Ivan A. Goncarovs "Fregat Pallada": Wahrnehmung und Erzählen


Examensarbeit, 2006

98 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung
1. Eine Reise und ihre Texte
2. Forschungen
3. Zielstellung und Programm der Arbeit

II. (Sinn-) Strukturen des Textes
1. Erzählinstanzen
2. Titel
3. Äußere Struktur: Briefe
4. Kreisform des Textes und der Bewegung
5. Innere Struktur: drei mögliche Deutungen

III. Wahrnehmung und Darstellung des reiseliterarischen Raumes
1. Der erlebte Raum als Wahrnehmungsobjekt: Begriffe
a) Wahrnehmung
b) Der erlebte Raum
2. Das Schiff als erlebter und symbolischer Raum
3. Das Meer – eine Naturlandschaft
a) Das Meer in negativer Korrespondenz
b) Das Meer in positiver Korrespondenz
4. Landschaften als „картины“ oder: Raum und Kunst
a) Ankünfte in England und China
b) Insellandschaften: Madeira und Japan
c) Der locus amoenus oder: wie Wirklichkeit geboren wird
d) Sibirien: Rückkehr zur Wirklichkeit

IV. Wahrnehmung und Darstellung fremder Völker
1. Typische Wahrnehmungsobjekte
a) Sprache
b) Hautfarben
c) Augen
2. Der nationale Charakter: vom Massen- zum Einzelporträt
a) Der Engländer
b) Der Japaner
c) Asien und Europa
3. Frauen

V. Zusammenfassung

VI. Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Sekundärliteratur

I. Einleitung

1. Eine Reise und ihre Texte

Als einziger der großen Realisten der russischen Literatur des 19. Jahrhundert hat Ivan Alek-sandrovič Gončarov (1812 – 1892) eine Reise unternommen, die ihn über die Grenzen Euro-pas hinweg führte. Er übernahm mehr aus Zufall den Sekretärsposten des Vizeadmirals Ev-fimij Putjatin, der von Zar Nikolaj I. 1852 beauftragt worden war, in geheimer Mission mit der Fregatte „Pallas“ nach Japan aufzubrechen, um Handelsbeziehungen mit dem ostasia-tischen Land aufzunehmen. Gončarov begleitete zu jener Zeit den Rang eines Kollegienasses-sors in der Außenhandelsabteilung des russischen Finanzministeriums und war bereits als Autor des Romans Обыкновенная История (1847) und des Fragments Сон Обломова (1849) bekannt. Als das Expeditionskorps am 7.10.1852 von Kronštadt aus in See stach, wusste noch niemand, dass die Fahrt nach Japan schließlich über England, die Westküste Afrikas bis zum Kap der Guten Hoffnung und weiter durch den Indischen Ozean mit Stationen auf Java, in Singapur und Hongkong führen würde. Der 1853 einsetzende Krimkrieg erschwerte die Reise, da die Expedition nun gezwungen war, einer Konfrontation mit englischen und französischen Schiffen auszuweichen und zwischen Japan, China und den Philippinen zu manövrieren, bis sie schließlich im August 1854 den Hafen Ajan im Ochotskischen Meer erreichte, wo Gončarov an Land ging, um über Sibirien nach Westrussland zurückzukehren.

Diese Reise fand eine mehrfache literarische Abbildung. Zunächst berichtete Gončarov seinen Freunden in Petersburg in Briefen von der Fahrt. Nach der Rückkehr wurden zwischen 1855 und 1857 einige dieser Briefe in nicht chronologischer Reihenfolge in verschiedenen Petersburger Literaturzeitschriften publiziert, um schließlich ein Jahr später unter dem Titel Фрегат « Паллада». Очерки путешествия в двух томах in Buchform zu erscheinen. Besonders die dritte Ausgabe von 1879 unterlag einer so starken Überarbeitung seitens des Autors, dass die Literaturwissenschaft von einem sorgfältig durchkomponierten und stilisierten Reisebericht ausgehen muss[1].

Heute scheint dieser Reisetext in der westeuropäischen Slawistik beinahe vergessen zu sein, nachdem er noch von Arthur Luther zu den „schönsten Reisebeschreibungen der Weltliteratur“ (Luther 1924:233) gezählt wurde. Es gibt, meines Wissens nach, keine deutschsprachige Monographie zu diesem Text, auch wenn etwa Hans Rothe den Фрегат « Паллада» in gewissem Sinne für das wichtigste Buch des Autors hält, da Gončarov in ihm seine Ästhetik entwickelt habe (Rothe 1994:109).

Dabei ist die Gattung des Reiseberichts nicht nur aus kulturwissenschaftlicher Sicht spannend, weil in ihr die Konfrontation des Eigenen des Reisenden mit dem Fremden der bereisten Welt literarisch verarbeitet wird und aus der Wahrnehmung und Darstellung des Fremden Rückschlüsse über die Eigenkultur und Weltbilder des Reisenden gezogen werden können. Sie erhebt außerdem oft den Anspruch, „naturgetreu“ oder „wahrheitsgemäß“ über das auf der Reise Erlebte zu berichten und damit zum Bereich der diktionalen Literatur zu gehören. In einer von Gérard Genette aufgestellten Klassifikation von Texten steht sie in Opposition zu rein fiktionalen Texttypen. Da aber auch Reiseberichte in einer bestimmten literarhistorischen Tradition stehen und Ansprüchen eines historischen Publikums genügen müssen, werden oftmals fiktionale Elemente in den Text aufgenommen, um ihn attraktiver, lesbarer zu machen. Deshalb gelten Reisetexte in der Literatruwissenschaft als ein „hybrides“ Genre und werden in aktuellen Untersuchungen zur „friktionalen“ Literatur gezählt (vgl. Ette 2001:43ff.). Es soll u.a. Aufgabe der Arbeit sein, Elemente des friktionalen Charakters des Gončarovschen Reiseberichts aufzuzeigen. Was aber sagen denn bisherige Forschungen zum Problem der Wahrnehmung und Darstellung im Фрегат Паллада ?

2. Forschungen

Boris Ėngel’gardt (1887 – 1942) war einer der ersten kritischen russischen Literaturwissenschaftler, dem die Aufdeckung von Wahrnehmungsprinzipien im Фрегат « Паллада» gelang. Er leitete 1935 die Herausgabe der Briefe Gončarovs von der Weltumseglung in der Zeitschrift Literaturnoe nasledstvo[2] mit einem wichtigen Aufsatz ein, doch seine Monographie über den Reisebericht wurde einem breiteren Lesepublikum erst durch die Teilpublikationen von Teil II und III in Izbrannye trudy[3] und von Teil IV bis VIII in Band 102 der Literaturnoe nasledstvo[4] im Jahre 2000 vollständig zugänglich. Ėngel’gardts Untersuchung führt in ihrem zweiten Teil den Nachweis, dass die im Фрегат « Паллада» beschriebene Reise nicht mit der tatsächlich stattgefundenen übereinstimmt[5]. Der sowjetische Wissenschaftler verglich Gončarovs Text mit mehreren anderen Dokumenten über diese Reise, so z.B. Aufzeichnungen für die russischen Ministerien aus dem Archiv der Kriegsmarine und vor allem den Briefen Konstantin Nikolaevič Pos’ets (1819-1899), einem weiteren Begleiter Putjatins auf der Mission nach Japan und Vertreter der Akademie der Wissenschaften.

Aufgrund dieses Unterschieds von „erlebter“ und beschriebener Wirklichkeit dürfe der Bericht Gončarovs nicht als Dokument einer Reise, sondern müsse als literarisches Werk gelesen werden (Ėngel’gardt 1995:318f.). Dies führt den Forscher zu einer textinhärenten Analyse mit der Suche nach den Gründen für dieses Auseinanderdriften von empirischer und beschriebener Wirklichkeit und nach den künstlerischen Verfahren seiner Verwirklichung.

Die Überwindung der Romantik, eine der Hauptaufgaben des Reiseberichts sowie der Romane Gončarovs, zeige sich in einer Ablösung romantischer Landschafts- und Weltbeschreibung durch ein „монистическое воззрение на жизнь“ (Ėngel’gardt 2000:60). Romantische Stereotype für den „Wilden“, „Sturm“ und andere Naturerscheinungen, die auf dem Glauben an bereits in der Natur vorgefertigte Formen mit ästhetischer Bedeutung basieren, würde durch eine Suche nach der den Objekten immanenten Form verdrängt, so wie „Typen“ und „Helden“ durch „Charaktere“ ersetzt würden (Ėngel’gardt 2000:62ff.).

Die vergleichende und an der Textgenesis interessierte Methode Ėngel’gardts will außerdem nachweisen, dass Gončarov bereits vor Antritt der Reise eine literarische Form für seine Aufzeichnungen gesucht, auch gefunden habe, nach der der Reisebericht ursprünglich als Fortsetzung seines Romanes Обломов geplant wurde (Ėngel’gardt 1995:259f.). Der Hauptgedanke Ėngel’gardts aber, dass der Фрегат « Паллада» eine „hybride“ bzw. „friktionale“ Textform sei, bildete den Ausgangspunkt für weitere, vor allem postsowjetische Forschungen zu diesem Text.

V. Michel’sons Monographie Гуманизм И. А. Гончарова и колониальный вопрос (1965) steht in der Tradition einer sowjetischen Literaturwissenschaft, die Gončarovs Reisebericht als ein Werk des kritischen Realismus liest, in dem der russische Fortschrittsgedanke dem Kolonialismus der westlichen Nationen USA, Großbritannien und Frankreich gegenüberge-stellt wird. Gončarov wurde von den 1920er bis in die 1960er Jahre zwar eher als humanistischer Vertreter der Bourgoisie angesehen. So wirft z.B. N.K. Piksanov Gončarov einen „сильно ограничен[ный] реализм“ und „односторонность“ vor. Er sei sozusagen „nicht genug Realist“ im Sinne des sozialkritischen Realismus gewesen, da er z.B. die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter in England und der Fabrikarbeiterinnen in Manila einfach übergehe, übersehe (Piksanov 1946:39). Doch bei Michel’son verwandelt sich der Autor in einen liberalen Abolitionisten und scharfen Kritiker des Kapitalismus (Michel’son 1965:14f.). Die Frage nach Wahrnehmungsprinzipien der reisenden und schreibenden Figuren scheint mir bei Michel’son allein auf deren kapitalismuskritische Ausrichtungen beschränkt, was wiederum den Eindruck von Einseitigkeit in der wissenschaftlichen Analyse hervorruft[6].

Die neuere russische Forschung zu Gončarovs Reisebericht, als deren Vertreter an dieser Stel-le E.A. Krasnoščekova und V.A. Nedzveckij genannt seien, geht von dem von Ėngel’gardt aufgedeckten „hybriden“ Charakter des Textes aus und sucht den Schlüssel zur Entzifferung seiner Friktionalität u.a. in den Parallelen, die der Reisende so oft zwischen fremder und eige-ner Kultur zieht (Krasnoščekova 1993a:66). Krasnoščekova macht verschiedene Strategien der Wahrnehmung und Beschreibung des erzählten Ichs aus. Dazu zählen neben „вглядывание“ und „вдумывание“ in einzelne Völker- und Persönlichkeitspsychologien die beiden Leitmotive des „сон“ und des „пробуждение“ (vgl. Krasnoščekova 1992:21, 1993a:67), anhand derer die besuchten Länder regelrecht klassifiziert werden. Die Autorin untersucht außerdem, wie das erzählte Ich sich zu den einzelnen nationalen Mentalitäten posi-tioniert und das erzählende Ich in den Beschreibungen ein Zivilisationsideal verfolgt, in dem christlicher Glaube und am Westen orientierter materieller und sozialer Fortschritt, der sich universal durch die Anstrengungen der ganzen Menschheit verwirklicht, miteinander verbun-den werden (Krasnoščekova 1993a:68). Nedzveckij dagegen versucht in seinen Schriften den Nachweis zu erbringen, dass Gončarov mit dem Фрегат « Паллада» einen neuen Romantyp geschaffen habe: den „роман географический, так как его хронотоп аналогичен не внутриобщественному и локальному, но всемирному пространству и процессу, а «действующими лицами» выступают народы, страны и целые континенты“ (Nedzveckij 1993:55). Der Tradition Ėngel’gardts folgend bettet Nedzveckij seine Interpretation in das Gesamtwerk Gončarovs ein, dessen Zusammenhang unter anderem in dem strukturbildenden dialektischen Prinzip von These, Antithese und Synthese und in Analogien der Aktantenstrukturen zum Ausdruck komme. Nur seien es in den Очерки путешествия nicht mehr handelnde Figuren und deren extreme Lebenseinstellungen, wie z.B. Aleksandr und Petr Aduev in der Обыкновенная история, die aufeinander treffen, sondern Völker, Länder, ganze Kontinente und Zivilisationstypen. Dadurch entstehe im Text ein Weltbild, das zwar auf empirischem Material gründe, aber um eine ursprüngliche humanistische Idee, ein Gesellschaftsideal des Erzählers kreise und somit vom Autor mittels eigener Systembildung erst geschaffen werde (Nedzvesckij 1993:55). Sowohl Krasnoščekova als auch Nedzveckij unterstützen mit ihren Analysen die These vom friktionalen Charakter der Очерки путешествия.

Diese beiden Forscher sind Teil einer in den 1990er Jahren neu aufkommenden Welle der russischen Gončarovforschung, die in den Jahren 1993 und 2003 mit zwei Sammelbänden zu den Gončarov-Konferenzen in dessen Heimatstadt[7] hervortritt, wobei das Interesse an dem Фрегат Паллада nachzulassen scheint bzw. dieser vor allem auf seine intertextuellen Be-ziehungen zur Romantrilogie Gončarovs hin untersucht wird.

Der Sammelband des deutschen Gončarov-Spezialisten Peter Thiergen, der anlässlich des 100. Todestages des Schriftstellers nach einem Symposium in Bamberg herausgegeben wurde[8], weist mit den Aufsätzen von Michaela Böhmig und Hans Rothe zwei Untersuchungen zur Ästhetik bzw. Poetik des Schriftstellers auf, die für die vorliegende Arbeit wichtige Anregungen liefern. Sie behandeln hauptsächlich die Frage nach der Auffassung von Realität und Realismus, die in den Texten Gončarovs problematisiert wird.

3. Zielstellung und Programm der Arbeit

Die gesamte vorliegende Analyse basiert auf dem bereits im Titel der Arbeit sichtbaren, grundlegenden Unterschied zwischen Wahrnehmung und Darstellung. Die Darstellung bzw. das Erzählen ist die Ebene des discours, die Erzähloberfläche, die einer vom erzählenden Ich festgelegten Ordnung folgt. Die Wahrnehmung, von der im Folgenden die Rede sein soll, ist dagegen eine Kategorie der histoire, der Figur im Text, ein Verhalten des erzählten Ich. Es handelt sich dabei nicht um die empirische Wahrnehmung des historischen Reisenden Ivan Gončarov, die natürlich Voraussetzung für eine Darstellung in Form eines Berichts war, sondern um eine dargestellte, d.h. erzählerisch konstruierte Wahrnehmung. Zwischen den beiden Ebenen der Darstellung und Wahrnehmung gibt es für unser Anliegen eine eindeutige Hierarchie. Eine Analyse von Wahrnehmung kann methodisch nur auf einer Untersuchung der Darstellung basieren. Sie könnte außerdem insofern sehr interessant sein, als dass die Darstellung der Wahrnehmung literarischer Figuren und die Darstellung einer Wirklichkeit auch die Wahrnehmung des Lesers von Wirklichkeit bestimmen können.

Ausgehend von den bisherigen Forschungen, die bestimmte Wahrnehmungsmuster in Hin-sicht auf ein Weltbild des Textes aufdeckten, verfolgt diese Arbeit ein mehrschichtiges Ziel. Sie möchte einerseits Verfahren des Textes aufzeigen, mit denen die Reise, die erlebte Wirklichkeit und das auf ihr Wahrgenommene dargestellt wird. Andererseits geht es ihr darüber hinaus um die Frage, wie die Wahrnehmung des Reisenden an sich zur Darstellung kommt bzw. was wir über die Konstruktion der Wahrnehmung dieser Figur sagen können. Die Arbeit versteht sich damit gleichzeitig als ein Versuch, sich von herkömmlichen Mustern der Analyse des Reisenden zu trennen, die in ihm verschiedene Typen sehen, und stattdessen von verschiedenen Wahrnehmungsformen auszugehen, die jeweils von einer Figur, dem erzählten Ich, angewendet werden.

Der Darstellung der Reise und des Textes als Ganzem dient der folgende größere Abschnitt der Arbeit (Kapitel II), in der verschiedene Sinnstrukturen des Фрегат Паллада herausgear-beitet werden sollen, die in seinen Paratexten, äußeren und inneren Formen angelegt sind.

Die wahrnehmungstheoretischen Grundlagen für die Frage nach der Konstruktion von Wahrnehmung kommen nicht aus dem psychologischen, sondern aus dem Bereich der deutschen Gegenwartsphilosophie, namentlich der Ästhetiktheorien Martin Seels und Gernot Böhmes (vgl. Kapitel III, 1). Sie sind dem großen Kapitel III, das sich dem Wahrnehmungsobjekt des reiseliterarischen Raumes widmet, vorgeschaltet. Die grundlegende Dimension des dreidimensionalen, erlebten Raumes scheint mir ein idealer Gegenstand zur Untersuchung eines Wirklichkeitsverständnisses des Reisenden und des Schreibenden zu sein, da gerade an ihm Unterschiede zu anderen literarischen Wahrnehmungsformen, beispielsweise romantischen, demonstriert werden (können). Über die zentralen Räume des Schiffes (III, 2) und des Meeres (III, 3) gelangen wir im letzten Teil dieses Kapitel zur Frage der Verbindung von Wirklichkeit und Malerei bzw. Imagination, weil uns das Medium der картина durch die verschiedenen reiseliterarischen Orte der Reise führen wird (III, 4).

Als Gegengewicht dazu ist der dritte große Abschnitt der Arbeit (Kapitel IV) der Wahrneh-mung und Darstellung verschiedener Aspekte der sozialen Dimension des Reiseberichts, d.h. der dem Reisenden fremden europäischen und nicht-europäischen Völker, gewidmet. Es kann hier nicht, genauso wenig wie beim Raum, um eine vollständige Aufarbeitung aller Facetten dieses Problems gehen. Ich habe vielmehr zu Beginn bisher unberücksichtigte Aspekte wie die Sprache, die Hautfarbe oder die Augen (IV, 1) als typische Wahrnehmungsobjekte an Menschen herausgegriffen, um an ihnen Grundprinzipien der beiden zentralen Phänomene herauszustellen. Ihnen folgt eine Erörterung der Verfahren des Massen- und Einzelporträts an den Personengruppen der Engländer und der Japaner (IV, 2). Erst mittels dieser sozialen Dimension kann im Sinne Lotmans die „структура пространства текста“ als ein „модель структуры пространства вселенной“ gelesen werden (Lotman 1970:266), das bereits Nedzveckij nachwies. Ein letzter Abschnitt soll als Versuch verstanden werden, Modelle der Wahrnehmung von Frauen zu erörtern (IV, 3).

Die Struktur der Arbeit folgt demnach einer Ordnung ausgewählter Wahrnehmungs inhalte, ihrer Objekte, nicht einem Paradigma von Wahrnehmungs weisen. An dieser Vorgehensweise wird die Universalität bestimmter Wahrnehmungsmodi, so hoffe ich, deutlich werden.

Die Очерки путешествия stehen in einem starken intertextuellen Feld. Das erzählende Ich bezieht sich auf mehr als dreißig namentlich erwähnte Prätexte[9] diktionalen Charakters, meist andere Reiseberichte. Fiktionale Prätexte sind oft in Form von Zitaten oder Motiven präsent[10], so dass allein ihre vollständige Aufarbeitung ein größeres Unterfangen wäre. Die vorliegende Untersuchung bedient sich der intertextuellen Bezüge an solchen Stellen, wo diese für ihre Fragestellung relevant werden.

Für die Arbeit werden folgende Unterscheidungen bezüglich der Benennungen für den Titel des Reiseberichts und des durch ihn Bezeichneten getroffen: Die kursiv gesetzten russischen Wörter Фрегат « Паллада» und Очерки путешествия sowie das deutsche Reiseskizzen bezeichnen den Text, von dem die Rede ist. Die gerade gesetzte Bezeichnung Fregatte „Pallas“ dagegen bezeichnet das Schiff, auf dem die Reise durchgeführt wurde.

Alle Textzitate sind dem zweiten bzw. dritten Band der neuesten kritischen Gesamtausgabe der Werke Ivan A. Gončarovs entnommen. Die Angabe „Gončarov 1997:Sz“ verweist auf den zweiten Band[11], die Angabe „Gončarov 2000:Sz“ auf den dritten Band[12] der Gesamtausgabe, da sie in verschiedenen Jahren veröffentlich wurden. Dabei enthält der zweite Band der Gesamtausgabe beide Bände der Reisebeschreibung, die in der Arbeit mit den römischen Ziffern I und II unterschieden werden.

Grundsätzlich gilt für Kursivsetzungen innerhalb von Zitaten, dass diese stets vom Autor des Zitats selbst vorgenommen worden waren, wenn nicht nach dem Zitat ein Hinweis auf Kursivsetzung mit dem Kürzel „T.T.“ folgt.

II. (Sinn-) Strukturen des Textes

1. Erzählinstanzen

Für die Fragestellung von Wahrnehmung und Erzählen sind eindeutige Begrifflichkeiten bezüglich der Erzählinstanzen des Reisetextes von großer Wichtigkeit, da auf ihnen die zu untersuchenden Ebenen basieren. Es gibt in der Fachliteratur der unterschiedlichen Philologien verschiedene Termini für diese Instanzen (z.B. „Reiseschreiber“ bei Alfred Opitz, „Reiseschriftsteller“ bei Friedrich Wolfenzettel, „путешественник“ bei B. Ėngel’gardt), die jeweils verschiedene Aspekte des am häufigsten in Reisetexten auftretenden autodiegetischen Erzählers erfassen. Die vorliegende Arbeit orientiert sich an den Termini, die in der aktuellen Potsdamer Romanistik verwendet werden, weil sie die Instanzen in ihrer Verständlichkeit für den Leser und ihrer Funktionalität eindeutig voneinander abgrenzen. Es handelt sich im Wesentlichen um zwei textimmanente Instanzen: das erzählte Ich und das erzählende Ich, die zwei unterschiedliche Facetten des textexternen, empirischen Reisenden, in dem vorliegenden Falle Ivan A. Gončarov, darstellen.

Das erzählte Ich ist die im Reisebericht konstruierte literarische Figur, die vor (Reise)Ort ist und durch ihr unmittelbares Sehen und Erleben der Beglaubigung des Geschriebenen dient. Es handelt auf der Ebene der erzählten Zeit. Das erzählende Ich dagegen übt eine vermittelnde Funktion aus, indem es dem Leser Informationen übermittelt und diese mit den schon als vorhanden vermuteten Wissensbeständen abstimmt (vgl. Ette 2001:45f.). Ein sehr deutliches Beispiel Gončarovscher Reflexion einer „Abstimmung mit vermuteten Wissensbeständen“ findet sich gleich im ersten Brief aus England als Antwort auf ein Schreiben aus Sankt Petersburg:

„Сам я только что собрался обещать вам – не писать об Англии, а вы требуете, чтоб я писал, сердитесь, что до сих пор не сказал о ней ни слова. Странная претензия! Ужели вам не наскучило слышать и читать, что пишут о Европе и из Европы, особенно о Франции и Англии? Прикажете повторить, что туннель под Темзой очень . . . не знаю, что сказать о нем: скажу – бесполезен, что церков св. Павла изящна и громадна, что Лондон многолюден […]“ (Gončarov 1997:38).

Das erzählende Ich reflektiert hier in einer Art Metatext sowohl über die Aufgaben und Ziele eines Berichterstatters von einer Reise, als auch über die Erwartungen und Bedürfnisse eines möglichen Lesepublikums. Dabei ist eine Abneigung über bereits zigmal geschriebene und wiederholt gelesene Topoi der russischen Reiseliteratur, die sich bis dahin vor allem auf den europäischen Raum konzentrierte (vgl. Rothe 1987), nicht zu überlesen, ja höchstwahrscheinlich sogar das ausschlaggebende Motiv.

Gerade bei Reiseberichten kann das Phänomen des diegetischen Abstands zwischen beiden Ich für Poetik und Interpretation, d.h. für Produktion und Rezeption des Textes sehr relevant werden. Der Abstand zwischen dem Akt des Schreibens und der beschriebenen Situation kann nämlich zum einen relativ gering, zum anderen aber auch sehr groß sein. So hat Alexander von Humboldt seiner Reise nach Lateinamerika erst nach Jahrzehnten eine endgültige litera-rische Form geben können. Die Briefform des Фрегат « Паллада» will durch die Angaben von Datum und Ort der Abfassung dagegen eine relative Nähe zwischen Erleben und Schrei-ben herstellen. Durch das zeitliche Zusammenrücken von Reise- und Schreibzeitpunkten findet auch eine allmähliche Annäherung von „erzähltem Ich“ und „erzählendem Ich“ statt (vgl. Ette 2001:45). Nicht auszuschließen ist darüber hinaus eine sukzessive qualitative Veränderung der Instanzen. Ein erzähltes Ich wird stets in bestimmten, veränderlichen Stimmungen beschrieben, doch ist das erzählende Ich gleichfalls in einer bestimmten „Erzählstimmung“, die je nach (Reise)Lage unterschiedlich sein kann. Außerdem, und das scheint mir noch viel wichtiger zu sein, kann sich ein Reisender, und damit sowohl das erzählte als auch das erzählende Ich, durch die Reise an sich verändern und z.B. Dinge, die es zu Beginn der Reise beeindruckend fand, zu ihrem Ende hin für völlig selbstverständlich und keiner Erwähnung mehr wert befinden. Eine solche Veränderung bzw. Entwicklung scheint mir in den Reiseskizzen sowohl für die Wahrnehmung des Raumes, u.a. des Meeres, des Himmels, des Schiffes und der russischen bzw. nordischen Wälder als auch die Wahrnehmung von Menschen, beispielsweise der Engländer und der Chinesen, zu gelten. Während z.B. die russische Natur dem erzählten Ich auf der Fahrt in den „Атлантические тропики“ noch der tropischen Natur gleichwertig gilt: „Хорошо, только ничего особенного: так же, как и у нас в хороший летний день... Вы хмуритесь? А позвольте спросить: разве есть что-нибудь не прекрасное в природе?“ (Gončarov 1997:103) und damit romantische Autoren, namentlich der Dichter V.G. Benediktov, in ihrer Sehnsucht nach der Ferne kritisiert werden, erscheinen ihm die sibirischen Wälder am Ende der Weltreise regelrecht langweilig im Vergleich zu den gesehenen:

„Хожу по лесу, да лес такой бестолковый, не то, что тропический: там или вовсе не продерешься сквозь чащу, а если продерешься, то не налюбуешься красотой деревьев, их группировкой, раз-нообразием; а здесь можно продраться везде, но деревья стоят так однообразно, прямо, как свечки: пихта, лиственница, ель; ель, лиственница, пихта, изредка береза […]“ (Gončarov 1997:625).

Auch wenn in beiden Situationen der Vergleich zwischen dem Eigenen und dem Fremden das Darstellungsmittel ist, so findet im zweiten Zitat eine Umwertung des Eigenen mittels des er-lebten und gesehenen Fremden statt, ein Vorgang, der erkenntnistheoretisch wünschenswert und nur durch die Reise und eine Veränderung im erzählten Ich zu erklären ist.

In Ergänzung zu den beiden oben vorgestellten Hauptinstanzen des Berichts gibt es noch eine dritte, weniger sichtbare. Sie hängt mit der Entstehungsgeschichte des Reiseberichts zusam-men. Der zweibändige Reisebericht Фрегат « Паллада». Очерки путешествия в двух томах wurde von Gončarov drei Jahre nach Ende der Reise[13] und reger Publikationstätigkeit neu zusammengestellt und nun auch betitelt. Dabei musste er u.a. auf Anweisung des ehemaligen Expeditionsleiters Putjatin einige Ergänzungen in den Briefen vornehmen. So ist der gesamte Abriss über die Geschichte der Kolonie in Südafrika erst im Nachhinein hinzugefügt worden, während das Singapur-Kapitel z.B. gekürzt wurde (vgl. Drews 1994:292). Außerdem wurde die dritte Ausgabe von 1879 vollständig neu überarbeitet, mit Fußnoten und einem Nachwort versehen, die dem nun „öffentlichen Publikum“, im Gegensatz zum zunächst eher „privaten“ Leserkreis der Briefe Erläuterungen bringen. Man könnte diese dritte Instanz als eine Art „Publikations-“ oder „Organisationsinstanz“ verstehen, denn neben einigen russischen Literaturwissenschaftlern spricht auch Hans Rothe von einem letztendlich „sorgfältig komponiert[en]“ Buch (Rothe 1994:113).

Für die Instanz des erzählten Ich sind bereits mehrere Deutungsversuche unternommen worden, angefangen bei Boris Ėngel’gardt, der in ihm eine „художническая маска“ des Autors sah, denn diese zentrale Figur des Reisetextes habe genauso einer „условная стилизация“ unterlegen wie alle übrigen Elemente des Berichts (vgl. 1995:259).

Ausgehend zwar von der eigenen Bezeichnung Gončarovs seiner Reiseaufzeichnungen als Путешествия вокруг света И. Обломова, die in England aber eher als eine Formel oder als Plan für einen einheitlichen Charakter des nun noch zu schreibenden Reiseberichts gedacht war, weist Ėngel’gardt allerdings nach, dass der Reisende ein „взирающий на окружающее сквозь призму быта“ sei (2000:68) und der literarischen Figur des Oblomov, die in romantischer Weise nach bereits „готовые, прекрасные формы в жизни“ suche, nicht entspricht (vgl. 1995:261).

Anders als der nach dem „Einheitlichen“ in der Wahrnehmung des erzählten Ich suchenden Ėngel’gardt macht Nedzveckij mehrere unterschiedliche Charaktere des erzählten Ich auf der inhaltlichen Ebene seiner Aussagen oder Handlungen aus, denn es handele sich zu Beginn der Reise um einen Обломовец, der aus Langeweile sich auf die Reise macht (dabei an Eichendorffs Taugenichts erinnere) und sich ständig über Unannehmlichkeiten beschwert. Später verwandele dieser sich in einen gutmütigen Beamten, der gleichgültig seine Aufgaben ausführt. Diese beiden Ich allerdings seien wiederum Extreme, die in einer Synthese zu einem Bild des художник- мыслитеть zusammengeführt werden, der sich um die Zukunft nicht nur seines Landes, sondern der ganzen Menschheit sorge (vgl. Nedzveckij 1992:51, 149). Diese Triade von Reisetypen entspricht dem dialektischen Prinzip, das Nedzveckij hinter der gesamten Komposition der Reiseskizzen vermutet (vgl. Kapitel II, 5 dieser Arbeit), und ist unter anderem vom erzählenden Ich im Einleitungsbrief durchaus selbst formuliert worden. Es macht hier bewusst auf eine Stilisierung und ein Verständnis des erzählten Ich als „скромный чиновник“, „новый аргонавт“, „редактор докладов“ und „певец похода“ (Gončarov 1997:11) aufmerksam, reflektiert damit Funktionen und Zustände sowohl des Reisenden während der historischen Reise, als auch des erzählten Ich im Text. Wir sehen die Basis der Instanz des erzählten Ich jedoch nicht in unterschiedlichen Typen, sondern gehen von einer einheitlichen Figur aus, die in stets wechselnden Stimmungen und unter damit wechselnden Wahrnehmungsbedingungen konstruiert wird.

2. Titel

Bei genauerer Analyse offenbart schon der Titel des Reiseberichts einige interessante Aspekte des Textes. Das zweiteilige Фрегат « Раллада ». Очерки путешествия в двух томах besteht, nach der Terminologie Gérard Genettes, aus einem Titel und einer Gattungsangabe (vgl. Genette 1992:60). Der Titel bezeichnet einen Schiffstyp und enthält den Namen eines, dem einen oder anderen damaligen Leser vielleicht bekannten (Kriegs-)Schiffes. Dabei könnte der Begriff „Fregatte“, unter dem man seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ein schnelles, wendiges, aber auch wehrhaftes Schiff mit schlankem Rumpf und vielen, vor allem großen Segeln an hohen Masten und langen Rahen versteht (vgl. Kuhnke 1987:233), mit Gedanken an Reisen, das Meer, Gefahren, Heldenmut oder die Ferne assoziiert werden.

Der griechische Name „Pallás“ dagegen, dem das russische „Pallada“ entspricht, ist in der griechischen Mythologie der Beiname der Athene, der Göttin des Krieges und des Friedens. Nach Platon habe sie den Menschen die Kultur gebracht und ihnen den Sinn für die Staatsordnung geschenkt, indem sie u.a. die griechischen Stadtstaaten gegen Feinde beschützte, für inneren Frieden sorgte, Frauen und Männern handwerkliche Kunstfertigkeiten wie Weben, Töpfern und Zimmern lehrte und sie auch im Ackerbau unterrichtete (Brockhaus 1996:266).

Hans Rothe sieht in diesem Titel eine versteckte Antithese (1987:321), weil anscheinend die „Zivilisationsfunktion“ der Göttin Athene, die durchaus mit dem Namen „Pallada“ assoziiert werden könnte, nicht mit der Skepsis zusammenfällt, die der Erzähler des Berichts dem angegebenen Reisezweck, nämlich „Bildung und Aufklärung in unzivilisierte Erdteile zu tragen“, entgegenbringe (Rothe 1987:321).

Der Titel erfüllt im Sinne Genettes (vgl. Genette 1992:89f.) demnach sowohl eine thematische, deskriptive Funktion, weil mit dem Schiff das alle Prosaskizzen verbindende Element, sozusagen ein, wenn nicht gar das textkonstituierende Element, benannt und seine innerhalb der Raumkonzeption des Textes bedeutende Stellung[14] an diesem Platz besonders hervorgehoben wird, als auch konnotative Funktionen, da der Name „Pallada“ nicht nur als Symbol für Zivilisierung oder Kultivierung dient, sondern der Titel auch intertextuell auf einen früheren Reisebericht verweist, nämlich den Фрегат Надежда, die der Dekabrist und Romantiker Aleksandr Bestužev-Marlinskij (1797 – 1837) während seiner Verbannung im Kaukasus schrieb und im Jahre 1833 veröffentlichte. Dies ist dem Leser ein Hinweis auf weitere literarische Verlinkungen des Reiseberichts, zumal der Autor seinen Text damit in eine gewisse Literaturtradition stellt.

Die Gattungsangabe Очерки путешествия übt rhematische und thematische Teilfunktionen aus (vgl. Genette 1992:86ff.), trifft also u.a. eine Aussage über den Charakter des folgenden Textes. In der kleinen epischen Form des очерк, nach Freise am ehesten mit Prosaskizze zu übersetzen (1997:170), überwiege ein „deskriptiv-klassifikatorisches Erzählen“ (Penzkofer 1984:28), bei dem es nicht so sehr auf die prosaische Entwicklung beschriebener Charaktere ankomme, sondern vielmehr auf ihren „состояние […], «статика» их бытия“ (Bogdanov 1968:517). Die thematische Grundlage des очерк bilde meist eine entscheidende Opposition von ,bekannt‘ und ,unbekannt‘, von ,fremd‘ und ,eigen‘, wobei das Fremde, das bislang Unbekannte in und mit der Prosaskizze in Bekanntes umgewandelt und somit in die bekannte und vertraute Welt, zumindest die des Erzählers, eingeordnet werde (vgl. Penzkofer 1984:28). Gerade in den 1840er Jahren entwickelte sich diese Gattung innerhalb der Натуральная школа sehr stark. Der Autor Gončarov knüpft mit der Gattungsangabe an eine damals relativ junge, erfolgreiche russische Literaturtradition an, baut somit eine Erwartungshaltung beim Leser auf, der im Text eine Konfrontation von Fremdem, Neuem mit Bekanntem erwarten darf. Gleichzeitig drückt der Autor mit dieser Gattungsangabe aus, dass auf den Leser nun kein Abenteuer-Reiseroman à la Jules Verne oder Daniel Defoe, sondern eher deskriptive Elemente zukommen werden.

3. Äußere Struktur: Briefe

Die zweibändige Reisebeschreibung Фрегат « Паллада». Очерки путешествия besteht aus insgesamt siebzehn Kapiteln in Briefform, von denen acht Kapitel auf den ersten und neun auf den zweiten Band entfallen.[15] Außerdem kommen in der dritten Ausgabe von 1879 ein Vorwort sowie ein Nachwort „Через двадцать лет“ des Autors hinzu. Jedes Kapitel trägt einen Titel mit geographischen Bezeichnungen, die sowohl die Stationen des Schiffes und somit des Aufenthaltes des Reisenden als auch Bewegungen des Schiffes und Reisenden anzeigen. So verweisen Titel wie der des ersten und dritten Kapitels „От Кронштата до мыса Лизарда“ und „Плавание в Атлантических тропиках“ auf Bewegungen, während Überschriften wie „На Мысе Доброй Надежды“ und „Сингапур“ eher nach Aufenthalt, Station klingen. Doch sind natürlich auch die Aufenthalte mit nun anderen (Reise)Bewegungen, nämlich Bewegungen an Land, und die Fahrt von Kronstadt zum Kap Lizard mit einem mehrmonatigen Aufenthalt in England verbunden. Diese Details erfährt der Leser sofort nach der Überschrift des jeweiligen Kapitels, da dort der Inhalt des folgenden Textes in Stich- bzw. Schlagwörtern, durch Bindestriche verbunden, zusammengefasst präsentiert wird. In beinahe jedem Kapitel gibt es einen Reiseablauf in Miniaturform: die Ankunft des Schiffes vom Meer aus, die u.a. an den zahlreichen Beschreibungen von Ufern ablesbar ist; der Landgang der Reisenden, die das Gebiet und seine Bewohner erkunden; und die anschließende Abfahrt, wobei sich an dieser Stelle das Wissen des Reisenden um das auf dem Festland Gesehene angereichert hat.

Die einzelnen Kapitel sind in Briefform verfasst, weisen jeweils ein Datum oder einen Zeitraum und den Ort der Abfassung des Textes an seinem Ende auf. Gelegentlich finden sich Namen von ursprünglichen Empfängern der Briefe, wie z.B. V. G. Benediktov im dritten Kapitel (Gončarov 1997:100). Aber auch direkte Wendungen an den Leser erinnern an die Briefform. Während des dreimonatigen Aufenthalts in Japan wechselt die Textgattung zum Tagebuch, ebenfalls mit Daten versehen. Das Tagebuch stellt die zeitliche und räumliche Nähe von Erleben und Schreiben noch intensiver dar. Das Schreiben mehrerer einzelner Berichte über einen Landaufenthalt, wie z.B. der Aufenthalte in London, Südafrika, Singapur oder Hongkong, wird zeitlich und räumlich auf das Meer verlegt, in dem das Schiff danach kreuzt. Das erzählende Ich signalisiert somit eine ganzheitliche, vollständige Sicht auf den jeweiligen Aufenthalt, auch wenn einzelne, bereits an Land geschriebene Teile nur unter diesem Datum zusammengefügt worden sein mögen. Auf dem Schiff, seinem „Zuhause“ (vgl. Kapitel III, 2 dieser Arbeit), kann es dem Schreiben, dem gedanklichen Sammeln und schriftlichen Fixieren der Eindrücke aus der jeweiligen Fremde nachgehen. Schreiben wird so allein über den Paratext auch von Gončarov als sesshafte Tätigkeit im Gegensatz zur „nomadisierenden“ Tätigkeit des Reisens inszeniert (vgl. dazu Ette 2001:222). Ein mehrmaliges Ansprechen der Unmöglichkeit des Schreibens wegen zu heftigem Wellengang oder anderer Unpässlichkeiten wie Neugier oder Unlust verstärkt diesen Eindruck (vgl. 1997:74, 127, 256).

Der Brief ist nicht nur eine praktische Form der Kommunikation, die über die Reise mitteilt, sie somit für ein Publikum überhaupt erst zur Reise macht (und als Voraussetzung sich selbst auf eine Reise begeben muss, sich zwischen zwei Orten „bewegt“), sondern erhöht einmal die Glaubwürdigkeit des Berichtenden/Schreibenden und damit die der Wirklichkeit des Berichteten, da in ihr sowohl räumliche als auch zeitliche Nähe von Beobachter, Schreiber und Objekt impliziert wird.

Zum zweiten basiert dieses Genre auf einer Anlage mit einem besonderen Typ der Leserwahrnehmung. Der Schreibende sorge sich mehr um die Zuschauer und Zuhörer, als um sich selbst (vgl. Maksimov 1989:155), das Schreiben wird eher auf den Leser ausgerichtet. Deshalb ändere sich der Charakter der Briefe auch je nach Adressat: In den Briefen an Julija Efremova geraten Lebens- bzw. Alltagsprobleme in den Vordergrund, mit der Künstlerfamilie der Majkovs werden die alten Streitthemen bestimmend und Briefe an I.I. L’chovskij hätten einen besonders intimen Charakter, da in ihnen z.B. über Liebe, Freundschaft und Wesen des menschlichen Lebens gesprochen werde (1989:155). Es sei wohl hauptsächlich auf Leserreaktionen zurückzuführen, dass sich der Charakter des Reiseberichts ab dem Kapitel über Singapur weg von bloß persönlichen Eindrücken hin zu mehr historischen und wirtschaftlichen Fakten wandelt (vgl. Drews 1994:291). Trotz dieser spezifischen Ausrichtung auf den Leser bleibe der Reisende als Erzähler stets „в центре повествования“ (Šklovskij 1955:231). Er ist tatsächlich das „Gravitationszentrum“ des in den Briefen Berichteten, das neben den Darstellungsprinzipien in hohem Maße von der Bewegung und Wahrnehmung des Reisenden abhängt, und braucht sich nicht den Normen einer Abhandlung etwa wissenschaftlichen Anspruchs zu unterwerfen. Briefe sind ein „недогматический жанр“ (Tunimanov 2000:476), die es dem Schreibenden gerade deshalb zunächst schwer machten, eine für die Veröffentlichung geeignete Form zu finden:

„Нет науки о путешествиях: авторитеты, начиная от Аристотеля до Ломоносова включительно, молчат; […] описывать страны и народы исторически, статистически или только посмотреть, каковы трактиры, - словом, никому не отведено столько простора и никому от этого так не тесно писать, как путешественнику.“ (Gončarov 1997:13).

Eine dritte Funktion der Briefform schließlich ist die mehrdeutige Anknüpfung an literarische Traditionen. Vor allem Šklovskij (1955:225ff.) und Krasnoščekova (1992) verweisen auf den formalen Bezug des Фрегат « Паллада» auf die Письма русского путешественника (1791) von Nikolaj Karamzin (1766 – 1826), einen Bezug, welcher allerdings von einer inhaltlichen Polemik gegen dessen romantische Modellierung konterkariert werde, wie es beispielsweise die Freundschaftsparodie auf die sentimentalen Abschiedsszenen bei Karamzin oder die Gestaltung eines „пассивный, русский путешественник“ im Gegensatz zum „активн[ый] […] почитатель европейской Культуры“ Karamzins zeigen (vgl. Krasnoščekova 1992:16, 18). Karamzin ist natürlich nicht der einzige Vorgänger Gončarovs. Die ganze erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist von Reiseberichten in Briefform, erwähnt seien an dieser Stelle lediglich Nikolaj Gogol’, Petr Čaadaev, Ivan Kireevskij, Vasilij Botkin und Alexander Herzen[16], geprägt, so dass sich Gončarov mit der Briefform in die Tradition des russischen Reiseberichts, mit den „очерки“ im Titel des Buches in die Tradition der Натуральная школа einschreibt.

4. Kreisform des Textes und der Bewegung

Eine sehr interessante Erscheinung ist die Tatsache, dass das erste Kapitel mit einem Brief beginnt, der auf den Juni 1854 datiert und auf den Schoner „Восток“ im „Татарский залив“ verortet wird (Gončarov 1997:34), also den Endpunkt der Seereise des Erzählers. Dieser als Brief gestaltete Text beschreibt die Vorgeschichte der Reise, anschließend die Fahrt von Kronštadt nach Portsmouth und führt hin auf eine vom Reisenden aufbewahrte Skizze über den Aufenthalt in England. Zu Beginn des Briefes wird ein Brief vom 2. November 1852 erwähnt, der seinen Empfänger in Sankt Petersburg allerdings nicht erreicht haben soll[17]: „Меня удивляет, как могли вы не получить моего первого письма из Англии, от 2/14 ноября 1852 года, и второго из Гон-Конга, именно из мест, где об участи письма заботятся, как о судьбе новорожденного младенца.“ (Gončarov 1997:7). Der Reisebericht beginnt also paradoxerweise mit einer Inszenierung des Verlusts seines eigentlichen, ursprünglichen Anfangs und der seines Neuschreibens. Das Paradox wird verstärkt durch die Tatsache, dass die Briefe gerade an solchen Orten verloren gegangen sein sollen, an denen man sich so gut um sie kümmere. Viktor Šklovskij sieht in diesem fingierten Verlust einen Versuch „преодолеть литературную условность и дать все письма как реальную дружескую переписку“ (Šklovskij 1955:231) und unterstreicht damit den erhofften Authentizitätseffekt, der eine noch höhere Glaubwürdigkeit des Berichteten bewirken soll.

Auf struktureller Ebene fungiere dieser erste abgedruckte Brief nach Šklovskij als „письмо суммирующее“ und behandele die Themen, die im weiteren Verlauf des Textes ausführlich entwickelt werden:

„В этом вымышленном письме, основанном на письмах реальных, Гончаров дал общую харак-теристику путешествия, самого себя как путешественника, характеристику корабля, характерис-тику англичанина купца, противопоставление северной природы и России, олицетворенной в корабле, и тропиков.“ (Šklovskij 1955:230).

Obwohl Šklovskij auch auf die Datierung des Briefes aufmerksam macht, belässt er es bei obigen Schlussfolgerungen. Dabei scheint mir doch die Frage notwendig, warum das erzäh-lende Ich gerade diese Distanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, zwischen ihnen liegen immerhin 22 Monate und eine Weltreise per Schiff, für den Leser erkennbar macht.[18] Das heißt mit anderen Worten, warum versucht ein erzählendes Ich, das bereits um die halbe Welt gesegelt ist, ein erzähltes Ich zu rekonstruieren, das gerade die ersten Stunden und Tage auf einem Schiff überhaupt und in Erwartung einer solchen Reise verbringt? Andere Briefe sollen ja, nach Šklovskij, als Grundlage gedient haben. Folgendes Urteil über den Verlust des Wunderbaren z.B. kann sich, wenn er seine Glaubwürdigkeit bewahren will, nur ein Reisender erlauben, der die Welt bereits gesehen hat: „Чудес, поэзии! Я сказал, что их нет, этих чудес: путешествия утратили чудесный характер.“ (Gončarov 1997:14). In den Brief fließen also bereits Erfahrungen des Reisenden aus der Weltumseglung ein und machen ersteren so zu einem gleichzeitigen „начало и итог“ (Tunimanov 2000:479) der folgenden Reisebeschreibung.

Diese Bemerkung deutet bereits auf einen Effekt hin, der in der Sekundärliteratur zu den Reiseskizzen noch nicht berücksichtigt wurde. Durch die Verschränkung von Erzählzeit und erzählter Zeit nämlich werden auch die Textoberfläche, die Reisebewegung, der Leseprozess und letztendlich der Textsinn zu einer Kreisform verschränkt. Denn an dem Ort, wo der Reisende seine Fahrt zu Schiff beendet, fängt die Abfassung des für den Leser zugänglichen Textes an. Damit entspricht die „Textbewegung“ mit ihrer Kreisform der Reisebewegung, die ja, wenn man den Landweg von der Pazifikküste im Fernen Osten über Jakutsk, Irkutsk und Simbirsk in die Hauptstadt Petersburg zurück hinzuzählt, als Linie auf einer Weltkarte gedacht, ebenfalls eine kreisähnliche, auf jeden Fall geschlossene Figur beschreibt. An dieser Stelle könnte auch der „Verlust“ des Anfangs einleuchten, da ein Kreis ebenfalls keinen Anfang besitzt. Selbst wenn man den Landweg aus der originären Reisebewegung weglässt und diese somit nicht als Kreisform, sondern eher als Hufeisenform denkt, ist es dann der Brief, die Erzählung, die Mitteilung, die die Reise literarisch zu einem Kreis formt.

Das erzählte Ich findet sogar eine autobiographisch relativ früh verankerte Legitimation der Kreisform, wenn es einen Traum aus seiner Kindheit (re)konstruiert:

„Я всё мечтал – и давно мечтал – об этом вояже, может быть с той минуты, когда учитель сказал мне, что если ехать от какой-нибудь точки безостановочно, то воротишься к ней с другой стороны: мне захотелось поехать с правого берега Волги, на котором я родился, и воротится с левого […]“ (Gončarov 1997:9).

Die Rekonstruktion der Reise als Traum gibt bereits an dieser frühen Stelle einen Hinweis auf mehrere Sequenzen des Textes, in denen der Leser ein Schwingen des Erzählens und der dargestellten Wahrnehmung zwischen Traum und Wirklichkeit vernehmen wird (vgl. Kapitel III, 4c dieser Arbeit).

Wenn, wie Nedzveckij meint, die Weltumseglung für Gončarov auch bedeutete, seine bisherige, in Texten dargestellte Sicht auf die Welt anhand eines „глобальный материал“ zu überprüfen (1993:45), dann schließt sich mit dem Kreis auch ein hermeneutischer Zirkel, weil die „Vermehrung des Wissens über das Andere, über dessen Lebensbedingungen und Kulturformen“ an das Wissen zurück gebunden wird, das der Reisende in seinem Herkunftsland bereits gesammelt hatte (Ette 2001:63). Ausdruck für dieses bereits „Vor-Gewusste“ (Ette 2001:66) sind z.B. Bücher über die zu bereisende Gegend, die der Reisende gelesen hat.[19] Das erzählende Ich verweist im Фрегат « Паллада» häufig auf Lesevorgänge (vgl. 1997:28, 102, 438, 444 u.a.) und andere Texte, macht damit intertextuelle Bezüge deutlich, die die Wahrnehmung des Reisenden beeinflussten. Auf der hier diskutierten strukturellen Ebene wird die Reise gelegentlich als eine Überprüfung des Geschriebenen inszeniert und somit das bereits vorhandene Wissen untermauert, wie beispielsweise das Lesen von Seekarten zeigt:

„Вот морская карта: она вся испещрена чертами, точками, стрелками и надписями. «В этой широте, - говорит одна надпись, - в таких-то градусах, ты встретишь такие ветры», и притом показаны месяц и число. […] Далее еще лучше: «В таком-то градусе увидишь в первый раз акул, а там летучую рыбу» - и точно увидишь.“ (Gončarov 1997:100).

Hier ist der ursprüngliche Text, die Karte, bereits um Wissen in Form von Anmerkungen ergänzt worden, dessen Gültigkeit jetzt vom erzählten Ich als autorisierte Instanz nochmals bekräftigt wird.

Einen „anschaulichen“ Höhepunkt solcher Wissensrückbindungen bildet eine (von Gončarov allerdings nicht autorisierte) Bild-Text-Beziehung in der Akademie-Ausgabe des Фрегат Паллада von 1986, wo die Abbildung einer Karte der östlichen Uferlinie der Halbinsel Korea (Gončarov 1986:473), in der durch das Übereinanderlegen der Karte Kruzenšterns und derjenigen der Offiziere der Fregatte „Pallas“ sogar zwei Texte in einem Bild verbunden werden, zum einen das jeweils neu erworbene Wissen (nämlich das über die Küstenlinie) miteinander in Beziehung setzt, damit gleichermaßen die Vergänglichkeit bzw. Relativität von Wissen anzeigt (denn das zuerst erworbene wird durch das zweite korrigiert), und zum anderen russische Benennungen von Landvorsprüngen (мысы) enthält. Durch die Benennungen wird von Land bzw. Welt gleichzeitig, wenn in diesem Falle auch nur erkenntnistheoretisch, „Besitz ergriffen“ (vgl. Todorov 1985:38).

5. Innere Struktur: drei mögliche Deutungen

Für die innere Struktur des Фрегат Паллада liegen bereits mehrere Interpretationen vor. Ich möchte diese zunächst um eine relativ einleuchtende, aber so noch nicht formulierte Gliederung auf der Erzählebene ergänzen. Sie führt den Nachweis, dass es sich um einen klassischen Reisebericht handelt, der alle für eine literarische Reise relevanten Orte und damit verbundenen Bedeutungen enthält.

Auf dieser Ebene des discours ist der Text in seine „reiseliterarischen Orte“ aufzugliedern. Die „reiseliterarischen Orte“ sind, nach O. Ette, „besonders semantisch aufgeladen“ und machen eine Reise auch in literarischem Sinne erst vollständig (vgl. Ette 2001:50ff.). Den ersten dieser Orte, an dem der Abschied und die Trennung vom Eigenen stattfindet, können wir nicht so ohne weiteres an einem bestimmten geographischen Punkt festmachen, denn sowohl die Ausfahrt aus Kronštadt, wo der Wechsel vom Land auf das Meer bereits eine Grenze markiert (vgl. Ette 2001:52) und das erzählende Ich als Parodie auf herzzerreißende, romantische Abschiedstopoi einen theoretischen, also an den Verstand gebundenen Diskurs über den Begriff „дружба“ führt (vgl. Gončarov 1997:36f.), als auch der Aufenthalt in England, verbunden mit einem Wechsel der Fortbewegungsmittel und einem ersten radikalen Aufeinandertreffen von Eigenem und Fremdem, die jeweils „kontrastiv modelliert“ werden (Ette 2001:53), mit dem auf ihn folgenden Weg in den Atlantischen Ozean, wo sich die europäische Binnenreise zur Seereise entwickelt und das erzählte Ich bewusst das klimatische, kontinentale Europa, den „север“, aber auch das literarische Europa Karamzins und Botkins (Gončarov 1997:84) verlässt, können als Orte des Abschieds von Russland und von Europa, beides das Eigene, verstanden werden.

Als zweiten reiseliterarischen Ort, der u.a. den poetologischen Höhepunkt des Reiseberichts darstellt und meist eine stilisierte Inszenierung eines neuen Ortes, eines locus amoenus, eines ideal schönen Naturausschnitts (vgl. Ette 2001:55), ist, können wir z.B. den Aufenthalt auf den Ликейские острова ausmachen, von dem das erzählende Ich selbst als „идиллия“ (Gončarov 1997:494) spricht und an dem es sich für die Strapazen der Reise belohnt sieht:

„Над всем этим покоился такой колорит мира, кротости, сладкого труда и обилия, что мне, после долгого, трудного и под конец даже опасного плавания, показалось это место самым очарователь-ным и надежным приютом.“ (Gončarov 1997:498)

Dieses Inselparadies, das wahrnehmungstheoretisch in einem Spannungsfeld von Intertext und Stimme eines Bewohners steht (Gončarov 1997:506ff.) und auf der Ebene der histoire von zwei äußeren Feinden, der christlichen Religion und amerikanischem Protektionismus, bedroht wird, erscheint dem erzählten Ich als letztes, von der westlichen Zivilisation noch nahezu unberührtes Fleckchen der Erde, als ein Ort der Erholung, Labung und vollendeter Schönheit, somit in gleicher Weise unwirklich (vgl. Kapitel III, 4c dieser Arbeit).

Das mit zwei Kapiteln bedachte Japan, bzw. dessen südlicher Zipfel um die Bucht von Nagasaki, bildet den dritten reiseliterarischen Ort der Ankunft (vgl. Ette 2001:58), weil in ihm das von Anfang vorgegebene Ziel der Mission erreicht wird und sich die Reisegruppe auch, im Vergleich zu allen anderen Reisestationen, am längsten aufhält.

Schließlich ist die Rückkehr des erzählten Ich, der vierte reiseliterarische Ort, über den sibirischen Landweg auch eine „Heimkehr“ ins eigene Land. Es trifft Landsleute, die diese ihm eigentlich fremde Gegend besiedeln und bewirtschaften, spricht mit unbekannten Menschen wieder seine eigene Sprache, stößt auf Kirchen und Gläubige der eigenen Religion. Trotz der landschaftlichen und klimatischen Unwirtlichkeit wird Sibirien für den Reisenden zum Ideal einer Kolonisierung und kultureller Eroberung fremden Landes.

Nedzveckij (1993) unterlegte mit seiner ebenfalls strukturalistischen Interpretation dem Reisetext einen geschichtsphilosophischen, eschatologischen Sinn, wobei es sich hierbei nicht unbedingt um eine Auslegung als religiöse Heilsgeschichte, sondern um eine geschichtstheoretische Vision kultureller, ökonomischer und staatlicher Entwicklung handelt. Seiner Ansicht nach sei das Prinzip der inneren Struktur aus Gončarovs erstem Roman Обыкновенная история übernommen worden:

„Данный метод лежал в основе свойственного Гончарову эволюционного разумения исторического процесса, согласно которому животворность каждой последующей эпохи определялась […] ee способностью синтезировать в себе лучшие жизненные начала всех предшествующих эпох и «возрастов» человечества“ (Nedzveckij 1993:49).

Diese Entwicklung bestehe aus drei Punkten, die der Schellingschen Triade von These – Antithese – Synthese folgen. Dabei handelt sich zunächst einmal um das Ablegen einer bestimmten, dauerhaften (generationenlangen) Lebensweise, dem Alten, das somit der These entspreche. Ihm folge die Erscheinung des genau Entgegengesetzten, des Neuen, das das Alte ablehne und so eine Antithese zu ihm bilde. Die folgende Vereinigung der besten Seiten der beiden vorangegangenen Epochen, ihre Synthese, mache danach die zukünftige Epoche aus (vgl. Postnov 1988:51).

Die erste Triade der Textstruktur bilden England, Madeira und Südafrika. England mit seinem Ideal der жизнь-суэта, die rein am Materiellen, Technischen orientiert, pragmatisch ausgerichtet und dabei geist- und seelenlos sei, stehe im krassen Gegensatz zum patriarchalisch-idyllischen Typ Madeiras, auf dem das Leben einem Zyklus natürlich-biologischer Notwendigkeiten folge und dabei geistige Bedürfnisse nahezu gänzlich fehlen. Die Vereinigung dieser beiden Extreme finde im Kapitel über Südafrika, „На Мысе Доброй Надежды“, statt, was schon an seinem Umfang, seiner Ausführlichkeit und der Vielfalt der Themen, die sich von Einzel- und Gruppenporträts über eine ausführliche Geschichtsbetrachtung bis hin zu Fragen der Landwirtschaft und Wirtschafts- und Handelsbeziehungen erstrecken, zu erkennen sei (vgl. Nedzveckij 1993:47). Dieser unterstellte synthetische Charakter der britischen Kolonie leuchtet ein angesichts einer Konfrontation des Reisenden mit den natürlichen, ursprünglichen Gegebenheiten des Kontinents Afrika auf der einen Seite und den ihm aufoktroyierten, „zivilisatorischen Errungenschaften“ britischen Typs auf der anderen.

Eine ähnliche Triade von Ländertypen, die diesmal auf dem asiatischen Kontinent und gänzlich im zweiten Band des Reiseberichts versammelt sind, stellen Japan (These), China (Antithese) und Korea (Synthese) dar. Dies sei am Gegensatz des von der Außenwelt praktisch abgeschnittenen, seinem eigenen Rhythmus folgenden, verschlafenen Japan zum sich in einem Krieg befindlichen China mit seinem lärmenden Shanghai ersichtlich, die an die Bilder von Madeira und London erinnern. Die Analogie zwischen Korea und dem Südafrika-Kapitel wird durch den historischen Abriss hergestellt, dessen Darstellung hier bereits in antiken Zeiten beginnt (vgl. Nedzveckij 1993:49).

Auch die außerhalb dieser Dialektik stehenden Skizzen Javas, Singapurs und Hongkongs seien nach ihrem Platz im ersten Band des Reiseberichts dem Bild der Ликейские острова und Manilas im zweiten Band gleichwertig. Sie machen die „периферию глубоко концептуальной и целостной […] художественной «картины мира» под названием «Фрегат Паллада» aus (Nedzveckij 1993:51).

[...]


[1] Eine ausführliche Schilderung der Textgenese findet sich in Ornatskaja, T. (1986) „Istorija sozdanija «Fregata Pallada»“ in: Gončarov, Ivan A. (1986) Fregat „Pallada“. Očerki putešestvija v dvuch tomach, izd. T.I. Ornats-kaja, Leningrad: Nauka, S. 763 – 787.

[2] Vgl. Ėngel’gardt, Boris M. (1935) „Putevye pis’ma I.A. Gončarova iz krugosvetnogo plavanija“ in: Literaturnoe nasledstvo, Bde 22 – 24, S. 309 – 342.

[3] Vgl. Ėngel’gardt, Boris M. (1995) „Fregat Pallada“ in: ders. Izbrannye trudy, pod redakciej A.B. Muratova, Sankt-Peterburg, S. 225 – 269. Im Folgenden als „Ėngel’gardt 1995“ angegeben.

[4] Vgl. Ėngel’gardt, Boris M. (2000) „,Putšestvie vokrug sveta I. Oblomova‘. Glavy iz neizdannoj monografii B.M. Ėngel’gardta. Vstupitel’naja stat’ja i publikacija T.I. Ornatskoj“ in: Makašin, S.A. u.a. [Hrsg.] I.A. Gončarov. Novye materialy i issledovanija, Reihe: Literaturnoe nasledstvo, Band 102, Moskva, S. 15 – 82. Dem Umstand dieser späten Veröffentlichungen ist es wahrscheinlich zu verdanken, dass ein großer Teil anderer Literaturwissenschaftler lediglich auf die Einleitung von 1935 Bezug nimmt (Piksanov 1946:38, Krasnoščekova, Nedzeckij).

[5] So war z.B. der Zustand des Schiffes von Anfang an höchst Besorgnis erregend, die Ausbildung und Vorbereitung der Mannschaft unzulänglich und im späteren Verlauf die Kriegsgefahr permanent latent vorhanden. All dies spiele für den Erzähler keine Rolle, habe aber die Stimmung unter der Schiffsbesatzung wesentlich beeinflusst (vgl. Ėngel’gardt 1995:228).

[6] Darin übereinstimmend beklagt auch Peter Drews, dass die Behandlung des Reisetextes in diesem Buch nur „textimmanent und unter allzu betonter Herausstellung der angeblich in jeder Hinsicht humanen Haltung Gončarovs gegenüber den unterdrückten Kolonialvölkern“ stattfindet (Drews 1994:287).

[7] Das heutige Uljanovsk an der Wolga trug bis 1924 den Namen „Simbirsk“.

[8] Vgl. Thiergen, Peter [Hrsg.] (1994) Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der 1. Internationa-len Gončarov-Konferenz Bamberg, 8.-10. Oktober 1991, Köln u.a. Darin: Böhmig,, Michaela: „Gončarovs Realimuskonzeption im Spiegel seiner Betrachtungen über bildende Kunst“, S. 1 – 14 und Rothe, Hans: „Das Traumschiff oder zur theoretischen Grundlegung des Realismus bei Gončarov“, S. 105 – 124.

[9] Einen nahezu vollständigen Überblick darüber bietet Drews 1994:288-292.

[10] Vgl. etwa zu einem Tjučev-Motiv Rothe (1981) oder zu Puškin-Zitaten Danovskij, A. (2004) „Puškinskie poė-tizmy v ėpopee I.A. Gončarova «Fregat Pallada»“ in: Russkaja reč, Nr. 3 (2004), S. 10 – 16.

[11] Gončarov, I.A. (1997) Polnoe sobranie sočinenij i pisem v dvadcati tomach, tom 2: „Fregat ,Pallada‘. Očerki putešestvija v dvuch tomach“, Sankt-Peterburg: Nauka. Im Folgenden: Gončarov 1997.

[12] Gončarov, I.A. (2000) Polnoe sobranie sočinenij i pisem v dvadcati tomach, tom 3: „Fregat ,Pallada‘. Materialy putešestvija. Očerki. Predislovija. Oficial’nye dokumenty ėkspedicii“, Sankt-Peterburg: Nauka. Im Folgenden: Gončarov 2000.

[13] Wenn man von seiner Ankunft in Petersburg am 25. Februar 1855 ausgeht (vgl. Tunimanov 2000:472).

[14] Vgl. dazu Kapitel III, 2 dieser Arbeit.

[15] Es existieren noch drei weitere Kapitel: „Два случая из морской жизни“, „Из возпоминаний и рассказов о морском плавании“ und „По Восточной Сибири. В Якутске и в Иркутске “, zu finden in der jüngsten Gesamtausgabe (Gončarov 2000:5-79), die aber nicht in die ursprünglichen Bände von 1858, 1879 und 1886 aufgenommen worden waren und deshalb in dieser Arbeit unberücksichtigt bleiben sollen.

[16] Einen sehr ausführlichen Überblick über dieses Genre der russischen Literatur in jener Zeit bietet Rothe 1987.

[17] Jedenfalls ist das der vorgegebene Kenntnisstand des erzählenden Ichs zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses „Einführungsbriefes“. Der Verlust des zweiten Briefes soll wohl die Glaubwürdigkeit des Dilemmas erhöhen.

[18] Natürlich ist dieses Kapitel nach den anderen geschrieben worden, denn sonst könnte es nicht die Funktion einer mise en abyme oder Einleitung in den Text übernehmen, zumal viele Motive gar nicht ohne die Erfahrung der Reise hätten eingearbeitet werden können. Doch der genaue Zeitpunkt seiner Abfassung ist aus textimmanenter Sicht nicht nachzuvollziehen und kann auch viel dichter an der Veröffentlichung als an der eigentlichen Reise liegen. Bei der Interpretation stützen wir uns also auf die vom Verfasser angegebenen Daten, da sie ja (als Paratext) einen Sinn haben (müssen).

[19] Šklovskij (1955:232) erwähnt die Bibliothek, die auf der Fregatte „Pallas“, immerhin ein mit geheimem Staatsauftrag unterwegs seiendes Schiff, mitgeführt wurde. Diese Bibliothek, auf die Gončarov u.a. im ersten Japan-Kapitel hinweist (Gončarov 1997:316, 372), symbolisiert ebenfalls das „mitgeführte Wissen“ (vgl. Ette 2001:66). Andererseits wird der Фрегат « Паллада» selbst zu einem „Standardwerk“ der russischen Reiseliteratur und in die „Bibliothek des Wissens“ aufgenommen. Dies zumindest dient dem Autor als Hauptgrund für eine Neuauflage und -herausgabe seiner Reiseskizzen im Jahre 1879: „Но ему [автору, T.T.] с разных сторон заявляют, что обыкновенный спрос на нее в публике не прекращается и что сверх того ее требуют воспитатели юношества и училищные библиотеки.“ (Gončarov 2000:81).

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Ivan A. Goncarovs "Fregat Pallada": Wahrnehmung und Erzählen
Hochschule
Universität Potsdam  (Institut für Slavistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
98
Katalognummer
V60828
ISBN (eBook)
9783638544061
ISBN (Buch)
9783656380733
Dateigröße
1116 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ivan, Goncarovs, Fregat, Pallada, Wahrnehmung, Erzählen
Arbeit zitieren
Tino Töpel (Autor:in), 2006, Ivan A. Goncarovs "Fregat Pallada": Wahrnehmung und Erzählen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60828

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