Am 2. Juli 2006 fand in Mexiko die Präsidentschaftswahl statt. Kurze Zeit später bezeichneten sich sowohl Felipe Calderón, der Kandidat der regierenden Partei PAN, als auch sein Herausforderer Andrés Manuel López Obrador der linksgerichteten Partei PRD, als Sieger der Wahl. Das Wahlinstitut IFE (Instituto Federal Electoral) rief den zwar knappen aber eindeutigen Wahlsieg von Calderón aus. Doch dann begann ein monatelanges Kräftemessen zwischen dem IFE, dem ausländische Wahlbeobachter saubere, demokratische Wahlen bestätigten und López Obrador, von seinen Wählern „AMLO“ genannt, der „voto por voto, casilla por casilla“ forderte: die erneute Auszählung „Stimme für Stimme, Urne für Urne“, dafür mit seinen Anhängern wichtige Verkehrsadern in Mexiko-Stadt blockierte und das Land wochenlang in einen fast vor-revolutionsartigen Zustand versetzte. Was ist passiert? Ein machthungriger Kandidat, der seine Niederlage nicht akzeptiert und dafür das ganze Land in Aufruhr versetzt? Oder Wahlen, deren Ausgang zum x-ten Mal nicht den Willen des Volkes darstellt und ein Held, der für Demokratie kämpft? Diese Frage wird sich wohl nicht beantworten lassen. Die Mexikaner selbst sind sich darüber nicht einig, und die mexikanische Presse nimmt mal den einen, mal den anderen Standpunkt ein. Wie sieht es aus in Mexiko, wie ist der Stand der Dinge in Sachen Demokratie? Inwiefern kann man von demokratischen Wahlen sprechen, in dem Land, dessen Name jahrzehntelang für Korruption, Bestechung und Wahlmanipulationen stand? Gerade mal ein sexenio, wie die sechsjährige Amtszeit eines Präsidenten in Mexiko genannt wird, ist es her, dass mit Vicente Fox Quesada erstmals ein Kandidat einer Oppositionspartei die Wahl zum Präsidenten gewann, und das allem Anschein nach ohne Manipulation der Wahlregister. 71 Jahre kamen ausnahmslos alle Präsidenten aus der vorherrschenden Partei PRI; die demokratische Gesinnung der „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (Partido Revolutionario Institutional, PRI) ging scheinbar bei der langjährigen Vorherrschaft verloren. In der folgenden Arbeit soll die Frage erarbeitet werden, ob sich Mexiko zu einer Demokratie entwickelt und wie weit es in dieser Entwicklung schon fortgeschritten ist. Dazu wird Mexiko in die Typologie von W. Merkel eingeordnet werden. Zunächst wird diese Typologie vorgestellt, um dann, jedes Merkmal einzeln betrachtend, Mexiko einzuordnen, um schlussendlich die Eingangsfrage zu beantworten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Typologie politischer Systeme von Wolfgang Merkel
3. Die Einordnung Mexikos in die Typologie von Wolfgang Merkel
3.1. Das Kriterium Herrschaftslegitimation
3.2. Das Kriterium Herrschaftszugang
3.3. Das Kriterium Herrschaftsmonopol
3.4. Das Kriterium Herrschaftsstruktur
3.5. Das Kriterium Herrschaftsanspruch
3.6. Das Kriterium Herrschaftsweise
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
6. Anhang
1. Einleitung
Am 2. Juli 2006 fand in Mexiko die Präsidentschaftswahl statt. Kurze Zeit später bezeichneten sich sowohl Felipe Calderón, der Kandidat der regierenden Partei PAN, als auch sein Herausforderer Andrés Manuel López Obrador der linksgerichteten Partei PRD, als Sieger der Wahl. Das Wahlinstitut IFE (Instituto Federal Electoral) rief den zwar knappen aber eindeutigen Wahlsieg von Calderón aus. Doch dann begann ein monatelanges Kräftemessen zwischen dem IFE, dem ausländische Wahlbeobachter saubere, demokratische Wahlen bestätigten und López Obrador, von seinen Wählern „AMLO“ genannt, der „voto por voto, casilla por casilla“ forderte: die erneute Auszählung „Stimme für Stimme, Urne für Urne“, dafür mit seinen Anhängern wichtige Verkehrsadern in Mexiko-Stadt blockierte und das Land wochenlang in einen fast vor-revolutionsartigen Zustand versetzte. Was ist passiert? Ein machthungriger Kandidat, der seine Niederlage nicht akzeptiert und dafür das ganze Land in Aufruhr versetzt? Oder Wahlen, deren Ausgang zum x-ten Mal nicht den Willen des Volkes darstellt und ein Held, der für Demokratie kämpft? Diese Frage wird sich wohl nicht beantworten lassen. Die Mexikaner selbst sind sich darüber nicht einig, und die mexikanische Presse nimmt mal den einen, mal den anderen Standpunkt ein. Wie sieht es aus in Mexiko, wie ist der Stand der Dinge in Sachen Demokratie? Inwiefern kann man von demokratischen Wahlen sprechen, in dem Land, dessen Name jahrzehntelang für Korruption, Bestechung und Wahlmanipulationen stand? Gerade mal ein sexenio, wie die sechsjährige Amtszeit eines Präsidenten in Mexiko genannt wird, ist es her, dass mit Vicente Fox Quesada erstmals ein Kandidat einer Oppositionspartei die Wahl zum Präsidenten gewann, und das allem Anschein nach ohne Manipulation der Wahlregister. 71 Jahre kamen ausnahmslos alle Präsidenten aus der vorherrschenden Partei PRI; die demokratische Gesinnung der „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (Partido Revolutionario Institutional, PRI) ging scheinbar bei der langjährigen Vorherrschaft verloren. In der folgenden Arbeit soll die Frage erarbeitet werden, ob sich Mexiko zu einer Demokratie entwickelt und wie weit es in dieser Entwicklung schon fortgeschritten ist. Dazu wird Mexiko in die Typologie von W. Merkel eingeordnet werden. Zunächst wird diese Typologie vorgestellt, um dann, jedes Merkmal einzeln betrachtend, Mexiko einzuordnen. Im Kapitel 4 werden dann die Ergebnisse dieser Einordnung zusammengefasst, um die Eingangsfrage zu beantworten.
2. Die Typologie politischer Systeme von Wolfgang Merkel
Wolfgang Merkel beschäftigt sich in seinem Buch „Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung“ (1999) mit der Transformation verschiedener politischer Systeme, also dem „grundlegenden Wechsel von politischen Regimen, gesellschaftlichen Ordnungen und wirtschaftlichen Systemen“ (Merkel 1999: 15). Um verschiedene Zustände eines politischen Systems oder verschiedene politische Systeme miteinander zu vergleichen, eignet sich die Konstruktion von Idealtypen. Merkel nennt dies: „Die chaotische Vielfalt unterschiedlicher realer Systeme (…) durch den logisch-gedanklichen Bezug auf wesentliche, die politischen Herrschaftsordnungen charakteristischen Merkmale systematisch nach einem «idealen» Zusammenhang [ordnen] (…)“(Merkel 1999: 25). Bei der Erstellung seiner Typologie stützt er sich auf drei Dimensionen, die notwendig sind, um den Begriff „Demokratie“ zu umfassen. Die erste Dimension ist „die vertikale Legitimationsdimension zwischen Wählern und Gewählten wie Regierten und Regierenden“ (Merkel 1999b: 364). Die zweite Dimension ist die „der Gewaltenkontrolle des Rechtsstaats und der gesicherten Grundrechte“ (Merkel 1999b: 364). Schließlich die dritte Dimension: „die Ausübung der politischen Macht (…) darf keine Domänen dulden, die von nicht durch demokratische Wahlen legitimierten (Veto-)Akteuren, wie etwa dem Militär oder Guerillagruppen, regiert und kontrolliert werden“ (Merkel 1999b: 364). Basierend auf diesen drei Dimensionen erstellt er Merkel sechs Kontrollkriterien, die sich auf das Merkmal der politischen Herrschaft beziehen. 1) Herrschaftslegitimation: Ist die Herrschaft durch Volkssouveränität, durch eine Mentalität wie z.B. Nationalismus oder durch eine geschlossene Weltanschauung legitimiert? 2) Herrschaftszugang: Werden die Herrschaftsträger durch Wahl der Herrschaftsadressaten bestimmt und ist das Wahlrecht universell, also gleich, frei, allgemein und geheim? 3) Herrschaftsmonopol: Werden die politisch bindenden Entscheidungen ausschließlich von demokratisch legitimierten Instanzen getroffen? 4) Herrschaftsstruktur: Gibt es Gewaltenteilung, Gewaltenkontrolle und Gewaltenhemmung oder hat ein einzelner Machtträger alle staatliche Macht? 5) Herrschaftsanspruch: Ist die staatliche Herrschaft gegenüber den Bürgern klar begrenzt oder kann der Herrschaftsträger unbegrenzte Interventionstiefe beanspruchen? 6) Herrschaftsweise: Wird die staatliche Herrschaft auf der Basis von rechtsstaatlichen Grundsätzen ausgeübt, oder auf repressive, willkürliche oder terroristische Weise? (vgl. Merkel 1999a: 365, Merkel 1999b: 25f.). Mit Hilfe dieser Kriterien ordnet Merkel politische Systeme den drei Grundtypen Demokratie, autoritäres System und totalitäres System zu (vgl. Merkel 1999b: 25f.). Tabelle 1 zeigt die Ausprägungen des jeweiligen Typs in den einzelnen Kriterien. Die demokratischen Ausprägungen sind folgende: die Herrschaftslegitimation basiert auf dem Prinzip der Volkssouveränität; der Herrschaftszugang ist offen, was durch universelle Wahlen garantiert wird; das Herrschaftsmonopol liegt bei demokratisch legitimierten Institutionen; die Herrschaftsstruktur ist pluralistisch, so dass die Gewaltenteilung, Gewaltenhemmung und Gewaltenkontrolle sichergestellt ist; der Herrschaftsanspruch ist klar begrenzt und hält das Prinzip der Volkssouveränität ein; die Herrschaftsweise ist streng rechtsstaatlich (vgl. Merkel 1999b: 26). Damit ein politisches System als Demokratie bezeichnet werden kann, muss es in allen sechs Kriterien die dementsprechende Ausprägung haben, schon bei einem einzigen nicht-demokratischen Merkmal spricht Merkel nicht mehr von einer rechtsstaatlichen Demokratie (vgl. Merkel 1999a: 366).Um das politische System Mexikos in diese Typologie einzuordnen, soll in den folgenden Kapiteln jedes Kriterium einzeln betrachtet und die von Merkel dafür entwickelten Kontrollfragen beantwortet werden.
3. Die Einordnung Mexikos in die Typologie von Wolfgang Merkel
3.1. Das Kriterium Herrschaftslegitimation
Es gibt unterschiedliche Arten, wie sich ein Regime legitimiert: „Geschieht das mit dem Prinzip der Volkssouveränität, über die Indienstnahme bestimmter Mentalitäten Nationalismus, Patriotismus, Sicherheit und Ordnung oder durch geschlossene Weltanschauung mit absolutem Wahrheitsanspruch?“ (Merkel 1999b: 25).
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich ein immer größer werdender Unmut über die Präsidentschaft von Porfirio Díaz. Durch manipulierte Wahlen behielt er fast 30 Jahre die Macht und ließ keine eigenständigen Parteien, d.h. keine eventuelle Opposition, zu (vgl. Tobler 1996: 12). 1910 brach die Revolution aus, in deren Wirren im Jahre 1917 die mexikanische Verfassung verabschiedet wurde (vgl. Tobler 1996: 14). In dieser Verfassung wurden im Art. 39 das Prinzip der Volkssouveränität und regelmäßige Wahlen festgelegt. Mexiko war jedoch 71 Jahre lang ein Einpartei-System (vgl. Rodrigo 2002: 38). Die vorherrschende Partei, die „Partei der Institutionalisierten Revolution“, genannt PRI, wurde 1929 gegründet, um die revolutionären Kräfte zu bündeln und regierungsfähig zu machen (vgl. Horn 1996: 40). So legitimierte sich die Herrschaft der Partei durch ihre Ideologie als „Erbe der mexikanischen Revolution“ (Rodrigo 2002: 38). Sie machte sich die Verwirklichung der revolutionären Ziele zur Aufgabe, die Institutionalisierung der Revolution, wie es schon der Name der Partei ausdrückt (vgl. Rodrigo 2002: 38). Aus der Revolution ist 1917 die mexikanische Verfassung hervorgegangen, die trotz zahlreicher Veränderungen in ihren Grundzügen noch heute erhalten ist. Ein Hauptziel der Revolutionäre ist im Art. 83 der Verfassung verankert; er besagt, dass eine Wiederwahl des Präsidenten unter absolut keinen Umständen möglich ist. Seit 1932 gab es keinen einzigen Verstoß gegen dieses Verbot: alle Präsidenten behielten ihr Amt nur die verfassungsgemäßen sechs Jahre (vgl. Horn 1996: 32) „Das Verbot der Wiederwahl ist nicht nur eine unabdingbare Verfassungsnorm, sondern Kernstück des politischen Glaubensbekenntnisses in Mexiko (…)” (Horn 1996: 32). Diese „unabdingbare Verfassungsform“ entstand aus der beinahe traumatischen Erfahrung der über 30-jährigen Amtszeit von Porfirío Díaz, die der Auslöser der Revolution war. Bis heute steht der Aufruf „Echte Wahl, keine Wiederwahl“ („Sufragio efectivo. No reeleccíon“) auf allen offiziellen Dokumenten als Schlussfloskel geschrieben (vgl. Horn 1996: 41). Die regelmäßigen Wahlen als Verwirklichung der Verfassung der mexikanischen Nation stellten somit die Basis für die Legitimation des Regimes dar (vgl. Rodrigo 2002: 92). Doch immer neue Wahlmanipulationen, auf die bei dem Kriterium Herrschaftszugang weiter eingegangen wird, stellten die Legitimation der Herrschaft der vorherrschenden Partei immer weiter in Frage. Die Glaubwürdigkeit der Wahlen litt enorm, was sich an der immer weiter sinkenden Wahlbeteiligung feststellen lässt (vgl. Lauth/Wagner 1993: 13, 57). Auch wurden die Wahlergebnisse geschönt: Es gibt in Mexiko zwei Gruppen: 1) alle grundsätzlich Wahlberechtigten und 2) alle registrierten Wähler. Die Registrierung ist die Vorraussetzung, um tatsächlich wählen zu können. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, den Prozentsatz der erhaltenen Stimmen und der Wahlenthaltung darzustellen. Der PRI bezog sich immer nur auf die registrierten Wähler, sodass sie eine größere Anzahl von Stimmen erhielten, als im Verhältnis zu allen grundsätzlich Wahlberechtigten. Umgekehrt ist der Prozentsatz der Wahlenthaltung viel geringer, als wenn man den Anteil derjenigen, die sich nicht registrierten, auch als Enthaltung und die grundsätzlich Wahlberechtigten als Bezugsgröße nehmen würde. In einer Umfrage von 1977 geben 89,4% an, dass es in Mexiko keine Freiheit der Partizipation gäbe (vgl. Lauth 1991: 373).
Bei der Präsidentschaftswahl 2000 gab es den historischen Machtwechsel: Vicente Fox Quesada ist der erste Präsident seit der Revolution, der nicht aus dem PRI stammt, sondern aus der vormaligen Oppositionspartei „Partei Nationale Aktion“, in Mexiko PAN genannt. Die Wahl 2000 war die erste wirklich demokratische Wahl (vgl. Krauze 2006), Fox versprach den Wechsel, weg von dem Ein-Partei-System, hin zu Parteipluralismus, echtem Wettbewerb und fairen Wahlen (vgl. Conger 2001: 63).
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- Arbeit zitieren
- Judith Bernet (Autor:in), 2006, Inwiefern ist das nachrevolutionäre Mexiko als Demokratie zu bezeichnen? Einordnung in die Typologie von Wolfgang Merkel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64578
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