Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die bürgerliche Gesellschaft
2. Erzählperspektive
3. Figurenkonstellation
3.1 Joseph Marti
3.2 Herr Tobler
3.3 Frau Tobler
4. Schlussbemerkung
Einleitung
Obgleich der Schweizer Schriftsteller Robert Walser in den vergangenen Jahren verstärkt in der Forschungsliteratur behandelt wurde, gehört er doch bis heute zu den am wenigsten beachteten großen Schriftstellern der Moderne.
Walsers Protagonisten sind Vagabunden, Schelme und rebellische Dienerfiguren, die die entfremdeten Arbeitsverhältnisse und Identitätsprobleme um die Jahrhundertwende offenbaren und dadurch zu ‚sozialen Grenzgängern’ werden.
Auch das Motiv der Liebe - beeinflusst von den Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft - ist bei Robert Walser von Grenzüberschreitungen bestimmt. In den meisten anderen Romanen um die Jahrhundertwende werden traditionelle zwischengeschlechtliche Beziehungen thematisiert, die auf der Aufspaltung von männlichen und weiblichen Seinsbereichen beruhen.
Im Gegensatz dazu brechen Walsers Figuren jene scharfe Grenzziehung auf, lassen die Trennlinien verschwimmen und zeigen Möglichkeiten des flexiblen Rollenwechsels zwischen den Geschlechtern.
1. Die bürgerliche Gesellschaft:
Ausgehend von der Annahme, dass die sozialen Verhältnisse Einfluss auf Form und Inhalt von Literatur haben und Literatur auch ihrerseits Einfluss auf die Gesellschaft ausübt, erscheint es angebracht zu Beginn einen kurzen Überblick über die gesellschaftlichen Umstände zur Zeit der Jahrhundertwende zu geben.
Im Zusammenhang zur vorliegenden Analyse sind dabei vor allem die bürgerliche Vorstellung von Liebe und das im Roman dargestellte Ideal der bürgerlichen Familie von Bedeutung.
Das Bürgertum bezeichnet einen häufig in der Stadt ansässigen Bevölkerungsteil, der insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert als soziale und gesellschaftliche Klasse eine politische Vorrangstellung gewann.
Es gründet sich nicht auf geburtsständische Privilegien, sondern auf familiären Zusammenhalt und individuelle Leistung, sei sie ökonomischer oder geistiger Natur, und schlägt sich im Anspruch auf ein besonderes Sozialprestige nieder.
Das Bürgertum zeichnet sich vor allem auch durch sein soziales Wertesystem aus, das sich am deutlichsten in der bürgerlichen Prüderie im Umgang mit Sexualität zeigt. Den beiden Geschlechtern wurden ganz unterschiedliche Tugenden zugeschrieben, die das Verhältnis zwischen Mann und Frau entscheidend mitbestimmten.
Während das weibliche Geschlecht nach bürgerlicher Auffassung die Charaktereigenschaften Passivität, Emotionalität und Selbstlosigkeit in sich vereinigte, wurde von einem Mann Rationalität und aktives Handeln erwartet.
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