: Einführung in die Soziale Arbeit

Semester: 1

Frühe Entstehungsgeschichte und Bedeutung der gesetzlichen Unfallversicherung.

Von prekären Verhältnissen zu Zeiten der Industrialisierung zu einem sinnvollen Versorgungssystem in der heutigen Zeit?

Hausarbeit

Tag der Abgabe: 19. Februar 2020

vorgelegt von: Nadja Wittig

1. Einleitung

Mit dieser Hausarbeit soll zunächst die Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Unfallversicherung im Kontext der Industrialisierung und der prekären Lage von Arbeitnehmer*innen zu der damaligen Zeit beleuchtet werden. Hierbei soll der Zeitraum von 1850 bis 1914 im Fokus stehen.

Nach einem Arbeitsunfall drohte Arbeitnehmer*innen häufig die Kündigung, was sehr oft zu Armut führte. Vor diesem Hintergrund soll in der vorliegenden Ausarbeitung die Bedeutung der Armenpflege- und Fürsorgeeinrichtungen in der Gesellschaft zu Zeiten der Industrialisierung betrachtet werden.

In dieser Hausarbeit soll unter anderem auf die Unfallprophylaxe ein besonderes Augenmerk gelegt werden. In diesem Zusammenhang wird die Tätigkeit der Gewerbeinspektor*innen am Beispiel von Marie Baum beschrieben.

Heutzutage haben sich die Arbeitsbedingungen und der Arbeitsschutz in Deutschland grundlegend verbessert, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich zum Positiven verändert. Ein Grund hierfür ist die gesetzliche Unfallversicherung, die sich stetig weiterentwickelt hat. Sie umfasst ein breites Leistungsspektrum, in das auch die Soziale Arbeit eingebunden ist. Inwiefern das der Fall ist, wird in dieser Hausarbeit dargestellt.

Ein Gegenstandsverständnis zur Profession der Sozialen Arbeit wurde durch Silvia Staub-Bernasconi erarbeitet, nämlich das der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession. Gerade das Recht aller Menschen auf Soziale Sicherung spielt im Zusammenhang mit den Leitfragen dieser Ausarbeitung eine entscheidende Rolle. In dieser Hausarbeit soll der Bezug zu dem Gegenstandsverständnis Staub-Bernasconis hergestellt werden.

Zusammenfassend beschäftige ich mich in dieser Seminararbeit mit der Beantwortung der Leitfrage „Wie ist die gesetzliche Unfallversicherung entstanden und welche Auswirkungen hat(te) sie in der Zeit der Industrialisierung sowie heutzutage auf die Profession der Sozialen Arbeit bzw. früherer Fürsorgesysteme in Deutschland?“.

Zur Behandlung der Fragestellung habe ich Fachliteratur sowie Quellen aus dem Internet benutzt. Schlussendlich fasse ich meine wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse in einem Fazit zusammen.

2. Historische Entwicklung und Hintergründe der gesetzlichen Unfallversicherung

2.1 Die Arbeitsbedingungen im produzierenden Gewerbe zu Zeiten der Industrialisierung (1850 – 1914)

Beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat im Deutschen Bund ein grundlegender Wandel sowohl in gesellschaftlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht stattgefunden. Die Anzahl der Fabriken, vor allem in den Bereichen Bergbau und der Eisen- und Stahlverarbeitung, stieg vor allem in den Jahren 1855 bis 1873 enorm an. Entsprechend viele Arbeitskräfte wurden zur Bewältigung des Arbeitsaufwandes benötigt. (Vgl. Bresky / Vogel-Janotta / Breuer 2010, 4). Dies hatte einerseits die Schaffung von vielen neuen Arbeitsplätzen zur Folge, was aufgrund des Bevölkerungswachstums dringend notwendig war, zum anderen verließen viele Arbeiter*innen ihre bisherigen Branchen, wie zum Beispiel die Landwirtschaft oder das Handwerk, um in Fabriken zu arbeiten (vgl. DGUV 2010).

Dort mussten sie schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten in Kauf nehmen. Vor allem letzteres führte zu einer erheblichen körperlichen Erschöpfung der Arbeitnehmer*innen und einer damit einhergehenden gestiegenen Unfallgefahr. (Vgl. Bresky / Vogel-Janotta / Breuer 2010, 4). Noch dazu hatte sich „die Unfallgefahr durch Vermehrung der gewerblichen Arbeiter und zunehmenden Einsatz von Maschinen stark erhöht“ (Ritter 1983, 30). Entsprechend bestand eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit und auch das Leben der Arbeiter*innen.

„Die elenden Lebensbedingungen einer rasch wachsenden Arbeiterschaft [wurden] zur beherrschenden sozialen Frage der Zeit“ (DGUV 2010). Laut Helmut Lambers ist sogar „ein Teil der Bevölkerung existenziell durch die Industrie zerrüttet“ worden (Lambers 2018, 115). Anhand dieser Aussagen lässt sich schlussfolgern, dass sich die Lage immer weiter zuspitzte und soziale Veränderungen zugunsten der Fabrikarbeiter*innen an Dringlichkeit gewannen.

2.2 Historischer Hintergrund einer Versicherung gegen Arbeitsunfälle

Bereits 1871, kurz nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches, wurde das Reichshaftpflichtgesetz erlassen, das einen ersten Ansatz zum Schutz der Arbeitnehmer*innen enthielt. Dieses versprach Arbeiter*innen eine Entschädigung im Falle eines Arbeitsunfalls. Es beinhaltete jedoch eine maßgebliche Einschränkung: „Nach diesem Gesetz [konnte] nur dann ein Anspruch auf Entschädigung [geltend gemacht werden], wenn der Nachweis erbracht werden konnte, daß der Unternehmer oder einer seiner Bevollmächtigten den Unfall verschuldet hatten“ (Ritter 1983, 30). Dieser Nachweis erwies sich für Arbeitnehmer*innen als außerordentlich schwierig, da der Zustand einer Betriebsstätte oder -einrichtung vor dem Unfall im Nachhinein kaum ermittelt werden konnte und sich mögliche Zeug*innen aus Angst vor zivil- und strafrechtlichen Folgen in ihren Aussagen oftmals zurückhielten (vgl. ebd., 30 f.). Lediglich circa 20 Prozent der Verunfallten haben nach meist langwierigen Verfahren eine Entschädigung erhalten (vgl. Bresky / Vogel-Janotta / Breuer 2010, 4).

Nach einem Arbeitsunfall drohte den Betroffenen zumeist die Kündigung und damit einhergehend die Armut (vgl. DGUV 2010). Dieser Zustand war unhaltbar und sorgte für eine wachsende Unzufriedenheit der Fabrikarbeiter*innen. Die Sozialdemokratie beschäftigte sich mit den problematischen Gegebenheiten und übernahm – unter anderem in dieser Hinsicht – die Interessenvertretung der Arbeiterschaft. (Vgl. Bresky / Vogel-Janotta / Breuer 2010, 4). Im weiteren Verlauf der Zeit sollte dann durch den Reichskanzler Otto von Bismarck eine Versicherung gegen Arbeitsunfälle eingeführt werden, worauf in den nächsten Gliederungspunkten eingegangen wird.

2.2.1 Politische Diskussionen über die Einführung einer Unfallversicherung

Wie bereits oben erwähnt, befasste sich die sozialdemokratische Politik zur damaligen Zeit mit den beschriebenen Problemen der Arbeiterschaft. Das „frühkapitalistische, obrigkeitsstaatliche System des Kaiserreichs“ (Von Alemann 2018) bezweckte eine Förderung des Arbeitnehmerwohls, um der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung die Argumente zu nehmen und die Bindung der Bürger*innen an den Staat zu stärken (vgl. Bresky / Vogel-Janotta / Breuer 2010, 5). Die Zufriedenheit der Reichsbürger*innen sollte somit gestärkt und das Vertrauen in den Obrigkeitsstaat gefestigt bzw. zurückerlangt werden. Daraus lässt sich schließen, dass Bismarck „nach einem Mittel [suchte], die soziale Frage zu entspannen“ (DGUV 2010).

Auch durch einige Unternehmer*innen wurde die Schaffung einer Versicherung gegen Arbeitsunfälle vorgeschlagen. Die Bedingungen hierfür, wie beispielsweise die Art der Finanzierung und die Möglichkeiten eines Eingriffs durch den Staat, waren jedoch oft unklar. Größtenteils sprachen sich die Fabrikbesitzer*innen aus Kostengründen für eine arbeitnehmerfinanzierte Versicherung aus. Reichskanzler Bismarck plädierte indes für eine öffentlich-rechtliche Lösung, bei denen die Arbeitgeber*innen und der Staat die Kosten übernehmen sollten. Einigkeit bestand jedoch über die grundsätzliche Einführung einer entsprechenden Versicherung. (Vgl. Bresky / Vogel-Janotta / Breuer 2010, 5).

Der erste Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes kam in der Thronrede von Otto von Bismarck vom 15. Februar 1881 zur Sprache. Diese Rede ist im Band 12 der Gesammelten Werke von Otto von Bismarck, erschienen 1929, auf den Seiten 186 folgende abgedruckt. (Vgl. Ritter 1983, 28). Hierbei spiegelt sich die oben beschriebene Absicht des Staates, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung einzudämmen, wider. Der Gesetzesentwurf wurde als eine „Vervollständigung der Gesetzgebung zum Schutze gegen sozialdemokratische Bestrebungen“ (Bismarck 1929, 186 f.; zit. n. Ritter 1983, 28) betitelt. Bismarck erhoffte sich durch das Gesetz eine Versöhnung des Staates mit der Arbeiterschaft und eine Abschwächung revolutionärer Impulse. Dies geht aus einem Gespräch zwischen Bismarck und dem Schriftsteller Dr. Moritz Busch vom 21. Januar 1881 hervor, welches im Band 8 der Gesammelten Werte von Otto von Bismarck auf der Seite 396 zu finden ist (vgl. Ritter 1983, 28).

Durchsetzen konnte sich der Entwurf aus dem Jahr 1881 jedoch nicht: „Der erste Gesetzesentwurf [...] scheiterte – vor dem Hintergrund der intensiven Diskussionen um die Ausgestaltung. Doch schon bald erhielt Bismarcks Initiative durch die ‚Kaiserliche Botschaft‘ [eine neue Bedeutung].“ (Bresky / Vogel-Janotta / Breuer 2010, 5).

2.2.2 Die Kaiserliche Botschaft und das Unfallversicherungsgesetz

Dass die damalige Situation nicht mehr länger tragbar war, lässt sich aus den vorangegangenen Ausführungen unschwer entnehmen. Durch den sich nach wie vor vollziehenden ökonomischen Strukturwandel stieg die Anzahl der Arbeitnehmer*innen im produzierenden Gewerbe weiter an (s.o.), Arbeitssicherheit war kaum gegeben und die Unzufriedenheit wuchs. Der Staat war demzufolge gezwungen, greifbare Veränderungen herbeizuführen.

Angekündigt wurden diese Veränderungen in der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, die Bismarck anstelle des erkrankten Kaisers Wilhelm I. im Berliner Schloss verlas. Arbeitnehmer*innen sollten zukünftig neben einer Unfall- auch eine Kranken- und Rentenversicherung erhalten. (Vgl. Bresky /Vogel-Janotta / Breuer 2010, 5).

Schlussendlich fand ein überarbeiteter Gesetzesentwurf zur Unfallversicherung Anklang:

„Träger der Unfallversicherung sollten jetzt die öffentlichrechtlichen ‚Unternehmer-‘ oder ‚Berufsgenossenschaften‘ sein, in denen die Unternehmer der versicherten Betriebe zusammengeschlossen waren. Den von Bismarck dringend gewünschten Staatszuschuß gab es nun nicht mehr.“ (Stolleis 2003, 82).

In seiner vollständigen Form trat das Unfallversicherungsgesetz am 1. Oktober 1885 in Kraft, zunächst beschränkt auf die „in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Steinbrüchen, Gräbereien (Gruben), auf Werften und Bauhöfen sowie in Fabriken und Hüttenwerken beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten“ (§ 1 Unfallversicherungs-gesetz in der Fassung vom 06.07.1884; zit. n. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 637). Nach und nach wurde das Gesetz auf weitere Betriebsarten ausgedehnt (vgl. Stolleis 2003, 82).

Zusammen mit der Kranken- und Rentenversicherung wurde somit der Grundstein für ein soziales Sicherungssystem gelegt, welchem bis heute eine enorme Relevanz zuteilwird.

2.2.3 Leistungsumfang der gesetzlichen Unfallversicherung zur damaligen Zeit – Schwerpunkt Prävention

Im kommenden Abschnitt soll das Leistungsspektrum der gesetzlichen Unfallversicherung in ihrer damaligen Fassung erläutert werden.

Damals wie heute hatte besonders der Aspekt der Unfallverhütung eine große Bedeutung. Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich herleiten, dass das seinerzeit bestehende Armenfürsorgesystem durch eine steigende Anzahl von Personen, die aufgrund eines Unfalls aus dem Arbeitsleben ausscheiden mussten, sehr stark belastet wurde. Folglich erscheint es plausibel, dass der Grundstein für eine Verbesserung der sozialen Situation durch eine entsprechende Unfallprophylaxe gelegt werden konnte.

Der erste Präsident des Reichsversicherungsamtes, Tonio Bödiker, unterstrich die Relevanz einer Schadenverhütung, indem er diese „immer mehr zur Seele der Unfallversicherung machen“ wollte (Kaufmann 1941, 81 ff.; zit. n. Tennstedt 1981, 176). Realisiert wurde dieses Konzept durch Berufsgenossenschaften, deren Gründung im Unfallversicherungsgesetz vorgeschrieben war. Der Paragraph 9, Absatz 1 postulierte:

„Die Versicherung erfolgt auf Gegenseitigkeit durch die Unternehmer der unter § 1 fallenden Betriebe (Anm.: s.o.), welche zu diesem Zweck in Berufsgenossenschaften vereinigt werden. Die Berufsgenossenschaften sind für bestimmte Bezirke zu bilden und umfassen innerhalb derselben alle Betriebe derjenigen Industriezweige, für welche sie errichtet sind.“ (§ 9 Unfallversicherungsgesetz in der Fassung vom 06.07.1884; zit. n. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 641).

Darauf aufbauend kam es zur Gründung eines organisierten „Verbands der Deutschen Berufsgenossenschaften“ (Tennstedt 1981, 177). Gemeinsam mit dem Reichs-versicherungsamt wurden einheitliche Vorschriften zur Unfallverhütung erarbeitet sowie privat kontrollierende technische Aufsichtsbeamt*innen angestellt (vgl. ebd.). Da die von den Unternehmer*innen zu leistenden Beiträge unter anderem von Gefährdungsklassen abhingen und bei Nichteinhaltung der Verhütungsvorschriften Geldstrafen drohten, wurden die Regelwerke allmählich eingeübt. Letztendlich konnte tatsächlich eine Reduzierung der Unfallzahlen herbeigeführt werden. (Vgl. Stolleis 2003, 83).

Neben den Maßnahmen zur Schadenverhütung leistete die gesetzliche Unfallversicherung Leistungen in Form von Begräbniskosten und Hinterbliebenenrente im Todesfall, Lohnausfall und Arztkosten bei Arbeitsunfähigkeit sowie Renten bei Invalidität (vgl. Tennstedt 1981, 176).

2.3 Die Gewerbeinspektion am Beispiel von Marie Baum

Es ist anzunehmen, dass die von den Berufsgenossenschaften erarbeiteten Verordnungen zur Unfallverhütung nicht unverzüglich von den Fabrikbesitzer*innen umgesetzt worden sind. Es mussten also Möglichkeiten gefunden werden, die Einhaltung der Vorschriften zu überwachen.

Dies wurde zum einen durch die oben benannten Aufsichtsbeamt*innen der Berufs-genossenschaften realisiert, welche vornehmlich mit der Überprüfung der technischen Facetten des Arbeitsschutzes betraut waren. Zum anderen wurde im Jahr 1891 die Gewerbeaufsicht ins Leben gerufen, die sich vor allem auf die Beschäftigungsrichtlinien von Frauen, Kindern und Jugendlichen konzentriert hat. (Vgl. TÜV Rheinland o. J.). Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete Marie Baum, welche als eine der "Wegbereiterinnen der modernen Sozialarbeit" (Eggemann / Hering 1999, Titelseite) bezeichnet wird und zukünftig sowohl für die Profession der Sozialen Arbeit als auch für die Gründung unserer Hochschule eine wichtige Rolle spielen sollte.

Baum übernahm im Jahr 1902, „als Nachfolgerin von Else von Richthofen, die Aufgabe einer Gewerbeinspektorin in Baden“ (Paulini 1999, 205). Sie war landesweit für die Revision von „Betrieben, in denen überwiegend Arbeiterinnen beschäftigt [wurden] sowie für die Zigarren- und Konfektionsindustrie“ (vgl. ebd.) zuständig. Angesichts der bisherigen Ausarbeitungen überrascht es nicht, dass Baum katastrophale Zustände entdeckt hat:

„Am schwersten waren meine Gänge, wenn sie in die großstädtischen Mittelpunkte von Industrien führten. [...] Die Arbeitszeit der Jugendlichen betrug ausschließlich Pausen 10 Stunden; für die erwachsenen Männer gab es keinen Maximalarbeitstag, so daß man in den Sägewerken der Nebentäler noch auf 14stündige Schichten stoßen konnte; die Arbeitszeit der Frauen wurde gerade um jene Zeit von 12 auf 11 Stunden herabgesetzt. Für die Verheirateten, auf die zu Hause noch eine zweite Last wartete, verstärkte sich der Druck täglich sich wiederholender Überanstrengung in einem Maße, daß man sie auf den ersten Blick aus einer Schar von Arbeiterinnen heraussondern konnte.“ (Baum 1950, 101 f.).

Dieses Zitat schildert die Verhältnisse zur damaligen Zeit sehr anschaulich. Wie es scheint, sind die Schutzmaßnahmen, zumindest was die Arbeitszeiten von Fabrikangestellten anging, kaum in der Praxis umgesetzt worden; obwohl bereits 1873 durch Friedrich Wilhelm Fritzsche, einem Gewerkschafter und Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, eine Beschränkung der Arbeitszeit von Männern, Frauen und Kindern gefordert wurde. Diese Forderung ist in einem Artikel von Fritzsche in der Zeitung "Der Botschafter" aus dem Jahr 1873 zu finden1. Nachzulesen ist diese Tatsache in der Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, erschienen im Jahr 1996, auf der Seite XIX (Einleitung).

Nachdem Marie Baum in ihrer Arbeit als erste weibliche Fabrikinspektorin immer häufiger Unterdrückung vom männlichen Geschlecht ertragen musste, zog sie nach circa vier Jahren die Konsequenzen und bat um ihre Entlassung aus dem Staatsdienst (vgl. Paulini 1999, 206).

Anhand Baums Schilderungen lässt sich unschwer vermuten, dass die elenden Arbeits-bedingungen und die damit verbundene sowohl körperliche als auch seelische Erschöpfung der Angestellten die Unfallgefahr und die Gefahr, seine Tätigkeit aufgrund körperlicher Gebrechen nicht mehr ausführen zu können, drastisch ansteigen ließ.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Das genaue Datum und die Nummer der Ausgabe sowie die Seitenzahl sind unbekannt. Daher habe ich diese Zeitung auch nicht im Literaturverzeichnis aufgelistet. Das indirekte Zitat wurde aus der im Literaturverzeichnis belegten Quellensammlung entnommen.

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Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Frühe Entstehungsgeschichte und Bedeutung der gesetzlichen Unfallversicherung.
Hochschule
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
25
Katalognummer
V539558
ISBN (eBook)
9783346166791
ISBN (Buch)
9783346166807
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unfallversicherung, Sozialversicherung, Geschichte der Sozialen Arbeit, Gegenstand und Funktion, Menschenrechtsprofession, Menschenrechte, Bismarck, Staub-Bernasconi, Marie Baum, Gewerbeinspektor, Industrialisierung, Arbeitsunfälle, Wohlfahrtspflege, Wohlfahrtssystem, Deutsches Kaiserreich
Arbeit zitieren
Nadja Wittig (Autor:in), 2020, Frühe Entstehungsgeschichte und Bedeutung der gesetzlichen Unfallversicherung., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539558

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