Das märchenhaft-orientalische Element in der Traumnovelle wurde von der Forschung lange Zeit kaum beachtet. Dabei lässt Schnitzler die Handlung seiner Novelle nicht unmittelbar mit der Szenerie einer bürgerlichen Familienidylle einsetzen, sondern stellt vielmehr medias in res beginnend einen Ausschnitt aus einer völlig anderen Welt dar: „Vierundzwanzig braune Sklaven ruderten die prächtige Galeere, die den Prinzen Amgiad zu dem Palast des Kalifen bringen sollte. Der Prinz aber, in seinen Purpurmantel gehüllt, lag allein auf dem Verdeck unter dem dunkelblauen, sternbesäten Nachthimmel, und sein Blick -“ (S. 11)Der Text, den die Tochter des Protagonistenehepaars vorliest, hat unter dem Gesichtspunkt der Märchenhaftigkeit Anlass zu unterschiedlichen Deutungsversuchen gegeben. Verschiedene Indizien verweisen auf den orientalischen Charakter des Märchenfragments. Der Name des Prinzen scheint der „Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad“ zu entstammen, die Schehrezâd dem König Schehrijâr als Teil der Erzählungen aus den Tausendundein Nächtenerzählt. Dass sich dieser Stoff beim zeitgenössischen Publikum allgemeiner Beliebtheit erfreute, lässt sich aus Hofmannsthals 1907 erschienenen AufsatzTausendundeine Nachtableiten: Wir hatten dieses Buch in Händen, da wir Knaben waren; und da wir zwanzig waren, und meinten weit zu sein von der Kinderzeit, nahmen wir er wieder in die Hand, und wieder hielt es uns, wie sehr hielt es uns wieder! […] Es ist das Buch, das man immer wieder völlig sollte vergessen können, um es mit erneuter Lust immer wieder zu lesen. Übrigens war es ebenfalls Hofmannsthal, der den Entwurf einer eigenen Version der „Geschichte der Prinzen Amgiad und Assad“ verfasste, und diese orientalischen Namen so Schnitzler bekannt machte. Wenn Schnitzler so dezidiert auf den orientalischen Stoff Bezug nimmt, stellt sich die berechtigte Frage nach den Assoziationen, die er damit beim Publikum wecken wollte. Dazu muss zunächst in Betracht gezogen werden, dass das europäische Orientkonzept lange Zeit aus der eigenen Imagination erwuchs: Das ästhetische Orientbild jedoch basiert weiterhin vornehmlich auf überlieferten „Bildern“ und Assoziationen(Images, Klischees),die historische Veränderungen zu überdauern vermögen und eine eigene Vorstellungswelt(Imagerie)konstituieren. […] Noch immer ist das Morgenland leichter mit Hilfe der Imagination zu bestimmen als durch ein Studium von Landkarten. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Individuum und Gesellschaft in der Traumnovelle
- Historische und topografische Einordnung
- Die Darstellung des Ärztestandes
- Das Geschlechterverhältnis
- Liebe und Begehren in der Ehe
- Weibliches Emanzipationstreben
- Männliche Dominanz und weibliche Unterwerfung
- Die Fassade der Bürgerlichkeit
- Die geheime Gesellschaft
- Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit Arthur Schnitzlers Traumnovelle und untersucht das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft im Kontext der Wiener Gesellschaft des fin de siècle. Im Fokus steht die Frage, inwieweit die Protagonisten Fridolin und Albertine durch gesellschaftliche Erwartungen und Konventionen beeinflusst werden, wie sie diese befolgen und gleichzeitig Normen überschreiten.
- Die Rolle des Orients als Ausdruck bürgerlicher Sehnsüchte und des Ungebundenen
- Die Darstellung des Ärztestandes und seine Rolle in der Gesellschaft
- Das komplexe Geschlechterverhältnis in der Traumnovelle, insbesondere Liebe, Begehren und Emanzipation
- Die Fassade der bürgerlichen Gesellschaft und die verborgenen Abgründe
- Der Einfluss von Freud's Psychoanalyse auf die Interpretation der Traumnovelle
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Orientmotiv in der Traumnovelle. Es zeigt, wie Schnitzler mithilfe des Märchenfragments vom Prinzen Amgiad eine exotische Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft etabliert, die mit Sehnsüchten nach Freiheit und Abenteuern verbunden ist. Dieser Kontrast wird im späteren Verlauf der Novelle durch Fridolins Träume und Albertines Fantasien deutlich.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der Einordnung der Traumnovelle in den historischen und topografischen Kontext des Wiener fin de siècle. Es wird die Ambivalenz des Viertels, in dem die Familie Fridolins lebt, beschrieben: einerseits ein gutbürgerlicher Wohnort für Ärzte, andererseits ein Bezirk mit zwielichtigen Ecken. Dieser Ambivalenz spiegelt die innere Zerrissenheit der Protagonisten wider, die sich zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und ihren eigenen Bedürfnissen bewegen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beleuchtet die Traumnovelle von Arthur Schnitzler im Kontext der Wiener Gesellschaft des fin de siècle, wobei die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, die Darstellung des Orients als Ausdruck bürgerlicher Sehnsüchte, das Geschlechterverhältnis in der Ehe und die Rolle des Ärztestandes im Mittelpunkt stehen. Darüber hinaus spielt die Thematik der Fassade der Bürgerlichkeit und der verborgenen Abgründe eine wichtige Rolle, die mit Hilfe der psychoanalytischen Interpretation von Freuds Traumdeutung erhellt wird.
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- Christian Werner (Author), 2006, Individuum und Gesellschaft in Arthur Schnitzlers "Traumnovelle", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57467