Das große Interesse der Öffentlichkeit galt in den letzten Jahrzehnten immer wieder der Lebensphase Jugend. Für viele Industriezweige wie Medien und Textilindustrie stellen Jugendliche eine sehr wichtige und große Zielgruppe dar. Auch ein Blick in die Fachliteratur eröffnet ein breites Spektrum an Themenbereichen, die das Spannungsfeld Jugendalter von allen Seiten zu beleuchten versuchen. Oft stehen dabei sichtbare Faktoren und Entwicklungen im Vordergrund, die mit den Verhaltensweisen der Jugendlichen wie Gewaltbereitschaft oder Konsum von Suchtmitteln und den Jugend(sub)kulturen zu tun haben. Die physiologischen und psychologischen Entwicklungsprozesse im Jugendalter sind mittlerweile auch sehr gut erforscht und dokumentiert worden, was für das Verständnis der Jugendphase sehr wertvoll ist. Denn erst das Verständnis für die herausfordernden Veränderungen in der Pubertät und Adoleszenz und für die daraus entstehenden individuellen Problemlagen der Jugendlichen ermöglichen es, die allgemeine Entwicklung der Jugendlichen im gesellschaftlichen Zusammenhang, das äußere Erscheinungsbild und die provokativen oder passiven Verhaltensund Lebensweisen der Jugendlichen richtig einzuordnen. Nur wer Jugendliche versteht und weiß, was sie in ihrem Alltag beschäftigt, kann wirklich auf sie zugehen und mit ihnen angemessen umgehen. Meiner Ansicht nach verlangen dabei die Interaktion mit Jugendlichen und die Betrachtung ihrer Lebenssituation unbedingt den Einbezug ihrer Herkunftsfamilie. In meiner Tätigkeit in der freizeitpädagogischen und offenen Jugendarbeit habe ich nämlich oft die Erfahrung gemacht, dass für die psychosoziale Entwicklung der Jugendlichen neben den einflussreichen Bereichen wie Schule, Gleichaltrigengruppen und Medien insbesondere der Familie eine sehr entscheidende Bedeutung zukommt. Jugendliche selbst verweisen bei der Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Problemlagen immer wieder auf die Verhältnisse in ihrer Familie und richten an ihre Eltern bestimmte Erwartungen. Gleichzeitig habe ich auch mitbekommen, dass die Eltern dieser Jugendlichen in ihrem Umgang mit ihnen oft verunsichert sind und nicht wissen, wie sie auf die adoleszenzspezifischen Veränderungen und das Autonomiestreben ihrer Kinder eingehen sollen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Jugendalter – vom Kind zum Erwachsenen
1.1 Jugend als historisches und gesellschaftliches Phänomen
1.2 Zur Abgrenzung der Lebensphase Jugend
1.2.1 Dimensionen des Jugendbegriff
1.2.2 Entstrukturierung der Jugendphas
1.3 Entwicklungsprozesse im Jugendalter
1.3.1 Pubertät und Adoleszen
1.3.1.1 Wachstumsprozesse und Entwicklung der Geschlechtsreif
1.3.1.2 Psychische Folgen der biologischen Veränderunge
1.3.2 Kognitive Entwicklun
1.3.3 Moralische Entwicklun
1.4 Sozialisation im Jugendalter
1.4.1 Die Familie als ambivalente Bezugsgrupp
1.4.2 Die Sozialisationsfunktion der Gleichaltrigengrupp
1.4.3 Die schulische Sozialisatio
1.5 Jugendalter als Spannungsfeld
2. Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
2.1 Definition des Begriffes Entwicklungsaufgabe
2.2 Quellen für Entwicklungsaufgaben
2.2.1 Physische Reifun
2.2.2 Gesellschaftliche Erwartunge
2.2.3 Individuelle Zielsetzungen und Wert
2.3 Merkmale von Entwicklungsaufgaben
2.4 Entwicklungsaufgaben und ihre Handlungsbereiche
2.4.1 Intrapersonaler Bereic
2.4.2 Interpersonaler Bereic
2.4.3 Kulturell-sachlicher Bereic
2.4.4 Identität als zentrale Entwicklungsaufgab
2.5 Bewältigung von Entwicklungsaufgaben
3. Familie – das zentrale Lebensumfeld
3.1 Versuch einer Definition des Begriffes Familie
3.2 Familie im Wandel
3.2.1 Deinstitutionalisierung der Famili
3.2.2 Pluralisierung der Haushalts- und Familieforme .
3.3 Merkmale der Familie.
3.3.1 Individualisierung und Emotionalisierun
3.3.2 Familie als intimes Beziehungssyste
3.3.3 Phasen der Familienentwicklun
3.4 Funktionen der Familie
4. Rolle der Familie bei der adoleszenzspezifischen Entwicklung
4.1 Entwicklungsaufgaben der Familie
4.2 Familienklima als wesentlicher Entwicklungsfaktor
4.2.1 Typen von Familie
4.2.2 Typisierung unterschiedlicher Erziehungsstil
4.3 Die adoleszenzspezifische Familiendynamik
4.3.1 Bewältigungsprobleme im familialen Kontex
4.3.1.1 Konfliktwelt der Jugendliche
4.3.1.2 Konfliktwelt der Elter
4.3.2 Auswirkung familiärer Konflikte und Unstimmigkeite
4.4 Familiäre Einflüsse auf die Bewältigung adoleszenzspezifischer
Entwicklungsaufgaben
4.4.1 Die generelle beeinflussende Wirkung der Elter
4.4.2 Rolle der Familie für die einzelnen Entwicklungsaufgabe
4.4.2.1 Körper und Roll
4.4.2.2 Ablösung vom Elternhau
4.4.2.3 Peer und Intimitä
4.4.2.4 Lebensplanung der Jugendliche
4.4.2.5 Identitätsbildung und Famili .
4.4.3 Pädagogische Konsequenzen
5. Schlussreflexion und Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Einleitung
Das große Interesse der Öffentlichkeit galt in den letzten Jahrzehnten immer wieder der Lebensphase Jugend. Für viele Industriezweige wie Medien und Textilindustrie stellen Jugendliche eine sehr wichtige und große Zielgruppe dar. Auch ein Blick in die Fachliteratur eröffnet ein breites Spektrum an Themenbereichen, die das Spannungsfeld Jugendalter von allen Seiten zu beleuchten versuchen. Oft stehen dabei sichtbare Faktoren und Entwicklungen im Vordergrund, die mit den Verhaltensweisen der Jugendlichen wie Gewaltbereitschaft oder Konsum von Suchtmitteln und den Jugend(sub)kulturen zu tun haben. Die physiologischen und psychologischen Entwicklungsprozesse im Jugendalter sind mittlerweile auch sehr gut erforscht und dokumentiert worden, was für das Verständnis der Jugendphase sehr wertvoll ist. Denn erst das Verständnis für die herausfordernden Veränderungen in der Pubertät und Adoleszenz und für die daraus entstehenden individuellen Problemlagen der Jugendlichen ermöglichen es, die allgemeine Entwicklung der Jugendlichen im gesellschaftlichen Zusammenhang, das äußere Erscheinungsbild und die provokativen oder passiven Verhaltens- und Lebensweisen der Jugendlichen richtig einzuordnen. Nur wer Jugendliche versteht und weiß, was sie in ihrem Alltag beschäftigt, kann wirklich auf sie zugehen und mit ihnen angemessen umgehen.
Meiner Ansicht nach verlangen dabei die Interaktion mit Jugendlichen und die Betrachtung ihrer Lebenssituation unbedingt den Einbezug ihrer Herkunftsfamilie. In meiner Tätigkeit in der freizeitpädagogischen und offenen Jugendarbeit habe ich nämlich oft die Erfahrung gemacht, dass für die psychosoziale Entwicklung der Jugendlichen neben den einflussreichen Bereichen wie Schule, Gleichaltrigengruppen und Medien insbesondere der Familie eine sehr entscheidende Bedeutung zukommt. Jugendliche selbst verweisen bei der Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Problemlagen immer wieder auf die Verhältnisse in ihrer Familie und richten an ihre Eltern bestimmte Erwartungen.
Gleichzeitig habe ich auch mitbekommen, dass die Eltern dieser Jugendlichen in ihrem Umgang mit ihnen oft verunsichert sind und nicht wissen, wie sie auf die adoleszenzspezifischen Veränderungen und das Autonomiestreben ihrer Kinder eingehen sollen.
Diese Umstände ließen in mir immer wieder die Fragen aufsteigen, inwieweit die Familie tatsächlich die Entwicklung der Jugendlichen beeinflusst, wie dieser Einfluss im konkreten Alltag aussieht und wie sich Jugendliche und ihre Eltern den Herausforderungen der Adoleszenz besser stellen können. Unter anderem entstand daraus die Motivation, mich mit diesem Thema im Rahmen einer Diplomarbeit auseinanderzusetzen.
Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die adoleszenzspezifische Veränderungen und die damit verbundenen Entwicklungsaufgaben Jugendlicher intensiver und genauer zu betrachten und zu beschreiben. Des Weiteren sollen die adoleszenzspezifische Familiendynamik und die Bedeutung der Familie für die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen untersucht werden. Dabei ist es nicht meine Absicht, konkrete allgemeinverbindliche Anweisungen für die elterliche Erziehung aufzuzeigen, sondern vielmehr bestimmte Grundhaltungen der Eltern ihren jugendlichen Kindern gegenüber zu thematisieren.
Meine beiden Schwerpunkte ergeben sich also aus den beiden großen Themenbereichen Jugend und Familie, deren Schnittpunkte im Laufe der Themenbearbeitung deutlich werden sollen. Die theoretische Basis bilden dabei Befunde aus mehreren Jugendstudien und aus der Familienforschung.
Es ist einleuchtend und wird auch in diesen empirischen Studien hervorgehoben, dass weibliche und männliche Jugendliche die adoleszenzspezifischen Entwicklungsaufgaben unterschiedlich bewältigen und sich auch unterschiedlich in ihren Familien einbringen. In meinen Ausführungen werde ich jedoch von diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden größtenteils absehen, da es den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.
Aufgrund meiner besonderen Konzentration auf die Rolle der Familie für Jugendliche kann ich auch auf andere ebenfalls wichtige Einflussbereiche wie Gleichaltrigengruppen, Schule, Medien usw. nicht oder nur flüchtig eingehen. Außerdem werde ich die Rolle der Geschwisterbeziehungen in der Familie außer Betracht lassen, da diese Thematik in der Forschung noch nicht so intensiv aufgegriffen wurde. Mein Interesse gilt der Familie als zwischenmenschliche Institution und als Beziehungssystem und insbesondere dem elterlichen Einfluss auf die jugendlichen Kinder.
Um einen Gesamtüberblick über die Arbeit zu geben, möchte ich nun in Kürze auf die einzelnen Kapitel eingehen. Als Einstieg in die Thematik werden im ersten Kapitel das grundlegende Verständnis über die Jugend, die Besonderheiten der adoleszenzspezifischen Entwicklung und die wichtigsten Sozialisationsinstanzen Jugendlicher diskutiert. Die Anforderungen an die Jugendlichen, die sich aus den Ergebnissen dieses Kapitels ergeben, werden im nächsten Kapitel mit Hilfe des Konzeptes von Havighurst in einer Reihe von adoleszenzspezifischen Entwicklungsaufgaben konkretisiert. Bevor dann die Rolle der Familie für die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben in den Vordergrund der Ausarbeitung tritt, soll das dritte Kapitel zur allgemeinen Erörterung des Wandels der Familie, ihrer Merkmale und Funktionen dienen. Die ersten drei Kapitel bilden insgesamt die Grundlage für das vierte Kapitel, in dem dann die Anforderungen an die Familie beschrieben werden, die mit dem Eintritt der Kinder in die Adoleszenz entstehen. Es wird aufgezeigt, wie die Umgangsformen der Eltern und ihre Reaktionen auf die Veränderungen in der Adoleszenz aussehen können, wie Eltern die Entwicklung der Jugendlichen fördern oder auch erschweren können und wie wichtig im Allgemeinen die Familie für Jugendliche gerade heutzutage ist. Abschließend erfolgen im fünften Kapitel eine kurze Zusammenfassung der Haupterkenntnisse und deren Einordnung in den Gesamtzusammenhang aktueller familiärer Entwicklung.
Allgemein gilt, dass ich in dieser Arbeit zwischen den Begriffen Jugend und Adoleszenz nicht streng unterscheiden werde. Der Begriff Pubertät bezieht sich dagegen ausdrücklich auf die biologischen Vorgänge in der Jugendzeit.
Des Weiteren werde ich hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Endungen zu Gunsten einer besseren Lesbarkeit die männliche Form bevorzugen. Wenn es allgemein um Jugendliche geht, sind weibliche Jugendliche ausdrücklich mit eingeschlossen.
KAPITEL 1
1. Das Jugendalter – vom Kind zum Erwachsenen
„Jugend“ – was verbirgt sich hinter diesem Begriff, der sowohl im wissenschaftlichen als auch im alltäglichen Sprachgebrauch so oft verwendet wird? Ist es einfach nur die Bezeichnung für eine der biographischen Phasen im menschlichen Lebenszyklus? Ist es ein Schwebezustand zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter? Beschreibt Jugend eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe? Welche Bedeutung hat die Jugend aus der Sicht eines Jugendlichen in seiner ganz persönlichen Situation?
Trotz der häufigen und selbstverständlichen Verwendung des Begriffes „Jugend“ ist es eines der Begriffe, die in der Wissenschaft und auch im alltäglichen Leben nicht eindeutig und einheitlich definiert sind. Hinter diesem Begriff verbergen sich verschiedene Vorstellungen und Theorien. Dabei wurde „Jugend“ noch nie zuvor so intensiv diskutiert, thematisiert und erforscht wie im 20. Jahrhundert[1].
Die Anfänge der Auseinandersetzung mit dieser Thematik liegen noch nicht weit zurück. Dieses hat seinen Grund darin, dass die Jugend, wie sie heute verstanden wird, nicht zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte zum Leben gehörte. Sie ist also ein historisches Phänomen[2]. Zudem kann sie auch als ein gesellschaftliches Phänomen nicht losgelöst von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur gesehen werden.
1.1 Jugend als historisches und gesellschaftliches Phänomen
Bereits in der Antike und im Mittelalter war immer wieder von der Jugend die Rede (wenn auch nur auf männliche Jugend oberer Schichten der Gesellschaft begrenzt), dennoch kannten die meisten historischen Kulturen und Gesellschaften keine Lebensphase, die man mit der mehrjährigen Jugendzeit im heutigen Sinne gleichsetzen könnte. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle fand man eine soziale und kulturelle Regel der Dreiteilung der Lebensphasen in Kindheit, Erwachsenenalter und Alter vor[3].
Aus historischer Sicht ist die Jugendphase noch relativ jung, denn noch vor dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Jugend oft noch gar nicht als eine eigenständige Lebensphase zwischen Kindheits- und Erwachsenenalter gesehen. Die Herausbildung eines „modernen“ Jünglings- und Jugend-Ideals vor allem durch Jean-Jacques Rousseau, der auch „Erfinder“ der Jugendphase genannt wird, konnte jedoch schon Ende des 18. Jahrhunderts verzeichnet werden[4]. Seit dieser Zeit wurde in der Pädagogik der Aufklärungszeit die Jugend als allgemeine Entwicklungsphase angesehen, dabei hat sie sich durch zwei wesentliche Prozesse immer deutlicher herauskristallisiert:
- „die zunehmende Familiarisierung und Verhäuslichung im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Familie;
- die zunehmende Pädagogisierung der Lebensphasen Kindheit und Jugend seit der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht (18. und 19. Jahrhundert)“[5].
Durch diese beiden Prozesse wurden die ersten grundlegenden gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen, damit die Jugend sich als eine eigenständige Lebensphase etablieren konnte. Nun war es für Jugendliche nämlich möglich, immer längere Zeit in ihren Herkunftsfamilien zu verbringen. Institutionen wie Schule gehören außerdem zu den notwendigen Vorbedingungen einer peerorientierten und kulturell besonderen Lebensphase Jugend, da sie als Kristallisationskern von Gleichaltrigenkulturen wirken[6].
Diese Entwicklung führte dazu, dass mit der Industrialisierung und Verstädterung seit Ende des 19. Jahrhunderts die Jugend zu einem universellen Phänomen geworden ist[7]. „Die zunehmende Bedeutung erworbener Fähigkeiten [...] machten eine neue biographische Phase an der bisherigen Nahtstelle des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen notwendig“[8]. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam es nämlich immer mehr zu einem Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften und somit zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit einer langjährigen Schul- und Berufsausbildungsphase. Zudem war die industrialisierte Gesellschaft auch immer mehr im Stande, eine entsprechend lange Ausbildungsphase für eine gesamte Generation zu finanzieren[9]. So waren weitere gesellschaftliche Voraussetzungen geschaffen, damit die Existenz einer Jugendphase überhaupt ermöglicht werden konnte.
Vom 19. bis zum 20. Jahrhundert, welche die Jahrhunderte der eigentlichen Jugendgeschichte[10] darstellen, wird die Jugend auch als gesellschaftliches oder kulturelles Phänomen herausgestellt. Die Kulturabhängigkeit der Jugend zeigt sich beispielsweise daran, dass man noch in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg eine Unterscheidung zwischen einer „Kurz- oder Primitivpubertät“ der unteren Sozialschicht und der „Kulturpubertät“ der mittleren und oberen Sozialschichten, in denen Jugendliche u. a. mehr Zeit für die Schul- und Berufsausbildung zur Verfügung hatten, treffen konnte[11].
Der Aspekt der gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse auf das Verständnis von der Jugendzeit lässt sich noch einmal besonders deutlich an den sogenannten Naturvölkern oder „primitiven“ Gesellschaften aufzeigen. In den genannten Gesellschaften findet sich heute noch keine ausgedehnte Jugendphase. Der Übergang von der Kindheitsphase in das Erwachsenenalter wird vielmehr durch Initiationsrituale für beide Geschlechter markiert[12]. Die Kinder werden also nicht langsam in die Welt der Erwachsenen eingeführt, sondern gehören abrupt offiziell dazu. Die Dreiteilung der Lebensphasen in Kindheit, Erwachsenenalter und Alter, wie man sie aus der Antike und aus dem Mittelalter kennt, lässt sich hier wieder entdecken.
1.2 Zur Abgrenzung der Lebensphase Jugend
In den Industrieländern betrachtet man die Jugend in der heutigen Zeit kaum noch bewusst als ein historisches und gesellschaftliches Phänomen, da sie als Lebensphase ganz selbstverständlich und unausweichlich zum Leben dazugehört. Doch welche Vorstellungen hat man heute bezüglich dieses so selbstverständlichen Lebensabschnittes?
1.2.1 Dimensionen des Jugendbegriffs
Der Beginn bzw. der Verlauf des zweiten Lebensjahrzehntes wird heutzutage unterschiedlich bezeichnet. Am geläufigsten sind die Begriffe „Jugend“, „Pubertät“ und „Adoleszenz“, die ebenfalls unterschiedliche Bedeutungsinhalte und Vorstellungen von der Entwicklung des Menschen aufweisen.
In der Literatur findet man heute keine allgemeingültige Definition des Jugendalters. Der Unklarheit in Bezug auf eine genaue Bestimmung der Jugendphase liegen u. a. folgende Aspekte zugrunde: jeder, der den Begriff „Jugend“ definieren möchte, bringt zunächst eigene Erfahrungen aus seiner Jugendzeit mit; außerdem wird sein Denken von seinem Menschenbild, seiner beruflichen Sozialisation und dem damit verbundenen Ansatz (körperliche, psychische oder soziale Entwicklung als Blickrichtung) geprägt.
Bereiche der Wissenschaften wie Medizin, Biologie, Psychologie, Soziologie und Recht beschäftigen sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Jugendalter und beschreiben die Jugend jeweils aus ihrer wissenschaftlichen Sicht:
- Aus biologischer und medizinischer Sicht ist Jugend eine Lebensphase zwischen dem Kindheits- und dem Erwachsenenalter, die durch bestimmte körperliche Veränderungen im Menschen wie z. B. Wachstumsschub, Gestaltwandel und Entwicklung der Geschlechtsmerkmale gekennzeichnet ist.
- Soziologisch betrachtet ist Jugend zum einen eine gesellschaftliche Teilkultur und zum anderen eine biologisch mitbestimmte, aber sozial und kulturell „überformte“ Lebensphase. In dieser Zeit weist das Individuum typische als „jugendlich“ bezeichnete Verhaltensweisen und Einstellungen auf und erwirbt die Voraussetzungen für ein selbstständiges Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen[13].
- In der Psychologie ist von der Jugendzeit (13. bis 18. Lebensjahr) als einer Zeit der Identitätssuche (vgl. Kap. 2.4.4) die Rede, die sich durch eine Identitätskrise auszeichnet. Der Jugendliche durchlebt diese Zeit in einem Zustand des „Moratoriums“, der ihm Experimentierhandeln ermöglicht, um zu einer Ich-Identität zu gelangen[14].
- Jugend ist auch ein juristischer Terminus. Nach den rechtlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland wird derjenige als Jugendlicher angesehen, der das 14., aber noch nicht das 18. Lebensjahr erreicht hat. Wer bereits 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist, zählt als junger Volljähriger15. Weitere Bestimmungen beziehen sich auf verschiedene Teilreifen des Jugendalters: beispielsweise ist ein 12-Jähriger beschränkt religionsmündig und ein 16-Jähriger bereits bedingt ehemündig[16].
Das moderne Alltagswissen liefert ebenfalls eine Kernvorstellung zur Jugendzeit: „Diese Lebenszeit ist nach der friedlichen und freundlichen Kindheit eine Periode der großen Probleme, des Streits mit den Eltern, des Rückgangs der Lernbereitschaft, der Pöbelhaftigkeit und Ruppigkeit, kurz sie ist eine Lebensphase des ´Sturm und Drang´“[17]. Diese häufige Vorstellung der Erwachsenenwelt wird aber mittlerweile durch die Behauptung, dass viele Jugendliche auch ohne große Schwierigkeiten durch die Jugendzeit gehen, relativiert.
Im Allgemeinen kann man festhalten, dass Jugend diejenige Lebensphase im Lebenszyklus eines Menschen bezeichnet, die zwischen Kindheit und Erwachsenenalter liegt und mit dem Einsetzen der Pubertät (vgl. Kap. 1.3.1) beginnt. Als Markierung für das Ende dieser Lebensphase wird oft das Erreichen der ökonomischen und sozialen Verselbstständigung[18] vorgeschlagen. Die Jugendphase umfasst nach allgemeinem Verständnis die Zeit vom 12. bis zum 20. Lebensjahr. Diese Altersbegrenzung ist jedoch „sowohl nach unten wie auch nach oben äußerst unscharf“[19].
1.2.2 Entstrukturierung der Jugendphase
Immer wieder wird die Frage nach der Abgrenzung der Jugendphase gestellt. Die Versuche, die Jugend durch genaue Bestimmungsmomente abzugrenzen, haben heutzutage jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen nur relative Gültigkeit.
Heute wird von einer „Entstrukturierung der Jugendphase“ gesprochen[20]. Seit den 80er Jahren haben die Prozesse der Entstrukturierung der Lebensphase Jugend die „Homogenisierung der Jugendphase“ in den 60er Jahren überlagert[21]. Es gibt nicht mehr „die Jugend“!
Die Entstrukturierung der Jugendphase äußert sich darin, dass die Abgrenzungen zwischen Jugendalter und Kindheitsalter und ebenso zwischen Jugendalter und Erwachsenenalter zunehmend schwieriger werden. Wissenschaftliche Untersuchungen ergeben beispielsweise, dass sich der Übergang vom Kindheitsalter ins Jugendalter in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat. Die zeitliche Vorverlagerung der Pubertät („Akzeleration“) hat ihre Gründe u. a. in der guten Ernährung und in der entsprechenden ärztlichen Versorgung. Mit den
körperlichen Vorverlagerungen korrespondiert außerdem ein früherer kognitiver Entwicklungsstand, zu dem besonders Medien entscheidend beitragen, und „schließlich geht mit der kognitiven und körperlichen Reifung die soziale Verfrühung Hand in Hand“[22].
Eine genaue Altersgrenze für den Beginn der Jugendphase kann man heute nicht mehr setzen, genauso ist aber auch eine Markierung für das Ende dieses Lebensabschnittes kaum möglich. Neben der zeitlichen Vorverlagerung der Jugendphase ist ebenso eine zeitliche Ausdehnung dieser Lebensphase nach hinten zu beobachten[23]. Diese Ausdehnung steht mit der lebensgeschichtlichen Ausdehnung der Schulzeit und der darauf folgenden Berufsausbildung im unmittelbaren Zusammenhang. „Versteht man unter Erwachsen-Sein die feste Verankerung in einem Berufssystem, kann eine Ausdehnung der Jugendphase bis in die 20er, ja 30er Jahre konstatiert werden“[24]. An dieser Stelle wird in der Jugendforschung von „Postadoleszenz“ gesprochen, damit ist eine Gruppe von Menschen gemeint, die finanziell und materiell noch nicht selbstständig sind, jedoch die soziale und kulturelle Verselbstständigung bereits erreicht haben.
Ein weiterer Grund für das „Verwischen“ der Grenzen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ist außerdem auch in dem Bemühen der Erwachsenengeneration, „sich
ein möglichst jugendliches Aussehen und Auftreten zu bewahren“[25], zu sehen.
Die Entstrukturierung der Jugendphase geht mit der Pluralisierung der Lebensformen Jugendlicher einher. Heute ist Jugend auf keinen Fall gleich Jugend. Die Vielfalt der Lebensgestaltung, die verschiedensten Jugend(sub)kulturen mit ihren eigenen Lebensstilen und die unterschiedlichen zeitlich versetzten Teilübergänge ins Erwachsenenalter lassen kein einheitliches Bild über die Jugendphase entstehen.
Die beiden genannten Charakteristika (Entstrukturierung und Pluralisierung) der Jugendphase haben ihren Motor in den Entwicklungstendenzen und Entwicklungsprozessen der postmodernen Gesellschaft – die Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft. Die beiden Prozesse, die zu wesentlichen Merkmalen unserer Gesellschaft und somit auch der Jugend geworden sind, führen „zur Auflösung tradierter Sozialstrukturen und zur Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Lebensformen im Zuge der Modernisierungsprozesse
der Gesellschaft“[26]. Dieser soziale Wandel ermöglicht es den einzelnen Individuen und somit auch den Jugendlichen, ihren Lebensentwurf eigenständig zu „konstruieren“. Das Spektrum an biographischen Wahlmöglichkeiten hat sich in den letzten Jahren besonders auch für die Heranwachsenden enorm vergrößert[27].
Die positive Seite der Individualisierung mit den erhöhten Freiheitsgraden und der Möglichkeit zur individuellen Lebensgestaltung hat aber auch ihre Kehrseite: die vermehrten Freiheiten können bei Jugendlichen auch zu einer „Zunahme der Orientierungsdilemmata und der psychosozialen Problembelastungspotentiale“[28] führen. Viele Entscheidungen, die früher die Herkunftsfamilie oder die Gesellschaft übernommen hat, müssen heute von den einzelnen selbstständig getroffen werden, ebenso können die Richtlinien für eine Entscheidung selbst gewählt werden. Diese Autonomie kann aber nicht nur als Gewinn erlebt werden, sondern auch als Belastung und Überforderung aufgrund der Tragweite bestimmter Entscheidungen.
Wenn es jedoch um Individualisierung, die daraus resultierende Entstrukturierung der Jugendphase und Pluralisierung der Lebensformen Jugendlicher geht, bedeutet das nicht, dass es keine Elemente mehr gibt, welche die Betonung der Gemeinsamkeit des Lebensabschnittes Jugend möglich machen[29]. Es macht auf jeden Fall Sinn, trotz des sozialen Strukturwandels die Kennzeichen besonderer Entwicklungsprozesse und wesentliche Aspekte der Sozialisation Jugendlicher zu thematisieren.
1.3 Entwicklungsprozesse im Jugendalter
Die Jugendphase ist eine Zeit der vielen intensiven und weitreichenden Veränderungen. Sie betreffen jeden Lebensbereich des Jugendlichen, sei es den Bereich des Körperlichen, des Psychischen oder des Sozialen. Die Entwicklungsprozesse im Jugendalter verändern die gesamte Wahrnehmung des Jugendlichen und entscheiden auch im Wesentlichen über den Verlauf seiner weiteren Biographie als Erwachsener.
Was passiert nun in dieser besonderen Lebensphase? Im Folgenden werden die körperlichen, die kognitiven und die moralischen Entwicklungsprozesse im Jugendalter angeführt.
1.3.1 Pubertät und Adoleszenz
Wie bereits ersichtlich geworden, besteht in der Jugendforschung keine Einigkeit über eine zeitliche Abgrenzung der Jugendphase. Je nach Wissenschaft und Autor finden sich unterschiedliche altersbezogene Aussagen über den Beginn und das Ende der Jugendzeit. Versucht man, alle Angaben zusammenzufassen, kann man die Jugendphase im Groben auf das gesamte zweite Lebensjahrzehnt ausdehnen, also vom 10. bis zum 20. Lebensjahr. Aufgrund dieser langen Zeitspanne ist es nachvollziehbar, dass die Jugendphase von verschiedenen Wissenschaften in weitere Abschnitte unterteilt wird[30]. Prof. Dr. Kasten schlägt die in Tabelle 1 vorgenommene Zeiteinteilung vor, die sich als praktisch erwiesen hat, „weil sie als Raster verwendet werden kann, in das sich viele Forschungsergebnisse eindeutig verorten lassen. Sie steht zudem weitgehend im Einklang mit Einteilungen des Jugendalters, die in aktuellen entwicklungspsychologischen Lehrbüchern vorgeschlagen werden“[31]. Bei dieser Einteilung werden die geschlechtspezifischen Unterschiede mitberücksichtigt, da die Pubertät bei Mädchen im Durchschnitt eineinhalb bis zwei Jahre früher als bei Jungen beginnt[32]. In Anbetracht der Entstrukturierung der Jugendphase bieten diese Zeitmarken jedoch lediglich Richtwerte an.
Tabelle 1: Phasen von der späten Kindheit bis zum frühen Erwachsenenalter
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Hartmut Kasten, 1999, S. 15.
Trotz der Entstrukturierung der Jugendphase und der Uneinigkeit hinsichtlich der zeitlichen Abgrenzung des Jugendalters, besteht Einigkeit in Bezug darauf, dass die Jugendphase mit dem Einsetzten der Pubertät beginnt. Pubertät ist primär ein biologischer Begriff, der die physiologischen und biologischen Veränderungen bei der körperlichen und sexuellen
Reifung des Menschen umschreibt. Da die körperlichen Reifungsvorgänge für alle weiteren Veränderungen im Jugendalter den Anstoß geben, lässt sich die Pubertät als Beginn der Adoleszenzphase auffassen[33]. Der Begriff Adoleszenz bezieht sich auf die Bewältigung der sozialen und emotionalen Folgen der Pubertät[34] und wird eher in der Entwicklungspsychologie verwendet.
1.3.1.1 Wachstumsprozesse und Entwicklung der Geschlechtsreife
Pubertät ist kein punktuelles Ereignis, sondern vielmehr ein Prozess, der 5 bis 8 Jahre dauert[35]. In dieser Zeit erlebt der Jugendliche wichtige und auffällige Veränderungen seines Körpers, die insgesamt einen besonderen Einschnitt im Leben darstellen.
Beginnend mit der Pubertät erfolgt zunächst ein letzter großer Wachstumsschub, also eine deutliche Zunahme der Wachstumsgeschwindigkeit. Dieser so genannte „puberale Wachstumsschub“ erfolgt bei Mädchen eineinhalb bis zwei Jahre früher als bei Jungen, dabei beträgt das maximale Längenwachstum bei Jungen im Durchschnitt 9,5 cm pro Jahr und bei Mädchen 8 cm pro Jahr. Später fällt das jährliche Wachstum deutlich ab und erreicht zwischen dem 16. und 19. Lebensjahr allmählich den Wachstumsabschluss[36]. Mit dem Wachstumsschub ist eine erhebliche Gewichtszunahme und Entwicklung der Körperkraft verbunden.
Die Wachstumsprozesse bewirken außerdem Veränderungen der Körperproportionen, „was das typisch ´Schlaksige´ an der Figur vieler Jugendlicher ausmacht“[37]. Da nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten die Extremitäten schneller wachsen als der Rumpf des menschlichen Körpers, sind die Bewegungen und die Motorik vieler Jugendlicher ungeschickt und unsicher. Sie erleben ihren Körper oft in Disharmonie und müssen ihn in Bezug auf die motorische Koordination „neu kennenlernen“.
Der Wachstumsschub wird von der Reifung der Geschlechtsmerkmale begleitet. Den Auslöser für diese beiden Entwicklungsprozesse stellt eine ganze Gruppe von Hormonen dar[38].
Die Geschlechtsreifung, die zur Fortpflanzungsfähigkeit des Menschen führt, steht im Zentrum puberaler Entwicklungsprozesse[39], dabei stehen folgende Entwicklungsmerkmale im Vordergrund:
- „Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale wie Brustentwicklung, Schambehaarung, Stimmveränderung, Bartwachstum, Körperbehaarung,
- Primäre Geschlechtsmerkmale (Entwicklung von Penis und Hoden bzw. der Gebärmutter) und sexuelle Reifung im Sinne der Menarche und Spermarche“[40].
Mit der Entwicklung der Geschlechtsmerkmale bildet sich aus einem kindlichen Körper immer mehr ein fraulicher bzw. männlicher Körperbau aus. Diese biologischen Vorgänge führen u. a. zur sexuellen Reifung von Jugendlichen. Auch in diesen Prozessen sind Mädchen den Jungen etwa zwei Jahre voraus. Mit durchschnittlich 13 Jahren erleben Mädchen den Beginn der Geschlechtsreife und somit die Pubertät als Einschnitt insbesondere mit dem Einsetzen ihrer ersten Menstruation (Menarche). Für die Jungen ist der erste nächtliche Samenerguss (Pollution) ein einschneidendes Erlebnis. Bei beiden Geschlechtern geht die Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale diesen Ereignissen voran.
Es ist selbstverständlich, dass trotz des verlässlich ablaufenden biologischen Programms[41] der Beginn und der Verlauf der Pubertät große individuelle Unterschiede und eine auffällige Variationsbreite aufweisen.
1.3.1.2 Psychische Folgen der biologischen Veränderungen
Wie bereits erwähnt, stehen die biologischen Veränderungen der Pubertät am Anfang der Adoleszenzphase. Diese dient der psychologischen Bewältigung der körperlichen und sexuellen Reifung des Jugendlichen[42].
Der Umgang mit den Veränderungen des eigenen Körpers und die Verarbeitung dieser Vorgänge nimmt nun im Leben eines Adoleszenten großen Stellenwert ein, da seine gesamte Gefühls- und Erlebniswelt durch die Pubertät verunsichert und aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Der Eintritt der Geschlechtsreife und die damit verbundenen körperlichen Entwicklungen greifen nämlich „tief in die Seelenstruktur und das Verhalten des Jugendlichen“[43] ein.
Eine ganz zentrale Rolle bei der Bewältigung des Übergangs von der Kindheit ins Erwachsenenalter wird in der Jugendforschung der Sexualität zugewiesen. „Die körperliche Reifung auf der einen Seite, reale und phantasierte soziale Erwartungen und relativ unklare Botschaften von seiten der Elterngeneration machen die Beschäftigung mit Sexualität für die Jugendlichen zu einer schwierigen, gleichzeitig aber auch aufregenden Aufgabe“[44].
Diese Aufgabe besteht darin, die sexuellen Bedürfnisse, die mit der Pubertät erwachen, und die damit zusammenhängenden Verhaltensweisen mit den anderen Aspekten des persönlichen und sozialen Lebens zu vereinbaren und die dazugehörigen Einstellungen, Normen und Werte für sich herauszufinden und zu internalisieren[45].
Der Adoleszent hat zahlreiche weitere psychische Folgen der Pubertät zu bewältigen, die sich auch sozial auswirken. Im Folgenden werden diese zusammengefasst dargestellt[46]:
- Der Adoleszent wird sich nun seines Körpers bewusst, dessen Veränderungen und neue Fähigkeiten (Geschlechtlichkeit) ihn irritieren, erregen und stimulieren.
- Plötzliche Veränderungen im Erscheinungsbild können zum Zweifel an sich selbst führen; der Jugendliche kann sich unter Umständen ´hässlich´ vorkommen.
- Durch das gleichzeitige Anwachsen körperlicher Stärke kann auch ein Gefühl drängender Kraft und Unabhängigkeit im Verhalten Ausdruck suchen.
- Die genitale Reifung veranlasst den Jugendlichen, die Beziehungen zu seiner Familie, aber auch zur Umwelt neu zu definieren. Die Schamgrenzen werden vorverlegt. Es entsteht ein zunächst körperlicher Intimbereich, dessen Ausdehnung dann auch soziale Folgen hat bis zu dem Maße, dass nach den Eltern ein neuer Intimpartner ausgewählt wird.
- Von dem Jugendlichen wird eine größere Selbständigkeit in verschiedenen Entscheidungen, die oft auch die weitere Zukunft bestimmt können (z.B. Schulwahl), verlangt.
- Der Jugendliche ist wegen seiner körperlichen Veränderungen sehr verletzlich. Er verbirgt diese große Verletzlichkeit durch schnelles Sich-Zurückziehen oder aggressiven Habitus, gleichzeitig zeigt er aber die ersten Bemühungen, selbst erwachsene Verhaltenszüge zu produzieren.
Die Adoleszenz stellt einen Jugendlichen vor viele große Herausforderungen, die ihm als Kind bis dahin noch unbekannt waren. In der Adoleszenz wird die selbstverständliche
Welthinnahme des Kindesalters abgeschlossen. Diese Lebensphase wird von neue Erlebnis- und Selbsterfahrungen geprägt[47].
Die Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben, die sich für einen Jugendlichen in der Adoleszenz aufgrund der Pubertät ergeben, werden weiter unten intensiver bearbeitet, da sie das Thema des gesamten 2. Kapitels dieser Arbeit darstellen.
1.3.2 Kognitive Entwicklung
Neben den körperlichen Wachstumsprozessen, die Jugendliche in der Pubertät und Adoleszenz durchleben, entwickeln sie sich in dieser Zeit bemerkenswert auch in kognitiver Hinsicht. Die Entwicklung der kognitiven Funktionen ist nach außen weniger sichtbar als die biologische Reifung, aber auf keinen Fall weniger bedeutsam, da diese Funktionen neue innere Voraussetzungen für das Lernen und eine aktive Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter (siehe Kap. 2) schaffen[48].
Wohl die bedeutendsten und umfassendsten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Kognition verdanken wir heute dem Wissenschaftler Jean Piaget (1896 – 1980). Es gab zwar einige Einwände gegen Piagets Theorie, dennoch kann seine kognitive Entwicklungstheorie, die in mehreren Kulturkreisen im Wesentlichen bestätigt wurde, als empirisch wohlfundiert und praktisch anwendbar gelten[49]. Durch seine intensive Arbeit mit Kindern konnte Piaget fünf Stadien der kognitiven Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen abgrenzen[50]. Im Folgenden wird nur das für das Jugendalter relevante Entwicklungsstadium betrachtet.
Im 11. oder 12. Lebensjahr verzeichnet Piaget den Übergang von konkreten Operationen, die das auf handhabende Gegenstände und anschauliche Informationen beschränkte Denken beschreiben, zum Stadium der formalen Operationen. Dieses letzte Stadium erreicht etwa mit 13 oder 14 Jahren die Gleichgewichtsstufe, d. h. die Vollendung des Stadiums[51]. Dieses formale und abstrakte Denken, das während des Jugendalters ausgearbeitet wird, führt zur vollkommen entwickelten gedanklichen Intelligenz[52]. Der Unterschied zum Denken eines
Kindes besteht darin, dass das formale Denken des Jugendlichen nicht nur auf die Gegenwart gerichtet ist. Der Jugendliche ist fähig, losgelöst von der Wirklichkeit oder von seinen eigenen Anschauungen und Erfahrungen mit Hypothesen zu arbeiten und verschiedenste Theorien zu entwickeln, die nicht unbedingt gegenwartsbezogen sein müssen; das formale Denken besteht demnach in Reflexionen über Operationen, also im Operieren mit Operationen, dabei ist es nicht auf die Abstützung auf konkrete Operationen angewiesen[53]. Bei der Aufstellung von Hypothesen über mögliche Problemlösungen kann der Jugendliche außerdem viele veränderliche Faktoren gleichzeitig im Gedächtnis behalten[54], was für ein Kind im Stadium der konkreten Operationen kaum möglich ist.
Nach Piaget hat das adoleszente Denken bedeutsame Auswirkungen. Es ermöglicht dem Jugendlichen, neue Beziehungen zur Welt und zu sich selbst herzustellen, indem er – anders als das Kind, das sich kritik- und distanzlos an die Umwelt anpasst – ein distanziertes und generalisiertes Verhältnis zu seiner Umwelt aufzubauen vermag[55]. Dieses neue Verhältnis äußert sich in den „typisch jugendlichen“ Verhaltensweisen, die nun den Familienalltag und andere Lebensbereiche prägen, und die beispielsweise das Hinterfragen, das Kritisieren und das Bilden einer eigenen festen Meinung beinhalten, was insgesamt den „normalen“ Ablösungsprozess von der Familie (vgl. Kap. 4.4.2.2) ermöglicht und fördert. Der Jugendliche entwickelt sich zu einer selbstständigen, mündigen Persönlichkeit.
1.3.3 Moralische Entwicklung
Bei der Entwicklung eines Jugendlichen zu einer selbständigen Persönlichkeit spielt ebenso die Entwicklung auf dem Gebiet der Moral eine wichtige Rolle.
Der Begriff „Moral“ spricht von der Ausstattung mit Werten und Normen bzw. mit Verhaltens- und Einstellungsmustern, die unter dem Einfluss der jeweiligen Kultur und Gesellschaft durch Bezugspersonen im Rahmen primärer, später auch sekundärer Sozialisation vermittelt und von einem Individuum verinnerlicht werden[56]. Werte sind dabei in ihrer allgemeinen Form abstrakt und richtungweisend für Normen, die sich vielmehr auf konkretes Verhalten beziehen.
Moralische Werte sind für das kindliche konkrete Denken als Maßstab und Richtschnur aufgrund ihres abstrakten Niveaus noch nicht zugänglich; erst mit dem formalen Denken eines Adoleszenten gewinnen die Entwicklung von und die Ausrichtung an Werten und Idealen an Bedeutung und Aktualität[57].
Mit dem Thema der Moralentwicklung ist untrennbar der Name Kohlberg verbunden. Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) und seine Mitarbeiter haben empirische Untersuchungen zur moralischen Entwicklung vorgelegt. Ihre Ergebnisse wurden oft kritisiert[58], korrigiert und differenziert[59] und haben inzwischen auch Eingang in die pädagogische Diskussion gefunden[60].
In seinem Ansatz bezieht sich Kohlberg auf Piaget, indem er sich an Piagets Stadien der kognitiven Entwicklung anlehnt[61]. Kohlberg fand drei Stadien, die jeweils zwei Stufen umfassen, so dass seine Theorie über die Entwicklung des moralischen Urteils insgesamt sechs Stufen der Moralentwicklung beinhaltet[62].
Nach Kohlberg entspricht das erste präkonventionelle Stadium bzw. Niveau der moralischen Denkebene der meisten Kinder bis zum 9. Lebensjahr, einiger Jugendlicher und vieler Straftäter. Die zweite konventionelle Ebene ist die moralische Denkebene der meisten Jugendlichen und Erwachsenen, und die dritte postkonventionelle Ebene wird nur von einer Minderheit von Erwachsenen erreicht[63].
Der Begriff „konventionell“ bedeutet in Kohlbergs Theorie, dass man die Konventionen, also die Regeln und Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft, internalisiert hat und ihnen aus dem Grund entspricht, weil sie eben die Konventionen der Gesellschaft sind. Demnach ist ein Individuum auf präkonventionellem Niveau nicht im Stande, die konventionellen Erwartungen zu verstehen oder zu unterstützen, auf postkonventionellem Niveau jedoch macht sich ein Individuum von den Regeln und Erwartungen anderer unabhängig und definiert seine Werte im Rahmen selbstgewählter moralischer Prinzipien[64].
Wie bereits gesagt, ist das präkonventionelle Stadium u. a. besonders für die Kindheit charakteristisch, für die Jugendphase ist dagegen das konventionelle Niveau kennzeichnend[65], welches von Konformität und Loyalität gegenüber der sozialen Ordnung und den Erwartungen einzelner Personen oder Gruppen[66] spricht. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Jugendliche alle Werte und Normen einfach kritiklos internalisiert, vielmehr kommt es in der Adoleszenz zur intensiven Reflexion, was nun durch die formalen Denkoperationen auch möglich wird. Diese Reflexion bringt es mit sich, dass der Adoleszent sich selbst, seine Mitmenschen, die moralischen Werte und Normen der Gesellschaft und die Welt an sich hinterfragt und bezweifelt[67]. Er versteht zwar das konventionelle Denken und kann damit umgehen, aber dieses Denken wird als willkürlich und relativ angesehen. Dem relativistischen Hinterfragen („Jedem das Seine“) und dem persönlichen Relativismus („Ich kann moralische Urteile über mein Verhalten fällen, aber nicht über das von anderen“) des Adoleszenten liegt ein Interesse an Gerechtigkeit und individuellen Rechten zugrunde[68].
Auch auf dem Gebiet der Moralentwicklung ist zu beachten, dass es viele individuelle Unterschiede gibt, folglich kann man aus der Stufenfolge nach Kohlberg nicht automatisch schließen, dass es eine genaue Alterszuordnung gibt[69].
Kohlbergs Theorie über die Entwicklung des moralischen Urteils ist sehr komplex und kritisch zu betrachten – Kohlberg selbst hat seine Auffassungen oft revidieren und korrigieren müssen –, sie ermöglicht jedoch eine hilfreiche Vorstellung über die verschiedene Art und Weise bzw. Stufen des moralischen Denkens. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass das moralische Handeln je nach Situation dem moralischen Denken auch widersprechen kann. Es ist ein Unterschied, ob man moralische Urteile über ein abstraktes Problem zu fällen hat, oder ob die jeweilige Situation, über die man zu entscheiden hat, einen selbst in seiner Existenz betrifft.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Jugendphase bezüglich der Moralentwicklung für Jugendliche eine besondere Herausforderung darstellt, bei der die Herausbildung eigener Wertvorstellungen als Richtschnur für die weitere Zukunft im Vordergrund steht.
1.4 Sozialisation im Jugendalter
Nachdem in den vorherigen Abschnitten die wesentlichen Aspekte der körperlichen, kognitiven und moralischen Entwicklungsprozesse im Jugendalter dargestellt wurden, werden im Folgenden einige bedeutende Sozialisationsfaktoren herausgestellt, die für die Persönlichkeitsbildung eines Jugendlichen ebenfalls von zentraler Bedeutung sind.
Unter Sozialisation versteht man heute im Allgemeinen den Prozess der Einordnung des Individuums in eine Gesellschaft. Nach Zimmermanns Definition ist Sozialisation als ein Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt zu verstehen[70]. Mansel und Hurrelmann erweitern diese Definition, indem sie auf die Bedeutung der biophysischen Struktur des Organismus[71] in dem Prozess der Sozialisation hinweisen. Diese Definitionserweiterung macht großen Sinn, da die Auseinandersetzung mit der sozialen und materiellen Umwelt immer in der Wechselbeziehung mit den biologischen Veränderungen und der körperlichen Verfassung eines Individuums steht. Wenn nun im Weiteren von der Sozialisation im Jugendalter die Rede ist, müssen die besprochenen biologischen, kognitiven und moralischen Veränderungen im Jugendalter als Vorraussetzung für eine gelingende Sozialisation im Hinterkopf behalten werden.
Es folgt eine allgemeine Auseinandersetzung mit drei herausragenden gesellschaftlichen Grundgebilden, welche die Sozialisation eines Jugendlichen entscheidend prägen[72]: die Familie, die Gleichaltrigengruppen (Peergroups) und die Schule. Diese Sozialisationsinstanzen werden auch weiter unten mehrmals aufgegriffen, wobei die Familie im 3. und im 4. Kapitel dieser Arbeit das zentrale Thema ist.
1.4.1 Die Familie als ambivalente Bezugsgruppe
Viele Autoren und Forscher der Sozialwissenschaften versuchen, den unübersehbaren Wandel und die Bedeutung der Sozialisationsinstanz Familie zu erfassen (siehe Kap. 3). Es gibt jedoch keine allgemein anerkannte Definition von Familie[73], da es aufgrund der Pluralisierung der Lebensformen „die Familie“ ebenso wie es „die Jugend“ (s. o.) nicht mehr gibt.
Welche generelle Bedeutung hat die Familie nun im Jugendalter? Auf jeden Fall kann festgehalten werden, dass die Herkunftsfamilie auch weiterhin für die meisten Jugendlichen den zentralen Ort für die Herausbildung grundlegender Verhaltensmuster darstellt[74]. Sie bleibt in der Jugendphase in der Regel die wichtigste Bezugsgruppe für Jugendliche[75].
Dennoch geschieht eine Verschiebung in der Bedeutung der Herkunftsfamilie: die Funktion der Familie als universaler Umweltvermittler und umfassendes soziales Beziehungsnetz wird abgebaut, während Prozesse der Ablösung vom Elternhaus immer mehr in den Vordergrund treten[76]. Im Zuge dieser Ablösung vom Elternhaus, die sich auf verschiedene Ebenen (vgl. Kap. 2.4.2), aber nicht auf alle Haltungen und Verhaltensweisen bezieht[77], nimmt die Familie im Jugendalter als Sozialisationsinstanz eine ambivalente Rolle ein.
Auf der einen Seite wird ihr direkter Einfluss auf die Lebensgestaltung des Jugendlichen, der im Laufe der Zeit immer selbstständiger wird, immer geringer; auf der anderen Seite stellt die Familie für den Jugendlichen gleichzeitig ein Bezugssystem dar, zu dem tiefe emotionale Bindungen bestehen, die häufig noch nach der räumlichen Trennung vom Elternhaus die Beziehungen prägen. Die intensive emotionale Bindung rührt daher, dass in den entwickelten Industriegesellschaften die Familie als Wohn- und Lebensgemeinschaft kleiner geworden ist. Und da eine Familie meistens also weniger Personen umfasst, werden die familiären Beziehungen untereinander intensiver erlebt[78].
Loslösung und Bindung charakterisieren demnach das Verhältnis des Jugendlichen zu seiner Familie, so dass man diese als ambivalente Bezugsgruppe bezeichnen kann.
1.4.2 Die Sozialisationsfunktion der Gleichaltrigengruppe
Die veränderte Bedeutung der Herkunftsfamilie für den Jugendlichen hat einen weiteren Grund. In der Jugendphase rückt die Gleichaltrigengruppe (engl.: peergroup; verdeutscht: Peergruppe) immer mehr ins Blickfeld. Für 90 % aller 13- bis 19-Jährigen ist die Vorstellung, keine Freunde zu haben und zu keiner Clique zu gehören, eine „Horrorvorstellung“, danach übernimmt meistens der Partner die Funktion der Gleichaltrigengruppe[79].
Im Allgemeinen gilt die Gleichaltrigengruppe als sozialer Ort spezifischer, oft gegenwartsbetonender Erfahrungen. Sie kann als freizeitgebundene Gesellungsform bezeichnet werden[80]. Neben Familie und Nachbarschaft zählt sie zu den wichtigsten Primärgruppen[81], die aber im Gegensatz zu Familie und Schule auf freiwilliger Mitgliedschaft basiert[82]. Diesem pädagogisch kaum erfassbaren Bereich werden wichtige sozialisierende Entwicklungsfunktionen im Jugendalter zugesprochen[83]:
- Gleichaltrigengruppen sind für emotionales Wohlbefinden unerlässlich, denn sie vermitteln Jugendlichen Orientierung, Stabilisierung, Geborgenheit und Sicherheit. Sie tragen enorm zur Überwindung der Einsamkeit bei und stellen eine Quelle der Zustimmung und Anerkennung von Gleichaltrigen dar.
- Gleichaltrigengruppen sind ein Übungsfeld für Unabhängigkeit, das mehr oder weniger frei von der Kontrolle und den Anforderungen der Erwachsenenwelt ist. Sie bieten die Möglichkeit zur Erprobung neuer Verhaltensweisen und geben Raum zum Experimentieren mit kulturellen Werten und Normen.
- Gleichaltrigengruppen haben eine bedeutende Funktion hinsichtlich der Ablösungsprozesse vom Elternhaus, die durch den Einfluss der Gruppe auf die Einstellungen und das Verhalten des Jugendlichen gefördert werden.
- Gleichaltrigengruppen leisten einen wichtigen Beitrag zur Identitätsfindung und Identitätsentwicklung (vgl. Kap. 2.4.4), indem sie Identifikationsmöglichkeiten, Lebensstile und Bestätigung der Selbstdarstellungen bieten.
- In Gleichaltrigengruppen können sich Jugendliche die „Beziehungsfähigkeit“ aneignen und einüben, welche die Aspekte der Bindung, der Verantwortlichkeit, der Fairness und der Intimität umfasst[84].
Das Interagieren in Gleichaltrigengruppen kann aber auch zu negativen Entwicklungen führen. Beispielsweise können Bekleidungs- und andere Konsumvorschriften, bestimmte Verhaltensweisen und ungeschriebene Regeln zu einem erheblichen Konformitätsdruck führen. Indem Jugendliche dann nur durch Anpassung Anschluss suchen, können sie nicht sie selbst
sein und somit kein Selbstbewusstsein entwickeln[85]. Die Konformitätszwänge können für einen Jugendlichen besonders dann schwerwiegend sein, wenn die Einstellungen und Verhaltensweisen der Gruppe seinen persönlichen Überzeugungen nicht entsprechen, er dem Gruppendruck aber nicht widerstehen kann. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass Peergroups in manchen subkulturellen Varianten[86] ein Übergangsfeld zur Kriminalität darstellen können[87].
Im Großen und Ganzen überwiegt jedoch eine positive Sicht der Gleichaltrigengruppen, die es sogar zu einem lebensgeschichtlichen Höhepunkt bezüglich der Bedeutung von Freunden und Kameraden bringen[88].
Gleichaltrigengruppen verdanken ihre Existenz zunächst den immer länger werdenden Schul- und Ausbildungszeiten, wodurch Jugendliche insgesamt mehr Zeit unter Gleichaltrigen verbringen können. Auch die örtliche Schule trägt Wesentliches dazu bei, dass Freundeskreise entstehen und aufrechterhalten werden können.
1.4.3 Die schulische Sozialisation
Das Jugendalter ist eng und unausweichlich mit der Institution Schule verbunden. Als Pflichtveranstaltung des Staates hat Schule die Aufgabe der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen[89]. Für die Vorbereitung auf das Erwachsenenalter hat sie mindestens drei Funktionen zu erfüllen[90]:
- In der Schule sollen Heranwachsende eine allgemeine Ausbildung bekommen, die ihnen für den Fortbestand der Kultur wesentliche Kenntnisse vermittelt und sie zur Bewältigung von Rollen und Aufgaben eines Erwachsenen befähigt.
- Schule leistet einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung, indem sie Wertvorstellungen vermittelt und z. B. über die Vorbildfunktion von Lehrern das Identifikationsverhalten fördert.
- Schule hat auch die Aufgabe der Förderung eines angemessenen Sozialverhaltens. Sie ist u. a. für die Erlangung gewisser Unabhängigkeit vom Elternhaus und für die Rollenentwicklung des Jugendlichen von Bedeutung.
Die schulische Sozialisation hängt von verschiedenen Faktoren ab. Empirische Erhebungen ergeben beispielsweise, dass das Erreichen kognitiver, affektiver und sozialer Lernziele im engen Zusammenhang mit dem Schulklima steht[91]. Das Schulklima ist dabei am stärksten durch die Beziehungen zu den Mitschülern und den Lehrern bedingt. Besteht guter Kontakt zu Mitschülern und Lehrern, so fühlen sich Jugendliche in der Schule wohl, was ihrer psychosozialen Entwicklung zugute kommt[92].
Die psychosoziale Entwicklung eines Jugendlichen wird auch erheblich durch die Leistungsforderung und -bewertung beeinflusst. Mit der Bewertung der Schulleistungen fühlen sich Schüler meistens auch in ihrer Persönlichkeit beurteilt, was Auswirkung auf ihr Selbstbild und ihr Selbstvertrauen hat[93]. Je nach positiven oder negativen Beurteilungen können sich bei Jugendlichen Einstellungen ihrer eigenen Person gegenüber verfestigen, die dann auch generalisiert werden können und das weitere Leben dementsprechend prägen (z. B. Selbstsicherheit versus Selbstzweifel).
Das System der Leistungsforderung und -bewertung führt zu Selektionsprozessen (Wiederholen des Schuljahres, Entscheidung über Leistungskurse etc.), die über den künftigen beruflichen Werdegang der Schüler entscheiden[94]. Die tatsächliche Berufswahl und Berufsausbildung erfolgt heutzutage jedoch oft viel später, als es noch vor zwei Jahrzehnten war. Die Altersstruktur der Auszubildenden hat sich so stark nach oben verschoben, dass nach dem Soziologen Schäfers die Aussage von einer begünstigten Adoleszenz der Gymnasiasten und Studenten und einer benachteiligten Adoleszenz der früh ins Berufsleben Einsteigenden weitgehend hinfällig geworden ist[95].
Für die Mehrzahl der Jugendlichen bleibt die Schule neben der Familie der bestimmende Eckpfeiler der individuellen und sozialen Existenz[96].
[...]
[1] Vgl. Uwe Sander/Ralf Vollbrecht, in: Uwe Sander/Ralf Vollbrecht (Hrsg.): Jugend im 20. Jahrhundert. Sichtweisen – Orientierungen – Risiken, Neuwied, Kriftel, Berlin 2000, S. 7.
[2] Vgl. Herbert Gudjons: Pädagogisches Grundwissen, Bad Heilbrunn 1995, S. 120.
[3] Vgl. Bernhard Schäfers: Soziologie des Jugendalters. Eine Einführung, Opladen 1998, S. 45.
[4] Vgl. ebenda, S. 50.
[5] Ebenda.
[6] Vgl. Uwe Sander/Ralf Vollbrecht, 2000, S. 7.
[7] Vgl. Helmut Remschmidt: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter, Stuttgart, New York 1992, S. 9.
[8] Klaus Farin: generation-kick.de, Jugendsubkulturen heute, München 2001, S. 27.
[9] Vgl. Peter Rossmann: Einführung in die Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters, Bern 1996, S.134.
[10] Als weiterführende Literatur zur Vertiefung der Jugendgeschichte (Jugendbewegung, Hitlerjugend, Jugend der Nachkriegszeit etc.) sind das Standartwerk von John R. Gillis (1980) „Geschichte der Jugend“ und die Aufsatzsammlung von Uwe Sander/Ralf Vollbrecht (Hrsg.) (2000) „Jugend im 20. Jahrhundert“ zu empfehlen.
[11] Vgl. Hartmut Kasten: Pubertät und Adoleszenz. Wie Kinder heute erwachsen werden, München, Basel 1999, S. 55f.
[12] Vgl. ebenda.
[13] Vgl. Bernhard Schäfers, 1998, S. 21.
[14] Vgl. Herbert Gudjons, 1995, S. 128f.
[15] Vgl GB VIII.
[16] Vgl. Bernhard Schäfers, 1998, S. 25f.
[17] Helmut Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für pädagogische und psychologische Berufe, Opladen 2000, S. 26.
[18] Vgl. Bernhard Schäfers, 1998, S. 22.
[19] Peter Rossmann, 1996, S.133.
[20] Vgl. Dieter Baa>
[21] Vgl. Cathleen Grunert/Heinz-Hermann Krüger, in: Uwe Sander/Ralf Vollbrecht, 2000, S. 192.
[22] Dieter Baacke, 2000, S. 42.
[23] Vgl. ebenda.
[24] Ebenda, S. 43.
[25] Peter Rossmann, 1996, S.134.
[26] Hans Pfaffenberger: Individualisierung, in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.): Fachlexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt am Main 2002, S. 478.
[27] Vgl. Cathleen Grunert/Heinz-Hermann Krüger, 2000, S. 206.
[28] Ebenda.
[29] Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 36.
[30] Vgl. Peter Rossmann, 1996, S. 133.
[31] Hartmut Kasten, 1999, S. 15.
[32] Vgl. ebenda.
[33] Vgl. Helmut Remschmidt, 1992, S. 1f.
[34] Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 36.
[35] Vgl. Bernhard Schäfers, 1998, S. 77.
[36] Vgl. Helmut Fend, 2000, S. 103.
[37] Rita Kohnstamm: Praktische Psychologie des Jugendalters. Vom Kind zum Erwachsenen – Das Individuum – Das Umfeld, Bern 1999, S. 21.
[38] Zur Vertiefung der Thematik „Biologische Aspekte von Pubertät“ bietet Helmut Remschmidt (1992) sehr guten Überblick, S. 24-64.
[39] Vgl. Helmut Fend, 2000, S. 105.
[40] Ebenda. S. 102.
[41] Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 97.
[42] Vgl. Helmut Remschmidt, 1992, S. 2.
[43] Bernhard Schäfers, 1998, S. 77.
[44] Peter Rossmann, 1996, S.150.
[45] Vgl. ebenda, S.151.
46 Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 95ff.
[47] Vgl. ebenda, S. 37.
[48] Vgl. Helmut Fend, 2000, S. 113.
[49] Vgl. Helmut Remschmidt, 1992, S. 95.
[50] Da die Ausführung der einzelnen Stadien zu weit in die Thematik führt und für den Kontext dieser Ausarbeitung nicht weiter relevant ist, genüge eine schematische Darstellung der kognitiven Entwicklungsstadien nach Piaget (Tabelle A.1) im Anhang der Arbeit.
[51] Vgl. Jean Piaget: Probleme der Entwicklungspsychologie. Kleine Schriften, Hamburg 1993, S. 53.
[52] Vgl. Jean Piaget: Psychologie der Intelligenz. Das Wesen der Intelligenz. Die Intelligenz und die sensomotorischen Funktionen. Die Entwicklung des Denkens, Olten 1974, S. 140.
[53] Vgl. ebenda, S. 167ff.
54 Vgl. Paul Mussen: Einführung in die Entwicklungspsychologie, Weinheim, München 1991, S. 64.
[55] Vgl. Helmut Fend, 2000, S. 124f.
[56] Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 152.
[57] Vgl. Helmut Remschmidt, 1992, S. 98.
[58] Eine gute Zusammenfassung der Kritikäußerungen in Bezug auf Kohlbergs Theorie ist in Dieter Baacke, 2000, S. 161-165 zu finden.
[59] Der Unterschied von männlicher und weiblicher Moral, der bei Kohlberg zunächst völlig fehlte und von Carol Gilligan herausgearbeitet wurde, wird in Hartmut Karsten, 1999, S. 69-71 näher beleuchtet.
[60] Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 154.
[61] Vgl. Stefan Aufenanger: Entwicklungspädagogik. Die soziogenetische Perspektive, Weinheim 1992, S. 127f.
[62] Im Anhang wird in der Tabelle A.2 ein Überblick über die sechs Stufen der Moralentwicklung gegeben.
63 Vgl. Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt am Main 1995, S. 126.
[64] Vgl. ebenda, S. 127.
[65] Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 158.
[66] Vgl. Lawrence Kohlberg /Elliot Turiel: Moralische Entwicklung und Moralerziehung, in: Gerhard Portele (Hrsg.): Sozialisation und Moral. Neuere Ansätze zur moralischen Entwicklung und Erziehung, Weinheim, Basel 1978, S. 19.
[67] Vgl. Lawrence Kohlberg: Die Psychologie der Lebensspanne, Frankfurt am Main 2000, S.64.
[68] Vgl. ebenda, S. 140ff.
[69] Vgl. Herbert Gudjons, 1995, S. 118.
[70] Vgl. Zimmermann, Peter: Grundwissen Sozialisation, Opladen 2000, S. 16.
[71] Vgl. Jürgen Mansel/Klaus Hurrelmann: Alltagsstress bei Jugendlichen. Eine Untersuchung über Lebenschancen, Lebensrisiken und psychosoziale Befindlichkeiten im Statusübergang, Weinheim und München 1991, S. 47.
[72] Vgl. Bernhard Schäfers, 1998, S. 115.
[73] Vgl. Peter Zimmermann, 2000, S. 73.
[74] Vgl. ebenda.
75 Vgl. Bernhard Schäfers, 1998, S. [115].
76 Vgl. Jürgen Mansel/Klaus Hurrelmann, 1991, S. 12f.
[77] Vgl. Helmut Remschmidt, 1992, S. 128.
[78] Vgl. Jürgen Mansel/Klaus Hurrelmann, 1991, S. 14.
[79] Vgl. Klaus Farin, 2001, S. 89.
[80] Vgl. Jürgen Mansel/Klaus Hurrelmann, 1991, S. 16.
[81] Vgl. Eckart Machwirth: Die Gleichaltrigengruppe (peer-group) der Kinder und Jugendlichen, in: Bernhard Schäfers (Hrsg.): Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen, Wiesbaden 1999, S. 249.
[82] Vgl. Herbert Gudjons, 1995, S. 124.
[83] Vgl. Rolf Oerter/Eva Dreher: Jugendalter, in: Rolf Oerter/Leo Montada (Hrsg.): Entwicklungspsychologie, Weinheim, Basel, Berlin 2002, S. 310.
[84] Vgl. Helmut Fend: Eltern und Freunde. Soziale Entwicklung im Jugendalter, Entwicklungspsychologie der Adoleszenz in der Moderne, Bern 1998, S. 233.
[85] Vgl. Klaus Farin, 2001, S. 91.
[86] Zur Vertiefung der Thematik „Jugend(sub)kulturen“ bietet Klaus Farin in „generation-kick.de. Jugendsubkulturen heute“ (München 2001) detaillierte Information mit anschaulichen Praxisbeispielen.
[87] Vgl. Herbert Gudjons, 1995, S. 124.
[88] Vgl. Helmut Fend, 1998, S. 234.
[89] Vgl. Peter Zimmermann, 2000, S. 109.
[90] Vgl. Helmut Remschmidt, 1992, S. 166.
[91] Vgl. Herbert Gudjons, 1995, S. 156.
[92] Vgl. Rita Kohnstamm, 1999, S. 195.
[93] Vgl. Peter Zimmermann, 2000, S. 118.
[94] Vgl. Dieter Baacke, 2000, S. 307.
[95] Vgl. Bernhard Schäfers, 1998, S. 136.
[96] Vgl. ebenda, S. 126.
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