Entwicklung und Erprobung eines Konzeptes zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit ADHS in der Jahrgangsstufe 5 an Hauptschulen


Examensarbeit, 2006

47 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung
1.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit
1.2 Aufbau der Arbeit

2 ADHS – Was ist das eigentlich?
2.1 Ursachen für ADHS
2.2 Prävalenz
2.3 Diagnostik
2.4 Behandlungsmöglichkeiten

3 Tim braucht Hilfe – ein Konzept um Hilfestellung zu geben
3.1 Ausgangssituation – Unterricht mit Tim
3.2 Fördermaßnahmen
3.2.1 Arbeitsplatzgestaltung
3.2.2 Klare Strukturen und Konsequenz
3.2.3 Vorhersehbarkeit und Hineindenken in ein Thema
3.2.4 Umgang mit Unterrichtsstörungen
3.2.5 Bündelung der Aufmerksamkeit
3.2.6 Nutzung der Konzentrationsphasen
3.2.7 Bewegungsanlässe schaffen
3.2.8 Positive Eigenschaften nutzen
3.2.9 Arbeitsorganisation planen
3.3 Zusammenfassung des Konzeptes

4 Evaluation der durchgeführten Förderung
4.1 Evaluation aus Lehrersicht
4.2 Evaluation aus Tims Sicht

5 Fazit und Ausblick

6 Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Kinder, die nicht den Normvorstellungen von einem sozial angepassten Kind entsprechen, werden in unserer Gesellschaft oft als Belastung empfunden. Aufgrund ihrer Unangepasstheit werden sie nur begrenzt toleriert. Oftmals sind diese Kinder keinesfalls ungezogen oder bösartig, sondern leiden unter ADHS (A ufmerksamkeits- D efizit/ H yperaktivitäts s törung). Dieses Krankheitsbild, das derzeit weltweit zu den häufigsten Verhaltens- und Lernstörungen im Kindesalter gehört, scheint rasante Zuwächse zu verzeichnen (vgl. Farnkopf 2002, S. 12/ Becker et al. 2003, S. 472). Doch das Aufkommen von diagnostizierten Fällen hat sich – entgegen vieler Stimmen in der Öffentlichkeit – in den letzten Jahrzehnten nicht signifikant verändert. Dadurch, dass ADHS zurzeit so stark wie kaum eine andere psychische Störung in der öffentlichen Diskussion steht, hat lediglich der Bekanntheitsgrad zugenommen. Zeitschriften unterschiedlichster Art berichten über das Krankheitsbild ADHS (Time, Focus Schule, Spiegel, Stern, Pädagogik). Sogar prominente Betroffene, wie Bill Clinton, schilderten ihr Leiden an den Symptomen, wie u. a. ungesteuertem, impulsivem Verhalten, Hyperaktivität und Konzentrationsproblemen. So entsteht der Eindruck, diese Krankheit sei eine Modeerscheinung, womit Eltern Erziehungsfehler entschuldigen wollten. Diese Annahme trifft ebenso wenig zu, wie die weitläufig verbreitete Meinung, dass es sich bei ADHS um eine Wohlstandserkrankung handelt. Weltweite Untersuchungen zeigen im interkulturellen Vergleich ein ähnliches Aufkommen in allen Ländern. Lediglich der Grad der Symptomatik schwankt dabei. (Vgl. BÄK 2005 www.bundesaerztekammer.de, Stand 02.04.2006).

ADHS ist ein sehr komplexes und ernstzunehmendes Krankheitsbild, das großen Leidensdruck auf die Betroffenen ausübt. Wird ADHS durch einen Facharzt diagnostiziert, fordert das Kind sein Umfeld – insbesondere Eltern und Lehrer[1] – heraus. Die Verantwortung gemeinsame Maßnahmen für eine bestmögliche Entwicklung des Kindes zu planen und es nicht einfach „abzuschreiben“ liegt bei den Erwachsenen. Lehrer können durch Aufgeklärtheit und Engagement betroffenen Kindern Hilfestellung bieten, um mit ihrer Störung in der Schule besser zurechtzukommen. Dieser Anspruch wird mit diesem Konzept aufgegriffen.

1.1 Gegenstand und Ziel der Arbeit

Die Idee zu dem vorliegenden Konzept entstand gleich zu Beginn meines bedarfsdeckenden Unterrichts. Im Englisch- und Erdkundeunterrichts in der Klasse 5b verfehlte ich regelmäßig meine Lernziele. Um meiner Lehrerfunktion „Unterrichten“ wieder besser nachkommen zu können, beobachtete ich die Lerngruppe. Mir wurde schnell klar, dass überwiegend ein einzelner Schüler meine Stunden auf den Kopf stellte. Ein konstruktives Unterrichten schien mit ihm kaum möglich zu sein.

Der schwierige Schüler ist der 12jährige Tim[2], der an ADHS erkrankt ist. Ich traf schnell die Entscheidung, dass etwas unternommen werden musste, um eine positive Lernatmosphäre in der Klasse zu erhalten. Außerdem schien Tim selbst auch unter der Situation zu leiden. Er sagte mir einmal: „Och, die Tabletten zu nehmen macht mir gar nichts aus, die nehme ich eigentlich immer, wenn ich sie nicht vergesse. Denn wenn ich sie nicht nehme, dann geht einfach alles schief. Keine Ahnung warum.“ Tim war die Hilflosigkeit gegenüber seiner Krankheit deutlich anzusehen.

Um Tim eine – im Rahmen seiner individuellen Fähigkeiten – normale schulische Entwicklung zu ermöglichen, müssen gezielte Fördermaßnahmen getroffen werden. Insbesondere, wenn man betrachtet, dass derzeit neun von zehn ADHS Kindern ohne spezielle Förderung in der Schule hinter ihren intellektuellen Möglichkeiten zurückbleiben. Obwohl ihr IQ normal verteilt ist, müssen ca. 30% mindestens eine Klasse wiederholen und fast ein Drittel wird bereits im Grundschulalter auf eine Sonderschule „abgeschoben“. Viele Lehrer berücksichtigen nicht, dass eine Diskrepanz zwischen Intelligenz und Leistung entstehen kann, weil die Betroffenen, durch ihre Disposition, nur bedingt in der Lage sind, ihr kognitives Vermögen in angemessene schulische Erfolge umzusetzen (vgl. Farnkopf 2002, S. 12; 17/ Adam et al. S. 76). Diese Eigenschaft wird an Tims Beispiel sichtbar. Er fällt im Unterricht gelegentlich durch eindrucksvoll intelligente Schlussfolgerungen, Argumentationen und Beobachtungen auf, bei denen andere Klassenmitglieder Schwierigkeiten haben zu folgen. Eine Beispiel: Die Klasse sollte im Englischunterricht überlegen, was wohl ein „Quad bike“ ist. Tim meldet sich sofort: „Das ist doch ganz einfach. Das Wort Quad kommt aus dem italienischen und eigentlich aus Latein. Quadroheißt vier. Das Ding hat vier Räder“. Auf meine erstaunte Reaktion: „Wow, ich wusste gar nicht, dass du auch Latein sprichst“ reagierte er prompt mit: „Tja Mrs Hoffmeister,Errarehumanumest!“. Es wird deutlich, dass Tim – der mit einem IQ von 121 getestet ist – über großes Potenzial verfügt und Hilfestellungen benötigt, um seine Fähigkeiten sachgemäß in schulische Erfolge umsetzen zu können. Außerdem ist die Analyse von Tims Leistungsniveau Teil meiner Lehrerfunktion „Unterrichten“. Eine individuelle Förderung kommt dabei nicht nur Tim zugute, sondern lässt die ganze Klassengemeinschaft von einer verbesserten Lernatmosphäre profitieren.

Darüber hinaus legitimiert sich das vorliegende Konzept durch das Schulprogramm der Archenholdschule Lichtenau, in dem es heißt:

„[…] Die Archenholdschule ist eine werte- und leistungsorientierte Gemeinschaft, die ihren Schülerinnen und Schülern durch die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen (kognitive und soziale Kompetenzen) […] gute Perspektiven zur Bewältigung der allgemeinen und beruflichen Herausforderungen eröffnet. Ausgehend von der Intention, die aus den Grundschulen überwechselnden Schülerinnen und Schüler durch einen neuen Motivationsschub zu neuen bzw. weiteren Lernerfolgen anzuspornen, wird durch eine dem selbstgesteuerten Lernen förderliche Unterrichtsgestaltung die Basis für eine erfolgreiche unterrichtliche Arbeit gelegt. Neben der Bildungs- hat aber auch die Erziehungsarbeit seit langem einen hohen Stellenwert an der Archenholdschule […]“.

Um allen aufgeführten Ansprüchen gerecht zu werden, soll dieses Konzept Tim eine klare Orientierung bieten, seine Stärken gezielt fördern und Konflikte und Störungen im Unterricht minimieren. Außerdem soll durch gezielte positive Verstärkung einer Resignation bzw. Selbstaufgabe vorgebeugt werden. Dadurch wird darauf hingearbeitet das Unterrichtsklima für die ganze Klasse zu verbessern. Tim ist dabei exemplarisch für SuS (=Schülerinnen und Schüler) mit ADHS. Dennoch ist grundsätzlich zu beachten, dass jedes Kind einzigartig in seinem Wesen ist und es daher auch nicht die Aufmerksamkeitsstörung, sondern individuell unterschiedliche Krankheitsbilder gibt. Die dargestellte schulische Herausforderung wird durch dieses Konzept aufgegriffen.

Mit der Entwicklung und Erprobung dieses Konzeptes entspreche ich grundsätzlich der Lehrerfunktion des „ Innovierens“, in dem ich einen neuen Lösungsversuch, zu einem im Schulalltag entstandenen Problem entwickle. Ein solches Konzept für ADHS Kinder oder auch festgelegte Maßnahmen gibt es an unserer Schule bisher nicht. Ich organisiere dabei einen auf ADHS Kinder abgestimmten Unterricht und versuche besonders auf deren destruktive Verhaltensweisen im Unterricht einzuwirken. Dabei werden schwerpunktmäßig die weiteren Lehrerfunktionen: Unterrichten, Erziehen und Beraten berührt und an den entsprechenden Stellen kurz erläutert.

1.2 Aufbau der Arbeit

Das Konzept stellt zunächst den theoretischen Hintergrund von ADHS in Form von Definition (Symptomatik, Begleiterscheinungen, Folgeprobleme), Ursachen, Prävalenz, Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten dar. Den Schwerpunkt der Arbeit bilden Kapitel 3 und 4, in denen das geplante Konzept vorgestellt und evaluiert wird. Mit der obligatorischen Erprobung, die der Darstellung in Kapitel 3 zugrunde liegt, wurde im Februar begonnen. Die nachfolgende Evaluation impliziert die Durchführung des Konzeptes und wird aus diesem Grund nicht in einem eigenen Kapitel dokumentiert. Zum Abschluss ziehe ich ein kurzes Fazit und gebe einen Ausblick für meinen zukünftigen Unterricht.

2 ADHS – Was ist das eigentlich?

Um als Lehrer mit erkrankten Kindern sachgemäß umgehen zu können, ist es notwendig sich zunächst mit der Krankheit zu beschäftigen und sie zu verstehen. Der Begriff A ufmerksamkeits- D efizit/ H yperaktivitäts- S törung (ADHS) wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Daher werden zunächst die unterschiedlichen Begriffe für das Krankheitsbild abgegrenzt und die Kernsymptome erläutert. Darauf aufbauend werden Begleiterscheinungen und Folgeprobleme, Ursachen, Prävalenz, Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten dargelegt.

Die Bundesärztekammer definiert ADHS als ein „situationsübergreifendes Muster von Auffälligkeiten in drei Verhaltensbereichen. Diese so genannten Kernsymptome der ADHS sind Unaufmerksamkeit […], Hyperaktivität […] und Impulsivität […]“ (siehe BÄK, www.bundesaerztekammer.de, Stand: 02.04.2006).

Besonders ältere Veröffentlichungen definieren ADHS als eine untergeordnete Form von ADS und unterscheiden zwischen ADS mit und ohne Hyperaktivität (vgl. Farnkopf 2002, S. 47ff, 57f) Der hyperaktive Typ (ADHS/ ADS+H/ HKS/ ADHD) wird in der Literatur auch als „Zappler“ und „Hunter“ (=Jäger) beschrieben. Während ADS Kinder ohne Hyperaktivität (ADS-H/ ADD-inattentive type), eher als „Träumer“ gelten (vgl. Hartmann 2000, S.31ff).

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Abb.1: Begrifflichkeiten (eigene Darstellung, nach Aust-Claus/ Hammer 2000, S. 10f, Fitzner/ Stark 2000, S. 8, Hartmann 2000, S. 27ff)

Die vielfältigen Begriffe bezeichnen meist im Grunde das Gleiche, sie entstammen lediglich unterschiedlichen Klassifikationssystemen. Während HKS (Hyperkinetische Störung) durch die Weltgesundheitsorganisation (ICD-10) verwendet wird, entstammt der Begriff ADHS den Kriterien der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (DSM-IV). In Amerika, wo mit der Erforschung der Störung wesentlich früher begonnen wurde, werden die Bezeichnungen ADD und ADHD benutzt. Geringfügige Definitionsunterschiede spielen für das Verständnis der Störung dabei keine Rolle.

Viele aktuelle Veröffentlichungen hingegen legen ein anderes Verständnis der Begriffe zugrunde. ADHS wird dort als übergeordnete Bezeichnung verwendet. ADS ist demnach ein Untertypus, der nicht die Merkmale Hyperaktivität und Impulsivität aufweist. Die sog. Träumer weisen ausschließlich das Merkmal Unaufmerksamkeit auf (vgl. BZgA 2005, S. 5). Für die vorliegende Arbeit wird dieses aktuellere Verständnis zugrunde gelegt.

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Abb.2: ADHS als Oberbegriff (Quelle: eigene Darstellung nach Daten der BÄK 2005, www.bundesaerztekammer.de, Stand 02.04.2006)

Die drei Kernsymptome Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit sind umfassende Begriffe, die im Folgenden näher definiert werden (vgl. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München 2003, S. 9; 13).

Unter Hyperaktivität versteht man eine Störung der Aufmerksamkeit mit überschießender Impulsivität und Phasen extremer Unruhe. Hyperaktive Kinder sind also ‚übermäßig aktiv’. Sie zappeln oder rutschen auf dem Stuhl herum. Sie stehen im Unterricht einfach auf und laufen durch die Klasse. Sie haben Schwierigkeiten leise zu spielen. Man hat den Eindruck sie wären rastlos und getrieben.

Impulsivität und der damit verbundene Mangel an Triebaufschub verhindert eine systematische Handlungsplanung bei ADHS Kindern. Sie handeln erst und denken dann, wodurch sie sich z. B. häufiger verletzen als andere Kinder. Im Unterricht platzen sie häufig mit der Antwort heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt wurde oder können nur schwer warten bis sie an der Reihe sind. Sie reden oftmals übermäßig viel, unterbrechen und stören damit andere. Durch ihr impulsives Verhalten sind sie oft in Streitereien und in körperliche Übergriffe verwickelt.

Die Unaufmerksamkeit bei ADHS Kindern äußert sich dadurch, dass sie Schwierigkeiten haben, sich über längere Zeit hinweg zu konzentrieren. Sie scheinen nicht zuzuhören, wenn andere sprechen und haben Probleme Anweisungen vollständig auszuführen. Dies ist besonders bei Beschäftigungen zu beobachten, die fremdbestimmt sind und geistige Anstrengung und Konzentration erfordern (z. B. Schul- oder Hausaufgaben). Durch ihre Unaufmerksamkeit vergessen sie oft etwas oder verlieren Gegenstände.

Ca. zwei Drittel der ADHS Kinder zeigen neben den Kernsymptomen der Krankheit noch weitere (Verhaltens-) Auffälligkeiten, die sog. sekundären Symptome.

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Tab.1: Begleitstörungen der ADHS (Quelle: eigene Darstellung, nach BZgA 2005, S. 16)

Diese Begleiterscheinungen können physische und psychische Ursachen haben und in unterschiedlicher Intensität auftreten. Bei den Teilleistungsstörungen liegt die Ursache z. B. im Gehirn. Das Kind hört und sieht zwar problemlos, aber die Verarbeitung des Gehörten und Gesehenen funktioniert nicht optimal. Informationen werden nicht gespeichert, sondern gleich wieder vergessen (vgl. Farnkopf 2002, S. 18). Außerdem neigen ADHS Kinder zu komorbiden Krankheiten. Dabei handelt es sich um ein gleichzeitiges Vorkommen mehrerer diagnostisch unterschiedlicher, eigenständiger Krankheitsbilder, die nicht ursächlich in Zusammenhang stehen müssen (z. B. Tourette-Syndrom, Zwangsstörungen oder Epilepsie).

Empirische Studien zeigen übereinstimmend, dass die Dramatik von ADHS mit der Einschulung einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. In dieser Phase steigen die Anforderungen an Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit sprunghaft an, während die Fähigkeiten der Kinder diesen Anforderungen kaum entsprechen können (vgl. Jacobs et al. 2005, S. 11).

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Abb.3: Schulspezifische Probleme (Quelle: Ulbrich, www.schulberatungmuenchen.de, Stand 29.04.2006)

Die in Abb. 3 dargestellten Probleme in der Schule und die Reaktionen ihres Umfeldes führen bei ADHS Kindern aufgrund ihrer spezifischen Symptome oftmals zu erheblichen Folgeproblemen. Dazu zählen (vgl. Aust-Claus/ Hammer 2000, S. 157f):

- Emotionale und Selbstwertprobleme (85%)
- Lernprobleme (80%)
- Soziale Anpassungsprobleme (65%)
- Klassenwiederholer (28%)

80% der ADHS Kinder leiden unter Lernproblemen, die vorrangig dadurch entstehen, dass die gängigen Lernmethoden in unseren Schulen nicht zu ihren Besonderheiten passen. Sie können oft nur ca. 30% der altersgemäßen Konzentration aufbringen. ADHS Kindern fehlen die geforderten Anpassungsleistungen in Feinmotorik, gerichteter Konzentration, visueller und auditiver Daueraufmerksamkeit, selbstständiger Umsetzung bis hin zur sozialen Integrationsfähigkeit (vgl. Farnkopf 2002, S. 47). Bereits in der Grundschule entstehen schulischen Defizite, die sich im Laufe ihrer Schullaufbahn stetig vergrößern. Resultierende Gefühle von Niedergeschlagenheit und Frustration ziehen dann oft psychische Folgeprobleme nach sich. Die Kinder geraten immer tiefer in einen Verzweifelungszustand, der eine eigene Dynamik entwickelt (vgl. auch Anhang 1).

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Abb.4: Innerer Teufelskreis: Misserfolge bewirken weitere schlechte Leistungen (Quelle: Born/ Oehler 2005, S. 46)

2.1 Ursachen für ADHS

Neuere Studien belegen, dass es sich bei ADHS um eine neurobiologisch bedingte Krankheit handelt. Computertomographien zeigen eine Fehlregulierung der Botenstoffe im Gehirn (sog. Neurotransmitter). Neurotransmitter, wie Dopamin und Noradrenalin, sind für die Weiterleitung von Informationen und Befehlen zuständig, weil die Nervenzellen nicht direkt miteinander verbunden sind. Sie überbrücken den sog. synaptischen Spalt und transportieren Informationen, wie kleine Schiffe, von einer Zelle zur nächsten. Bei Menschen mit ADHS ist die Aktivität im Stirnhirn deutlich herabgesetzt. Das Stirnhirn ist zuständig für Handlungsplanung, Steuerung bzw. Verhaltenskontrolle. Die Botenstoffe, insbesondere Dopamin, sind aus dem Gleichgewicht geraten. Dadurch, dass sie in Abhängigkeit zueinander stehen, können Aufnahmefilter und Verarbeitungszentralen im Gehirn nicht mehr optimal zusammenarbeiten. Je nach individueller Versorgung resultiert daraus eine entsprechende Ausprägung des Krankheitsbildes. (vgl. Aust-Claus/Hammer 2000, S. 109ff/ HAK 2004, S. 23f).

Der Vorgang lässt sich wie folgt beschreiben: Durch die fehlerhafte Zusammenarbeit von Aufnahmefilter und Verarbeitungszentrale nehmen ADHS Betroffene eine Menge Reize ungesteuert – sozusagen nebenbei – auf. Der Prozess lässt sich mit einem Aufnahmekanal eines Weitwinkel-Objektives vergleichen. Zahlreiche Eindrücke erreichen ungefiltert und unsortiert den Arbeitsspeicher, ohne dass sie selektiert werden können. So empfinden ADHS Kinder z. B. die Geräusche eines vorüber fliegenden Insekts genauso laut wie die Stimme des Lehrers. Für das genaue Hinhören, bzw. Hinschauen, bräuchten sie aber eher ein Teleobjektiv zum Heranzoomen wichtiger Informationen. Die Abb. 6 illustriert die unterschiedliche Informationsverarbeitung bei Menschen ohne und mit ADHS.

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Abb.5: Informationsverarbeitung im Gehirn (eigene Zusammenstellung, nach Aust-Claus/Hammer 2000, S. 104; 106).

In einem gesunden Gehirn gelangen die Sinneseindrücke nach der Vorfilterung (Neuromodulation) zur Weiterverarbeitung in den Arbeitsspeicher. Dort werden sie sortiert und zu den unterschiedlichen Zentren im Gehirn delegiert. Dieser Vorgang nimmt an Geschwindigkeit zu, je häufiger er abläuft. Es kommt zu einer zunehmenden Vernetzung von Nervenbahnen, die sich verfestigen. Die immer schneller werdenden Abläufe von Informationsaufnahme und gewünschter Reaktion werden Lernen genannt (vgl. Aust-Claus/Hammer 2000, S. 101f).

Aufgrund ihres gestörten Neurotransmitterhaushaltes ist diese Reizverarbeitung bei ADHS Betroffenen nicht in vollem Umfang möglich. Die ungefiltert eintreffenden Sinneseindrücke benötigen eigentlich besonders viel Raum im Arbeitsspeicher. Paradoxerweise ist ihr neuronales Netzwerk verkleinert. Die Folge ist eine Überlastung mit einer Art Kurzschluss oder Absturz. Das gerade Aufgenommene wird einfach vergessen. Die Aufmerksamkeit wird auf etwas Anderes ggf. weniger Komplexes gerichtet. Betroffene haben Informationen nur kurz parat und platzen sofort damit heraus. Ebenso können ADHS Betroffene ihre Gedanken und Gefühle nicht sortieren und strukturieren. Das Ergebnis sind oft ungeplante und impulsive Handlungen (vgl. ebd., S. 112ff).

Lange Zeit standen bestimmte Nahrungsmittel und Zusatzstoffe (z. B. Zucker und Phosphate) im Verdacht neuronale Fehlfunktionen zu verursachen. Es konnte allerdings diesbezüglich nur nachgewiesen werden, dass ca. 5-10% der ADHS Kinder auf unterschiedliche Nahrungsmittel mit einer Verstärkung der Symptome reagieren (vgl. BZgA 2005, S. 19).

Wissenschaftliche Studien haben diesbezüglich ergeben, dass gewisse Konstellationen ein Erkrankungsrisiko erhöhen können, z. B. sind Kinder mit einem geringen Geburtsgewicht anfälliger für eine Veränderung der weißen Hirnsubstanz (=hypoxische Hirnschädigung) und dadurch auch für eine spätere ADHS Erkrankung. Darüber hinaus können Infektionen und toxische Beeinträchtigungen die gesunde Entwicklung des Gehirns beeinflussen (z. B. Alkohol oder Rauchen in der Schwangerschaft) (vgl. Farnkopf 2002, S. 23f). Außerdem besteht ein genetischer Zusammenhang. Nach dem aktuellen Forschungsstand spielen erbliche Faktoren eine bedeutende Verursacherrolle. Dabei stehen inzwischen einzelne Chromosomen im Erbgut unter Verdacht, bei der Vererbung von ADHS und der Merkmalausprägung beteiligt zu sein (vgl. ebd., S. 24/ Dieplinger 2003, S. 54; 103).

Gemäß den geschilderten Ursachen handelt es sich bei ADHS um eine angeborene verminderte Fähigkeit der Selbststeuerung. Allerdings können psychosoziale Faktoren die Symptome verstärken. Darunter versteht man unklare, unzuverlässige oder schnell wechselnde Beziehungsbedingungen, ungeordnete Tagesabläufe, mangelnde Konsequenz, sowie Vernachlässigung bis hin zur Misshandlung. Alle Umgebungsbedingungen, die unüberschaubar, unstrukturiert oder chaotisch sind, können bei ADHS Kindern Einfluss auf den Verlauf und das Endergebnis der Krankheit haben. Man vermutet, dass die Reizintensität der heutigen Mediengesellschaft dabei eine wichtige Rolle spielt (z. B. Fernsehen, Computer, Mobiltelefon). Außerdem können sich die deutlich erhöhten Anforderungen an jeden Einzelnen im privaten und beruflichen Bereich, sowie immer häufiger auftretende Probleme im sozialen Umfeld (Familie und Schule), negativ auf das Krankheitsbild auswirken (vgl. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München 2003, S. 10 f/ HAK 2004, S. 24).

Die Erkenntnis, dass nicht allein eine neurobiologische Prädisposition die individuelle Ausprägung des Krankheitsbildes bestimmt, ist für das Umfeld der Betroffenen – insbesondere für Lehrer – von großer Bedeutung. Es kann demnach in entscheidendem Maße dazu beigetragen werden, das Leiden der betroffenen Kinder zu minimieren.

2.2 Prävalenz

Die Prävalenzraten von ADHS Erkrankungen schwanken international zwischen 2-18%, was auf unterschiedliche Kriterienkataloge zurückzuführen ist. In Deutschland geht man von etwa 3-5% aus (vgl. Becker et al. 2003, S. 472). Weitere Angaben in der Literatur weichen davon nur geringfügig ab. Dementsprechend sind ca. 500.000 Kinder im schulpflichtigen Alter an ADHS erkrankt. D. h., dass sich durchschnittlich in jeder deutschen Schulklasse ein betroffenes Kind befindet (vgl. Lilly 2005, S. 9). Generell sind Jungen häufiger betroffen als Mädchen (Verhältnis ca. 1:3). Allerdings wird vermutet, dass es eine Gleichverteilung geben könnte, die nicht diagnostiziert wird, weil Mädchen eher in der Lage sind, ihre emotionale Impulsivität zu kontrollieren und ADHS so zu kompensieren (vgl. Farnkopf 2002, S. 12f).

ADHS ist keine moderne Zivilisationskrankheit. Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsproblemen, allgemeiner motorischer Unruhe und mangelnder Impulskontrolle wurden schon vor über hundert Jahren in der Fachliteratur beschrieben. Bereits 1848 findet sich eine erste – zwar anekdotische aber dennoch eindeutige – Beschreibung der Krankheit in Heinrich Hoffmanns ‚Struwwelpeter’ (vgl. Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung München 2003, S. 12). Der engere Zusammenhang der drei Verhaltensdimensionen wurde jedoch erst in jüngster Vergangenheit durch systematische Studien festgestellt. Dabei erkannte man, dass ab einer gewissen psychosozialen Beeinträchtigung eine Behandlungsbedürftigkeit besteht. Seitdem wurde eine diagnostische Zuordnung festgelegt (vgl. BÄK 2005, www.bundesaerztekammer.de, Stand 01.04.2006).

2.3 Diagnostik

In Deutschland gibt es derzeit zwei gängige Klassifikationssysteme bei psychischen Störungen:

- die „Internationale Klassifikation Psychischer Störungen“ (ICD-10)
- das „Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen“ (DSM-IV).

Die Definitionen von ADHS unterscheiden sich in beiden Systemen nicht grundlegend (vgl. Anhang 2 und 3). Beide definieren Impulsivität, Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität als Kernsymptome. Sie legen einheitlich fest, dass ADHS vorliegt, wenn die Symptome vor dem siebten Lebensjahr relativ konstant in unterschiedlichen sozialen Kontexten (z. B. Familie, Kindergarten/Schule, Öffentlichkeit) aufgetreten sind. Die Symptome müssen dabei mindestens sechs Monate fortwährend vorhanden sein und sich abweichend von der Entwicklung erkennen lassen. Beide Systeme definieren, dass sich ADHS im Sinne eines Syndroms aus einem Bündel von verschiedenen Verhaltenssymptomen zusammensetzt, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Zustände wie Autismus, Schizophrenie oder Psychosen müssen dabei ausgeschlossen werden (vgl. Farnkopf 2002, S. 14f/ Holowenko 1999, S. 31).

Ärzte müssen zur Diagnose aufgrund von Verhaltenssymptomen auf einen medizinischen Zustand schließen, wobei die Krankheit keinem kategorischen Zustand entspricht. Es wird eine Diagnose gestellt, die gegenwärtig durch keinen medizinischen Test eindeutig nachzuweisen ist. Daher müssen andere Gründe sorgsam ausgesondert werden. Die wegweisenden individuellen Symptome müssen erfasst und gegenüber anderen Störungen, sowie kognitiven, motorischen, emotionalen und sozialen Faktoren abgegrenzt werden.

Zur Diagnostik werden ein umfassendes Interview, sowie eine körperliche Untersuchung und eine psychiatrische Beobachtung durchgeführt (Beschreibung/ Bewertung des Verhaltens), die bei Bedarf um neuropsychologische Untersuchungen und Verhaltensbeobachtungen erweitert wird. Fragebögen können dabei ergänzend eingesetzt werden (vgl. BÄK, 2005, www.bundesaerztekammer.de, Stand 02.04.2006).

[...]


[1] Lehrer = stellvertretend für Lehrerinnen und Lehrer im Verlauf der Arbeit

[2] Der Name wurde aus Datenschutzgründen geändert.

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Entwicklung und Erprobung eines Konzeptes zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit ADHS in der Jahrgangsstufe 5 an Hauptschulen
Hochschule
Universität Paderborn
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
47
Katalognummer
V55686
ISBN (eBook)
9783638505741
ISBN (Buch)
9783656781783
Dateigröße
13545 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Das vorliegenden Konzept wurde im Referendariat im Rahmen des 2. Staatsexamens eingereicht. Inhaltlich beschäftigt sich diese Arbeit mit eine Förderkonzept für Kinder mit ADS bzw. ADHS in der Jahrgangsstufe 5. Das Konzept lässt sich auch für andere Jahrgangsstufen und Schulformen verwenden.
Schlagworte
Entwicklung, Erprobung, Konzeptes, Förderung, Schülerinnen, Schülern, ADHS, Jahrgangsstufe, Hauptschulen
Arbeit zitieren
N. Hoffmeister (Autor:in), 2006, Entwicklung und Erprobung eines Konzeptes zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit ADHS in der Jahrgangsstufe 5 an Hauptschulen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55686

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