Das Leben des elsässischen Dichters Yvan Goll, gebürtig Isaac Lang, liest sich wie die immerwährende Flucht eines seiner Herkunft entfremdeten Künstlers, welcher sich, von einem grundlegenden Gefühl der „Heimatlosigkeit“ gezwungen und, das wird zur Frage stehen, getrieben sah, in seiner Existenz, ebenso wie in seinen literarischen Bestrebungen von „Exil“ zu „Exil“ zu wandern. Das wohl am meisten zum Thema seiner Heimatlosigkeit bemühte Zitat über und von Yvan Goll ist die mystische Selbstkategorisierung und de-personalisierte Kurzbiographie, die der Dichter über sich selbst in Kurt Pinthus‘ Anthologie ‚Menschheitsdämmerung‘ von 1920 angab: „Iwan Goll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch als Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.“
Bereits aus diesem Selbstzeugnis eines hin- und hergerissenen zweisprachigen Dichters zwischen den modernen Avantgarden Europas „spricht das unbesiegbare Gefühl der Heimatlosigkeit“ in dem für Goll typischen Spannungsfeld der Bilingualität beziehungsweise des Sprach- und Kulturdualismus‘ zwischen Deutsch und Französisch.
Im Kontext der schweren kriegerischen Erschütterungen Europas durch den Ersten Weltkrieg und „der Sinnkrise […], die den geistigen Hintergrund um die Jahrhundertwende bildet“ sah Goll, seine menschliche Unbehaustheit nicht nur als Folge der
prägenden kriegerischen Ereignisse, sondern empfand deren Ursache als innerhalb der Determinierung seiner jüdischen Existenz mythologisch angelegt.
Der Begriff Diaspora stellte, sozio-historisch auf Golls kulturelle Herkunft bezogen keinen Ausnahmezustand dar. Wichtig ist jedoch, diese Exilsituation nicht als ausschließlich negative Bürde zu begreifen, welche sich Goll durch sein „Jüdisch-Sein“ auferlegt sah, sondern viel mehr zu erkennen, dass für den Dichter die Determiniertheit der Existenz als Exil grundlegend in der Realität einer unverbrüderten Welt, bestimmt durch nationale Grenzen und der durch sie bedingten Konflikte, begründet erschien. Der Position des Exilanten wohnt aus der Sicht des Dichter somit auch die Möglichkeit inne, gesamt-europäische
Zusammenhänge aus einer objektivierten Perspektive zu betrachten. Sein Judentum ließ in das Ausgeschlossen-Sein aus diesen sich gegenseitig negierenden Weltteilen der nationalen Interessen – gespiegelt ja bereits im Zwiespalt seiner elsässischen Herkunft – bereits früh begreifen und als signifikant für die gedankliche Ausrichtung seines dichterischen Werks adaptieren.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einführung
- 1.1. Ein Leben im immerwährenden Exil
- 1.2. Grundtendenzen im Expressionismus und deren Dialektik
- 2. Analyse verschiedener Werkbeispiele im expressionistischen Kontext
- 2.1. Appell an die Kunst – 1917
- 2.2. Brief an den verstorbenen Dichter Apollinaire – 1919
- 2.3. Über Kubismus - 1920
- 2.4. Abkehr und Bruch mit der expressionistischen Gesinnung
- 2.4.1. Zenitistisches Manifest - 1921
- 2.4.2. Der Expressionismus stirbt – 1921
- 3. Fazit – Der Heimatlosigkeitstopos als a-historisches Konstrukt
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Rolle des Heimatlosigkeit-Topos im Werk des elsässischen Dichters Yvan Goll im Kontext des Expressionismus. Die Arbeit analysiert, inwiefern Golls Gefühl der Entwurzelung, das durch seine jüdische Herkunft, sein Leben als Exilant und seine sprachliche und kulturelle Zweisprachigkeit geprägt war, einen Einfluss auf sein Werk und seine künstlerische Entwicklung hatte.
- Yvan Golls Gefühl der Heimatlosigkeit als Folge seiner multiplen Identitäten
- Der Einfluss des Heimatlosigkeit-Topos auf Golls Werk und seine Rolle in verschiedenen Avantgarde-Bewegungen
- Die Beziehung zwischen Golls künstlerischer Praxis und den politischen und kulturellen Umbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts
- Die Rolle des Expressionismus und anderer Ismen im Werk Golls
- Die kritische Auseinandersetzung mit Golls Position als Wegbereiter der europäischen Avantgarde
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet Golls Leben als Exilant und beleuchtet den Einfluss seiner Herkunft und seiner Zweisprachigkeit auf seine künstlerische Entwicklung. Kapitel 2 untersucht verschiedene Texte Golls im Kontext des Expressionismus und analysiert, wie Golls Gefühl der Heimatlosigkeit in diesen Werken zum Ausdruck kommt. Das Kapitel betrachtet auch die Entwicklung des Expressionismus und Golls zunehmenden Abstand von dieser Strömung.
Schlüsselwörter
Yvan Goll, Heimatlosigkeit, Expressionismus, Avantgarde, Exil, Zweisprachigkeit, Jüdische Identität, Sprach- und Kulturdualismus, Kunst und Künstlertum, Ismen, Europäische Moderne, dialektische Kunstströmungen, kosmopolitische Avantgarde-Bewegung.
- Arbeit zitieren
- Lucas Kazzer (Autor:in), 2016, Der Heimatlosigkeit-Topos in Yvan Golls Werk als Basis einer gesamteuropäischen Avantgarde-Bewegung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/541161