Prospektive und retrospektive Zeitschätzung unter hoher und niedriger kognitiver Beanspruchung


Magisterarbeit, 2002

112 Seiten, Note: Sehr Gut


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

THEORETISCHER TEIL

1. Einleitung

2. Zeit in der Psychologie
2.1 Psychologische Zeitbegriffe
2.2 Die Physiologie der Zeit
2.3 Subjektive vs. objektive Zeit
2.4 Zeit als Variable in der experimentellen Psychologie
2.4.1 Die wahrgenommene Dauer
2.4.2 Die Wahrnehmung gefüllter Zeit
2.4.3 Die Wirkung von Einstellungen auf die wahrgenommene Dauer
2.5 Zusammenfassung

3. Die Schätzung der Zeit
3.1 Empirische Methoden der Zeitschätzung
3.2 Prospektive vs. retrospektive Schätzung, bzw. Beurteilung von Zeitintervallen
3.3 Der Einfluß der Aufgabenart
3.4 Zusammenfassung

4. Theoretische Modelle der Zeitschätzung
4.1 Modelltypen
4.2 Modell der Veränderungsmenge
4.2.1 Segmentierung des Wahrnehmungsstroms
4.2.2 Kontextveränderungen
4.3 Modell des Speicherbedarfs
4.3.1 Erinnerungsleistung und Zeitschätzung
4.3.2 Kodierung und Rekodierung
4.3.4 Amnestische Syndrome
4.4 Verarbeitungsaufwand - Modell
4.4.1 Kognitive Verarbeitung vs. sensorische Stimulation
4.4.2 Instruktionsgelenkte Aufmerksamkeit
4.4.3 Konkurrenz um kognitive Ressourcen
4.4.4 Vergleich der Modelle und Kritik
4.5 Studie zur Zeitschätzung
4.6 Zusammenfassung

5. Zeit als wirtschaftlicher Faktor
5.1 Interindividuelle Unterschiede betreffend Zeiterleben und Zeitbewußtsein
5.1.1 Fehlurteile und das Unwissen über das eigene Wissen
5.2 Entscheidungen
5.2.1 Entscheidungen im Team
5.2.2 Problemlösen
5.3 Zeitmanagement
5.3.1 Zeitmanagement als Teilaspekt des üblichen Management
5.3.2 Zeitmanagement auf persönlicher Ebene
5.4 Zusammenfassung

EMPIRISCHER TEIL

6. Fragestellungen und Hypothesen
6.1. Fragestellungen
6.2 Hypothesen

7. Methode
7.1 Material
7.2 Durchführung
7.3 Stichprobe

8. Ergebnisse
8.1 Zeitschätzung prospektiv - retrospektiv mit Aufgaben
8.2 Zeitschätzung prospektiv - retrospektiv ohne Aufgaben
8.3 Explorativer Teil
8.3.1 Zusammenhang zwischen Schätzung im Konfidenzintervall und tatsächlicher Zeit

9. Diskussion

10. Zusammenfassung

11. Literaturverzeichnis

12. Abbildungsverzeichnis

13.Tabellenverzeichnis

14. Anhang

THEORETISCHER TEIL

1. Einleitung

Mein Anliegen ist es, im Rahmen dieser Diplomarbeit folgende Fragestellung zu untersuchen: Die Fähigkeit, den erforderlichen Zeitbedarf zur Planung und Ausführung von Aufgaben richtig zu schätzen. Dies deshalb, da Zeitschätzung nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Alltag einen sehr wichtigen Aspekt darstellt. Durch die laufenden Veränderungen in der Arbeitswelt und die ständig wachsenden Anforderungen an Arbeitnehmer wie z.B. hin zu Flexibilität, dem Verschmelzen von Arbeitszeit und Freizeit und der zunehmendem Synchronisierung mehrerer Arbeitsprozesse rückt der Umgang mit Zeit in den Vordergrund. Diese Umstände führen dazu, daß sich Menschen einerseits unter (Zeit-)Streß gesetzt fühlen und/oder andererseits, vorgegebene Zeitrahmen nicht einhalten können.

Aus diesen Überlegungen heraus stellt sich für mich die Frage, wie Menschen den erforderlichen Zeitbedarf zur Ausführung an sie gestellter Aufgaben einschätzen. Hierdurch ergibt sich auch das Interesse sowohl an der retrospektiven als auch an der prospektiven Zeitschätzung, da sich das Vorhandensein oder Fehlen dieser Fähigkeit, sowohl wirtschaftliche Einbußen als auch Abstriche in der Lebensqualität zur Folge haben kann. All diese Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Thema stellen, nehmen meiner Meinung nach einen beträchtlichen Anteil einerseits an der Qualität und andererseits an der Ökonomie von Arbeitsprozessen ein und haben somit einen hohen Stellenwert in der Arbeitspraxis.

Im theoretischen Teil der Arbeit, welcher in vier Teile gegliedert ist, wird als erstes ein Überblick über den Zugang zum Thema Zeit in der Psychologie gegeben. Da der Mensch und seine Fähigkeit die Zeit zu schätzen im Mittelpunkt der Betrachtung steht wird hier im speziellen auf die experimentelle Erforschung der subjektiven Zeit eingegangen werden. Dabei werden zum ersten Methoden und zum zweiten jene Variablen vorgestellt, welche maßgebenden Einfluß auf die Wahrnehmung von Dauer zu haben scheinen. Das Kapitel „Theoretische Modelle der Zeitschätzung“ geht vertiefend auf das breite Spektrum heute vorherrschender Erklärungen zur menschlichen Zeitwahrnehmung und Schätzung dieser ein. Den Abschluß des Theorieteils bildet ein Exkurs über wirtschaftspsychologische Bemühungen die Zeit als wichtigen Faktor bei der Optimierung von Leistung, im wirtschaftlichen Sinn und Zufriedenheit auf individueller Ebene, hervor zu heben.

2. Zeit in der Psychologie

Grundsätzlich gibt es, historisch betrachtet, in der Entwicklung von Theorien zum Thema Zeit zwei gegensätzliche Pole: auf der einen Seite die biologische und auf der anderen die kognitive Richtung. Biologische Theorien sehen die psychologische Zeit als ein Produkt vom Gehirn gesteuerter Mechanismen. Dieser Theorie liegt die Annahme zu Grunde, daß der Mensch über eine oder mehrere innere Uhren verfügt, über die er direkten Zugriff zu zeitlicher Dauer bekommt. Das Forschungsfeld zum Thema „Zeit in der Psychologie“ ist sehr vielfältig, wie beispielsweise Versuche, sich an die zeitliche Dauer zu erinnern, Zeit zu schätzen oder Zeitvorgaben einzuhalten, um hier nur einige anzuführen. Ein bekanntes Untersuchungsfeld der frühen experimentellen Psychologie, bei der die Zeitvariable eine abhängige ist, wäre die Messung der Reaktionszeit. In der heutigen, modernen Psychologie, betrachtet man die Zeit zunehmend in einem anderen Kontext, und zwar als Funktion anderer, dahinter liegender Prozesse, wie zum Beispiel bei der mentalen Chronometrie. Man mißt Zeit, ausgehend von der Annahme, diese würde die Komplexität von Informationsverarbeitungsprozessen widerspiegeln (Roeckelein, 2000). Kognitive Theorien dagegen gehen davon aus, daß die psychologische Zeit ein Produkt von Informationsverarbeitung ist, insbesondere jener Prozesse, die das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und Urteile betreffen (Roeckelein, 2000).

Roeckelein (2000) berichtet über die von Block (1985, 1990) genannten vier Faktoren, die Einfluß auf die psychologische Zeit haben. Zum einen die Eigenschaften der Person, die Zeit erlebt, weiters die wahrgenommenen Inhalte der Zeitfrequenz, die Aktivitäten während dieser und zuletzt die Einstellung dazu und Urteile darüber. Wie die einzelnen Faktoren in Beziehung zueinander stehen und wie sie sich gegenseitig beeinflussen, wurde aber bisher noch nicht beschrieben. So sind Modelle, die sich mit der Zeitperspektive befassen, die bisher am wenigsten entwickelten. Allerdings versprechen Untersuchungen zu Veränderungen von Zeitperspektiven psychisch Kranker sowie bei veränderter Bewußtseinslage Modellentwicklungen zur zeitlichen Perspektive (Roeckelein, 2000).

Ein anderes psychologisches Forschungsfeld stellt die Untersuchung der Strukturen menschlichen Umganges mit der Zeit dar. Den Anstoß dazu gaben die prominenten Arbeiten von Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel (1960), welche die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf den Umgang mit der Zeit darstellten. Autoren wie Bond und Feather (1988) haben, von dieser Studie angeregt, die Zeitstruktur in den Mittelpunkt ihres Interesses gestellt und haben diese als das Ausmaß, in dem Individuen ihr Zeitverhalten als strukturiert und beabsichtigt bezeichnen, definiert (Bond & Feather, 1988).

2.1 Psychologische Zeitbegriffe

Zur subjektiven Zeitwahrnehmung herrscht in der psychologischen Literatur keine Einigkeit, eher eine begriffliche Vielfalt: so spricht man in diesem Zusammenhang von Zeiterfahrung, Zeiterleben, Zeitgefühl, Zeitsinn, Zeitwahrnehmung, Zeitschätzung, Zeitvorstellung, Zeitbewußtsein etc.

Es hat sich jedoch eine begriffliche Unterscheidung durchgesetzt, die zwischen Zeitwahrnehmung und Zeitschätzung differenziert. Zeitwahrnehmung bezieht sich auf sehr kurze Zeitspannen (bis maximal fünf Sekunden) und Zeitschätzung auf längere Zeitspannen. Während die Zeitwahrnehmung als Apperzeption in der Gegenwart verstanden wird, stehen bei der Zeitschätzung Gedächtnisprozesse im Vordergrund (Hinz,2000).

Plattner (1990) trifft, ausgehend vom Oberbegriff Zeitbewußtsein, weiters folgende Einteilung:

- Die Zeitperspektive, die kognitive Komponenten beinhaltet und sich auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Individuums bezieht,
- das Zeiterleben, worunter man das Empfinden der Zeit versteht (wie Langeweile oder Streß),
- und letztlich den Umgang mit der Zeit, also die pragmatische Zeitplanung.

Die Zeitperspektive bezieht sich auf die ferne Zukunft im Sinne eines Lebensplanes, der Umgang mit der Zeit meint dagegen den pragmatischen Bezug zu unmittelbarer Zukunft.

Einen anderen Zugang zum Thema Zeit findet man bei Dollase (2000), der seine Annäherung an die Materie über temporale Muster findet und wie folgt definiert: „Ein temporales Muster ist das Muster von Tätigkeiten, Ereignissen oder Erlebnissen, die in einem definierten Makrozeitabschnitt (z.B. Tag, Woche, Monat, Jahr) zeitlich lokalisiert werden können, und zwar nicht nur als reale Muster, sondern auch als hypothetische, gewünschte oder ideale" (Dollase, 2000, S. 13). Man kann temporale Muster unter anderem nach Verhaltensaspekten, oder nach dem Abstraktionsgrad von Aufgaben unterscheiden. Dollase gibt zu den Verhaltensaspekten das Beispiel zur Unterscheidung von einfachen Arbeits - Freizeit - Sequenzen; was den Abstraktionsgrad anbelangt, ist es möglich, die Arbeit in einzelne Sequenzen, wie Lesen, Schreiben, Prüfen usw. zu zerlegen. Auf weitere Einzelheiten temporaler Muster soll hier aber nicht weiter eingegangen werden, da die begriffliche Differenzierung, im Zusammenhang mit dieser Arbeit, zu ausschweifend wäre.

Will man in einem wissenschaftlichen Kontext Zeitbewußtsein analysieren, ist es nötig, die Dimensionen der Zeit zu unterscheiden, wie es z.B .Ornstein (1969) tut. Er unterscheidet verschiedene Arten von Zeitbewußtsein:

- Die Gegenwart
- Die Vergangenheit
- Die Zukunft

Unter Gegenwart versteht man das Erleben von sehr kurzen Zeitintervallen (Ornstein, 1969). Diesbezüglich haben sich Forscher weitgehend auf einen Zeitraum von etwa 2 bis 4 Sekunden geeinigt. Dieser Integrationszeitraum wird nach Pöppel, Ruhnau, Schill und Seinbüchel (1990, zitiert nach Dutke, 1997) als fundamentales Segment menschlicher kognitiver Aktivität betrachtet. Dies entspricht nach (Fraisse, 1963, S. 67 ff., zitiert nach Dutke, 1997,S.3) etwa dem subjektiven Eindruck des “Jetzt“, dem “psychological present“. Weiters wird dieser kurze Zeitraum der Gegenwart wird von James, (1890, zitiert nach Dutke, 1997) als “specious present“, bezeichnet und ähnlich dazu spricht Wundt (1911, zitiert nach Dutke, 1997) von Bewußtseinsumfang. Bei Fraisse (1963) finden sich alternative Begriffe anderer Psychologen, mit denen die Einheitlichkeit des Gegenwärtigen zu bezeichnen versucht wird (Dutke, 1997).

Unter Vergangenheit versteht man nach Ornstein (1969) das längere Erleben von Zeitdauer, welches auf dem Langzeitgedächtnis basiert.

Das Bewußtsein der Zukunft wird durch philosophische, aber vor allem kulturelle und soziale Konstruktionen der Welt definiert. Diese Konstrukte haben Einfluß auf die Interpretation der Zeit und Bewußtsein der Zukunft (Ornstein, 1969).

Unterschiedliche Weltanschauungen haben unterschiedliche Bewußtseinsformen der Zeit zur Folge. Dies wird deutlich, wenn man einen Exkurs in die Geschichte macht. Der Literatur kann man sowohl entnehmen, daß es in Europa im Mittelalter mit den Sonntagen 90 bis 115 Feiertage im Jahr gab, als auch die heute unmöglich anmutende Tatsache, daß noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts jeder dritte Tag in Wien, ein Feiertag war. Später folgte als eine der Voraussetzungen der frühkapitalistischen Produktion eine massive Reduktion dieser. Durch die Industrialisierung änderte sich die Einstellung zur Zeit und damit das Zeitbewußtsein an sich: Weg von einer Agrargesellschaft mit Zeitüberfluß hin zu einer modernen Gesellschaft, deren Tempo durch Maschinen bestimmt wurde (Hinz, 2000).

2.2 Die Physiologie der Zeit

Die Chronobiologie, jene Wissenschaft, die sich mit der biologischen Zeit beschäftigt, untersucht schon seit Jahrhunderten den inneren Taktgeber in der Tier,- und Pflanzenwelt. Hinz (2000) gibt dazu die Geschichte des Astronomen De Marian wieder, der im Jahre 1729 ein Experiment mit einer Blume machte, die er für mehrere Tage in ein verdunkeltes Zimmer stellte. Trotz der Dunkelheit öffnete die Pflanze jeden Morgen ihre Blüten und Blätter. Später wurde dieser Versuch wiederholt, unter Konstanthaltung der Temperatur bei Tag und Nacht, mit dem selben Ergebnis. Im Zuge weiterer Untersuchungen kam man zu dem Schluß, daß neben den genetisch vorprogrammierten auch ankonditionierte Zeitgeber existieren. Nach der Entdeckung dieses inneren Zeitsinns bei Pflanzen, später bei Tieren, stellte man sich die Frage, wo dieser angesiedelt ist und wie dieser, im Unterschied zu Fauna und Flora, beim Menschen funktioniert. Man kann festhalten, daß der Mensch, ähnlich wie es in der Tierwelt der Fall ist, über mehrere innere Uhren verfügt. Ganz charakteristisch ist der 24 - Stunden - Rhythmus, der als eine Konditionierung auf den Tag - Nacht - Wechsel verstanden werden kann. Ein direktes Zeitorgan gibt es aber nicht, der „Zeitsinn“ ist viel mehr „an den Ablauf der elementaren Lebensvorgänge gebunden“ (Rohracher, 1971, S.148, zitiert nach Hinz, 2000, S.17).

Aus Berichten von verschütteten Bergleuten geht hervor, daß die physiologischen Circadian - Uhren beim Menschen sehr „ungenau“ sind. Die Mehrheit der überlebenden Opfer gibt nach ihrer Bergung an, das Gefühl zu haben, weitaus kürzer verschüttet gewesen zu sein, als es tatsächlich der Fall war (Hinz 2000).

Wie bereits oben beschrieben, wird eine Unterscheidung zwischen der Zeitwahrnehmung und der Zeitschätzung getroffen. Dabei versteht man unter Erstem einen Zeitsinn für sehr kurze Zeitspannen (im Sekundenbereich) und unter Zweitem einen Zeitsinn für längere Zeitdauern. Bezogen auf die Zeitwahrnehmung konnte sowohl im Tierexperiment, als auch in Experimenten mit Menschen die Hypothese bestätigt werden, daß es einen neuronalen Mechanismus gibt, der unabhängig von Umweltreizen funktioniert (Hinz, 2000).

Rammsayer (1992, zitiert nach Hinz, 2000) konnte beispielsweise im Millisekundenbereich keine Fähigkeitsunterschiede zwischen Blinden und Nichtblinden feststellen. Bei der Schätzung längerer Zeitdauern aber, waren blinde Versuchspersonen erwartungsgemäß überlegen. Weiters konnte Rammsayer (1992, zitiert nach Hinz, 2000) Übungseffekte bei Zeitschätzungsaufgaben nachweisen, was bei kurzen Zeitdauern nicht gelang. Auch bei der Verabreichung von Drogen wurde der neuronale Zeitmechanismus bei sehr kurzen Zeitdauern nicht gestört. Es scheint also im Millisekundenbereich ein internes Zeitmeßgerät zu geben, das keinem Erfahrungslernen unterliegt. Rammsayer vermutet einen neuronalen Taktgeber und einen dazu passenden Zählmechanismus auf subcorticalem Niveau (Rammsayer, 1992, zitiert nach Hinz, 2000).

2.3 Subjektive vs. objektive Zeit

Zeit ist unter verschiedenen Aspekten Gegenstand der Physik, der Biologie, Philosophie, Soziologie und neben vielen anderen Disziplinen auch der Psychologie. Die Annahme, daß Menschen die Ereignisfolgen, die wir als Zeitsequenzen erleben, seit jeher in der heute vorherrschenden Weise erlebt hätten, und zwar als einen gleichmäßigen, einförmigen und kontinuierlichen Fluß, steht im Widerspruch zu einigen Tatsachenbeobachtungen aus Vergangenheit und Gegenwart. Beispielsweise ist Einsteins Korrektur des Newtonschen Zeitbegriffs ein moderner Beweis dafür , daß sich der Begriff der Zeit ändern kann. Einstein machte dabei deutlich, daß die Newtonsche Auffassung der Zeit als eines einheitlichen und einförmigen Kontinuums über das gesamte physikalische Universum nicht haltbar ist. Bei einem Rückblick in die Geschichte auf frühere Stufen der Entwicklung menschlicher Gesellschaften findet man ebenso Belege für entsprechende Wandlungen in der Erfahrung und begrifflichen Erfassung dessen, was wir heute „Zeit“ nennen. In unserem Gebrauch befindet sich der Zeitbegriff auf einem hohen Verallgemeinerungs- und Syntheseniveau und setzt damit ein hohes Wissensniveau über die Methoden des Messens von Zeitsequenzen und über deren Regelmäßigkeiten voraus. Auf einer früheren Stufe, konnten Menschen dieses Wissen nicht haben, was Zeitmaßstäbe wie Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Sterne belegen (Elias, 1994).

Für die Psychologie ist die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Zeit wichtig.

Wir sind damit vertraut, Zeit als objektiv meßbare, auf Intervallskalaniveau definierte Einheit abzubilden. Einfach ausgedrückt, die Uhrzeit zu lesen, - die Uhrzeit als objektiver Schrittmacher, der uns ermöglicht, unseren Alltag zu gestalten und der tägliche Funktionieren wichtiger Lebensbereiche sichert. Mit objektiver Zeit ist die durch Uhren meßbare Zeit der physikalischen Welt gemeint, mit subjektiver Zeit hingegen das innere Zeitgefühl.

Fähigkeiten wie Zeitbewußtsein, eine Vorstellung über Zeit und das subjektive Empfinden dieser werden exklusiv dem Menschen zugeschrieben. Obwohl kein Zweifel darüber besteht, daß subjektives Zeiterleben ein Produkt höherer kognitiver Prozesse ist, führt es uns dennoch immer wieder irre. Das trügerische am subjektiven Zeiterleben ist, daß uns das Gefühl über die Dauer eines Zeitintervalls täuscht, und an der Realität (die man in diesem Zusammenhang mit Hilfe der Uhrzeit abbilden würde) vorbei geht. In der Literatur (Hede, 1996; Schräder-Naef,1989) herrscht Einigkeit zu diesem Thema darüber, was jeder Leser aus eigener Erfahrung nachvollziehen können wird: Menschen schätzen Zeitabschnitte, die durch angenehme Ereignisse gekennzeichnet waren, kürzer, als sie tatsächlich waren. Man hat das Gefühl, die Zeit wäre „verflogen“. Widerfährt einem dagegen Negatives und Unangenehmes, berichtet man über eine längere subjektive Zeitspanne, als sie es in Wirklichkeit war. Das subjektive Zeiterleben, in anderen Worten die bewußte Wahrnehmung zeitlicher Dauer beim Menschen, ist keine primitive Intuition darüber, daß Zeit vergeht, sondern im Gegenteil das Resultat von Schlußfolgerungsprozessen. Dabei werden zahlreiche Variablen einbezogen, wie die Anzahl und Qualität von Ereignissen während des zu schätzenden Zeitabschnittes, sowie komplexe Beziehungen anderer Aspekte von Vorkommnissen zu dieser Zeit (Hede, 1996).

Schräder - Naef (1989) nennt vier Faktoren, ausgehend von einer Zusammenfassung zahlreicher Studien (Borg & Galliant, 1985) zur Frage, wovon subjektives Zeiterleben abhängt. Diese wären folgende:

- Bewertung (wird die Tätigkeit positiv oder negativ erlebt?)
- Menge (sind viele oder wenige Einheiten auszuführen?)
- Variabilität (ist die Beschäftigung abwechslungsreich oder monoton?)
- Schwierigkeit der Bewältigung

Das subjektive Erleben zeitlicher Dauer ist ein zentraler Punkt der heutigen Forschung zur kognitiven Psychologie der Zeit und insbesondere zur zeitlichen Organisation des Gedächtnisses.

Nachdem die verschiedenen Zugänge zur Zeit dargestellt wurden, soll an dieser Stelle eine grafische Übersicht gegeben werden. Diese soll die unterschiedlichen Herangehensweisen an eine derart komplexe und abstrakte Materie, wie es die Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit darstellt, veranschaulichen und die Zusammenhänge verdeutlichen. Da der Mensch ganzheitlich in einem globalen Kontext betrachtet werden soll, dürfen hier sozio-kulturelle und kultur-historische Aspekte nicht außer acht gelassen werden. Hede, (1996, S. 7) gibt dazu folgende hierarchische Übersicht sich gegenseitig beeinflussender Dimensionen:

Abbildung 1: Dimensionen der Zeit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In Abbildung 1 werden die Ebenen der Zeit schematisch dargestellt. Pfeile stellen den Einfluß der Ebenen aufeinander dar, wobei die vertikal nach oben zeigenden Pfeile andeuten, daß höhere Ebenen Produkte darunterliegender sind. Umgekehrt haben aber auch höhere Ebenen Einfluß auf darunter liegende.

2.4 Zeit als Variable in der experimentellen Psychologie

Die Psychologie beschäftigt sich mit der Zeit als abhängige Variable einerseits und als unabhängige Variable andererseits. Je nach Fragestellung und Interesse wird der Status der Zeitvariable abgeändert. Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze zur Definition der Zeitvariable in psychologischen Untersuchungen:

- Zeit als abhängige Variable, als Reaktionszeit: In lerntheoretischer Richtung wird die Reaktionszeit als ein Indikator für die Enge einer Reiz-Reaktionsverbindung gewertet. Im Rahmen kognitiver Theorienbildung werden Reaktionszeiten als Hinweise auf die Menge und Komplexität informationsverarbeitender Prozesse betrachtet, die einer beobachtbaren Reaktion vorausgehen (Dutke, 1997).
- Zeit als unabhängige Variable, als Reizeigenschaft: Jeder Reiz ist u. a. durch seine zeitliche Erstreckung charakterisiert. Die Darbietung mehrerer Reize, kann durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnet sein, oder durch unterschiedliche (Inter-Stimulus-) Intervalle. Zeit als unabhängige Variable fand vor allem Beachtung im Rahmen der Psychophysik und der Wahrnehmungspsychologie (Dutke, 1997).

2.4.1 Die wahrgenommene Dauer

Menschen können Zeit innerhalb der Grenzen psychologischer Gegenwart wahrnehmen. Doch die Modalitäten der Wahrnehmung unterscheiden sich in Qualität und Quantität mit der physikalischen Natur wahrgenommener Veränderungen. Zu diesem Thema existieren zahlreiche Ergebnisse aus Studien, die sich jedoch mit der Wahrnehmung von sehr kurzen Zeitdauern beschäftigen (Fraisse, 1985). In diesem Zusammenhang ist das Indifferenzintervall von zentraler Bedeutung. Dieses Intervall bestimmt jene zeitliche Schwelle, bei der ein Individuum ein Ereignis gegenüber einem anderen als unterschiedlich erlebt. Untersuchungen dazu bewegen sich im Millisekundenbereich und fanden heraus, daß das am genauesten reproduzierte Intervall 0,75 sec. beträgt. Wenn dies mit anderen bekannten Leistungen in Beziehung gesetzt wird, wie beispielsweise das Erfassen einer aus 5 bis 6 dargebotenen Zahlen, oder das Bilden einer Assoziation zwischen zwei Wörtern, kann darin eine mögliche Erklärung für das 0,75 sec. Intervall gesehen werden. Zur Bildung von Assoziationen hat sich jener Zeitraum als optimal erwiesen. Folglich liegt die Annahme nahe, daß man in der Reproduktion von Zeitdauern unwillkürlich, durch Verkürzung längerer Intervalle und Verlängerung kurzer Intervalle, objektive Zeiträume dieser Geschwindigkeit anpasst (Fraisse, 1985).

2.4.2 Die Wahrnehmung gefüllter Zeit

Fraisse (1985) postuliert allgemein, daß kurze Dauern grundsätzlich überschätzt und lange Dauern unterschätzt werden, bei gleicher Gültigkeit sowohl für „leere“ als auch für „gefüllte“ Zeiträume. Ausgehend von dieser Annahme wurden die Wirkungen verschieden gefüllter Intervalle auf deren merkliche Dauer untersucht.

2.4.2.1 Unterteilte Intervalle

Zwischen „gefüllten“ und „leeren“ Zeitspannen gibt es einen Bereich, in dem sich das Intervall zwischen zwei Grenzen findet und mit unterschiedlichen Stimuli ausgefüllt ist. Das Phänomen ist analog zu Punkten, angeordnet in einem geometrischen Raum. Hierzu ist bekannt, daß eine unterteilte Strecke kürzer erscheint als eine nicht unterteilte der selben Länge. Interessant ist die Frage, ob sich diese Täuschung auch hinsichtlich der Zeit ergibt. Eine Schlußfolgerung dahingehend ist problematisch, da man zur Untersuchung jenes Phänomens, zwei qualitativ unterschiedliche Formen miteinander vergleichen müßte. Kann man zu aussagekräftigen Schlüssen kommen, wenn zwei unterschiedlich unterteilte Intervalle oder ein unterteiltes mit einem gefüllten verglichen werden? Trotz aller Probleme, die hinter dieser Frage stehen, nennt Fraisse (1985) aufgrund experimenteller Untersuchungen folgende Aussagen:

- Unterteilte Intervalle erscheinen länger als leere der selben Dauer,
- dieser Effekt wird abgeschwächt, wenn die gesamte Intervalldauer in demselben Ausmaß zunimmt wie die Anzahl der Unterteilungen und
- ein häufiger unterteiltes Intervall erscheint länger, als das selbe mit weniger Unterteilungen (Fraisse, 1985).

2.4.2.2 Darbietungsmodalität der Stimuli

Fraisse (1985) faßt Arbeiten verschiedener Autoren, die sich mit der Abhängigkeit der sensorischen Modalität der Stimuli und ihrer Einschätzung beschäftigt haben, zusammen, und kommt zum folgenden Schluß: „Auditive und visuelle Stimuli zwischen 1 und 16 sec. werden, gleich unter welchen Bedingungen, identisch reproduziert“ (Fraisse, 1985, S.134). Dabei wurden alle drei gängigen Untersuchungsmethoden angewandt (Reproduktion, Produktion und verbale Schätzung).

2.4.3 Die Wirkung von Einstellungen auf die wahrgenommene Dauer

Versucht man den Mechanismen auf den Grund zu gehen, die das Erleben von zeitlicher Dauer beziehungsweise der Zeitwahrnehmung beeinflussen, darf ein ganz wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden: die Wirkung von Einstellungen.

Eine Person, die ein zeitliches Ereignis in seiner Dauer einschätzen soll, läßt sich nicht nur, wie oben schon beschrieben, von der Wahrnehmungsmodalität des zeitlichen Ereignisses beeinflussen, sondern sie bildet dazu eigene Hypothesen. Damit ist gemeint, daß jeder Mensch eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung oder zumindest Erwartung bezüglich dieses zeitlichen Ereignisses hat oder bildet. Diese subjektiven Hypothesen wiederum, werden von unterschiedlichen Faktoren determiniert, wie beispielsweise frühere Erfahrungen und Persönlichkeit des Individuums, sowie vom aktuellen Wahrnehmungskontext (Block,1990; Dutke, 1997; Fraisse, 1985; Schräder-Naef, 1998). Einstellungen bewirken eine selektive Reduktion von Information und beeinflussen dahingehend auch die Wahrnehmung der erlebten Dauer. Fraisse (1985) berichtet auch, daß ein Intervall um so höher überschätzt wird, je stärker es fixiert wird. In anderen Worten, je mehr Bedeutung wir einem Intervall beimessen, um so stärker wird es in seiner Dauer überschätzt. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang ein Experiment, welches mittels der Wirkung von Einstellungen versucht, den Positionierungsfehler zu erklären. Dieser Fehler ist dadurch gekennzeichnet, daß er Zusammenhänge hervorbringt, wo eigentlich keine sind. Im Zusammenhang mit Zeitexperimenten zeichnet er sich dadurch aus, daß beim Vergleich von zwei aufeinander folgenden Intervallen der zweite signifikant öfter länger erscheint. Tatsächlich handelt es sich hierbei um die Wirkung der Aufmerksamkeit auf den später dargebotenen Stimulus. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Wahrnehmung der Dauer eines Stimulus unter anderem von der Einstellung eines Individuums abhängig ist und dabei insbesondere von der Ausrichtung der Aufmerksamkeit.

In Abbildung 2 wird das Modell nach Treisman (1963, aus Hede, 1996 S. 177) gezeigt. Es veranschaulicht einige in der Arbeit bereits beschriebenen Einflußgrößen (z.B. Merkmale des Intervalls und Aufmerksamkeit) auf die menschliche Zeitwahrnehmung und Schätzung.

Abbildung 2: Modell nach Treisman (1963)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anmerkung: Grafik entnommen aus: Hede (1996, S. 177)

2.5 Zusammenfassung

In der Psychologie gibt es zwei Zugänge zum Thema Zeit: Zeit als abhängige Variable, also als Reaktionszeit. In lerntheoretischer Richtung wird die Reaktionszeit als ein Indikator für die Enge einer Reiz - Reaktionsverbindung gewertet. Da meist die subjektive Zeit von Interesse ist, also wie Menschen diese erleben, mit dieser umgehen und sie zuletzt auch planen, wird dieses Thema häufig im Rahmen kognitiver Theorien untersucht. Hier werden Reaktionszeiten als Hinweise auf die Menge und Komplexität informationsverarbeitender Prozesse betrachtet. Als wichtigste Faktoren, die das Zeiterleben beeinflussen, werden die Eigenschaften der Person, welche Zeit erlebt, die wahrgenommenen Inhalte, die Aktivitäten in diesem Zeitraum und die Einstellung und Urteile darüber, genannt.

3. Die Schätzung der Zeit

Erfahrungen aus dem Alltag sind der beste Beleg dafür, daß wir bei der Schätzung der Zeit unsicher sind. So ist es schwierig zu sagen, wie lange man gerade gelesen hat oder wie viel Zeit das Lesen der kommenden Seiten beanspruchen wird. Dennoch schätzen wir immer wieder die Dauer unserer Tätigkeiten und vergleichen dann die intuitive Schätzung mit der objektiven Messung. Um im folgenden weiter auf das Thema der Zeitschätzung eingehen zu können, soll vorab ein Überblick über verschiedene Arten beziehungsweise Formen der Schätzung von Dauern gegeben werden.

3.1 Empirische Methoden der Zeitschätzung

Absolute Urteile sind die häufigste Art von Zeitschätzung. Wie alle absoluten Urteile sind diese also nichts anderes als implizite Vergleiche, die, auf das Thema Zeit angewandt, folgendermaßen zum Ausdruck kommen: Man findet, etwas dauert lange oder nicht lange. Sagt man, etwas dauert lange, gibt diese Aussage das Verhältnis einer erlebten Dauer zu einem Bezugswert wieder. Solche absoluten Urteile sind ganz stark von „Zeitgefühlen“ determiniert und somit spielen Gewohnheiten und Wünsche während des zu schätzenden Intervalls eine große Rolle (Fraisse,1985).

Eine weitere Möglichkeit, die Zeit zu schätzen, besteht darin, zwei aufeinander folgende Dauern im Verhältnis miteinander zu vergleichen, wie es z.B. Block (1974) in seiner Arbeit tut. Solche Vergleiche machen wir in unserem Alltag häufig, wenn wir zum Beispiel sagen, die Fahrt dauert heute länger als gestern. Diese Methode der Zeitschätzung wurde in der Psychophysik standardisiert und wird bei Untersuchungen häufig angewandt. Diese Methode hat jedoch den Nachteil, daß Zeitfehler (time error) mit einfließen, insbesondere bei kurzen Dauern. Bei längeren Dauern und wahrnehmbaren Intervallen zwischen den Reproduktionen treten mnestische Zeitverzerrungen auf (Fraisse, 1985).

Eine weitere Art, zeitliche Dauer zu schätzen, ist der Versuch einer quantitativen Beurteilung, wie beispielsweise bei Fraisse (1985) oder Burt und Kemp (1994). Quantitativ deshalb, weil bei diesen verbalen Schätzungen Angaben über Sekunden, Minuten oder Stunden gemacht werden. Dies ist natürlich sehr schwierig und erst nach langer Übung beziehungsweise Erfahrung möglich. Die Schwierigkeit, Dauer quantitativ zu schätzen, ergibt sich hier aus der Tatsache, daß man keine bildlichen Vorstellungen über Zeiteinheiten bilden kann, wie es beispielsweise bei räumlichen Distanzen möglich ist. Personen tun sich leichter, sich vor dem geistigen Auge die Länge von einem Meter bildlich vorzustellen, als die Dauer einer Minute. Aus diesem Grund bleibt einem nur der Versuch, eine ähnliche Dauer zu reproduzieren und die Zeit subjektiv mehr oder weniger genau zu beurteilen. Diese Methode der Zeitschätzung ist eine der gebräuchlichsten, da sie Informationen liefert, die mit denen der Uhr vergleichbar sind (Fraisse ,1985).

Man kann die Zeit auch mittels einer Reproduktion schätzen. Die Methode der Reproduktion wird in der experimentellen Untersuchung so eingesetzt, daß die Versuchsperson die Instruktion bekommt, ihren Eindruck über die Dauer während einer Tätigkeit und möglichst genau ein zweites Mal während einer anderen Tätigkeit wiederzugeben. Eine solche Untersuchungsmethode findet man beispielsweise in den Arbeiten von Burnside (1971). Der gleiche Effekt wird auch erreicht, wenn man die Versuchsperson veranlaßt, ihren Eindruck über eine Dauer während einer Tätigkeit ein zweites Mal herzustellen, in dem sie durch zwei Signale den Beginn und das Ende der Reproduktion kennzeichnet. (Fraisse, 1985, Hicks, Miller & Kinsbourne 1976)

Die fünfte Methode, die in der experimentellen Untersuchung der Zeitschätzung ihre Anwendung findet, ist die der Produktion. Diese besteht darin, daß sich die Versuchsperson während eines Zeitabschnittes (ausgedrückt in Zeiteinheiten) betätigen und zum Beispiel eine Minute lesen soll (Fraisse, 1985).

Verbale Schätzung und die Produktionsmethode sind insofern ähnlich, daß Vergleichsprozesse zwischen der erlebten Dauer und der Information aus dem Gedächtnis bezüglich konventioneller Dauern stattfinden (Block, Hancock & Zakay, 2000).

Zu den eben dargestellten Untersuchungsmethoden muß leider festgestellt werden, daß jede für sich alleine sehr vielversprechend klingt, wenn man jedoch ein Experiment mit jeder einzelnen Methode wiederholt, kommen sich teilweise widersprechende Ergebnisse heraus. Die einzige signifikante Korrelation fand man bei einer Analyse von Interkorrelationen bei Fraisse (1985) zwischen der Schätzung und der Produktion. In Summe ist keine der Schätzungsarten präzise, die auf der Reproduktionsmethode basierenden Untersuchungen können jedoch als am zuverlässigsten bezeichnet werden. Diese Schätzungsmethode erlaubt den Vergleich erlebter Dauer während unterschiedlicher Aufgaben, da Personen eine ziemlich gleichbleibende subjektive Skala zu haben scheinen.

Auf die Veränderungen der erlebten Dauer und die Zeitschätzung in Abhängigkeit der Intervalle oder der Aufgabenart wird im Abschnitt 4 im Rahmen der Modelle zur Zeitschätzung ausführlich eingegangen. Nun soll noch einleitend ein Überblick maßgebender Variablen zur Zeitschätzung gegeben werden.

3.2 Prospektive vs. retrospektive Schätzung, bzw. Beurteilung von Zeitintervallen

Wie aus dem Titel der Arbeit hervorgeht, geht es hier unter anderem auch um die Unterscheidung der Perspektive während des zu schätzenden Zeitintervalls. Eine mögliche Unterscheidung ist die Einteilung in Prospektiv und Retrospektiv. Im Rahmen dieser Arbeit wurde für den Gebrauch dieser perspektivischen Zugänge im semantischen Sinne entschieden. Diese beide zeitlichen Perspektiven werden in der Art verwendet werden, wie es die meisten Menschen gewohnt sind. Laut Lexikon wird prospektiv folgendermaßen erklärt: „...der Aussicht, der Möglichkeit nach; vorausschauend; die Weiterentwicklung betreffend...“ (Duden, 1990, S.642). Wenn also im Zusammenhang mit der Zeitschätzung in dieser Arbeit gesprochen wird, ist damit die Zeit oder das zu beurteilende Intervall ab jetzt in die Zukunft gerichtet vorausschauend gemeint. Entsprechend dazu, aber in die Vergangenheit gerichtet, wird die retrospektive Zeitschätzung verstanden. In diesem Fall macht man einen Rückblick auf die bereits vergangene Episode eines zeitlichen Intervalls (Hinz, 2000). Laut Lexikon bedeutet retrospektiv: „Rückschauend, rückblickend“ (Duden, 1990, S.681).

Burt und Kemp (1994) benutzen in ihrer Studie die Termini Prospektiv und Retrospektiv ebenfalls in dieser Weise. Sie weisen allerdings darauf hin, daß in der Literatur diese Termini, insbesondere jener der prospektiven Zeitschätzung, in anderer Weise gebräuchlich sind und umschreiben ihre prospektive Bedingung als „expected duration“, also als erwartete Dauer. Als schönes Beispiel, unter dem man sich vorstellen kann, was (unter prospektiver Zeitschätzung/erwarteter Dauer) gemeint ist, führen sie folgendes an: „I shall be home in about 20 minutes, after I have picked up my dry-cleaning“ (Burt & Kemp, 1994, S. 156). In Kapitel 4.5 soll auf das Experiment zur erwarteten Dauer versus der retrospektiven Schätzung derselben näher eingegangen werden, da dieses Experiment für den empirischen Teil dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielt.

Tatsache ist, daß es zur „erwarteten Dauer“ so gut wie keine experimentellen Studien gibt. Eine Erklärung dafür findet man in der Forschungstradition zu Zeitschätzung. Der Großteil der Experimente wird mit „sinnlosem“ Material durchgeführt und macht dadurch die Aufgabenstellung, die Dauer im Vorhinein zu schätzen, unmöglich. Als durchaus interessante Ausnahme (im Hinblick auf die Jahreszahl) ist die Arbeit von Gullicksen (1927) zu nennen, bei der man die zu schätzenden Zeitintervalle mit Aufgaben wie: Ausruhen, spiegelverkehrtes Lesen, Kopfrechnen und Diktat schreiben füllte. Die Studie von Burt und Kemp (1994) stellt in dieser Hinsicht eine Innovation dar, da sie mit „sinnvollem“ Material, also aus dem Alltag bekannten Aufgaben arbeitet und dadurch auch eine Untersuchung der „prospektiven Zeitschätzung“ im Sinne einer Einschätzung der erwarteten Dauer ermöglicht.

Wie bereits erwähnt, werden die Begriffe Prospektiv und Retrospektiv in den meisten experimentellen Studien anders verwendet bzw. definiert. Prinzipiell erfolgt bei diesen die Frage nach der Dauer erst nach dem Ereignis. Die Unterscheidung, ob prospektive oder retrospektive Schätzung von der Versuchsperson verlangt wird, erfolgt, nach dem das Intervall vergangen ist. Im Falle der prospektiven Bedingung wird dem Versuchsteilnehmer bereits vorher mitgeteilt, daß später eine Zeitschätzung abgefragt wird. Im Fall der Retrospektiven Bedingung wissen die Versuchspersonen nicht, daß eine Zeitschätzung nach Darbietung diverser Stimuli von ihnen verlangt werden wird. Im Grunde genommen geht es darum, die erst genannte Gruppe so zu instruieren, daß sie die Zeit während des Intervalls bewußt erlebt, und die letztere jedoch nicht zu informieren und durch das Abfragen der Zeitschätzung zu überraschen (Predebon, 1999). In anderen Worten bedeutet prospektiv in diesem Zusammenhang, daß man weiß, was später von einem verlangt wird. Retrospektiv bleibt im Sinne der oben gegebenen Definition, man erinnert sich also rückblickend (im Nachhinein) an ein bereits verstrichenes Intervall. Zakay, Tsal, Moses und Shahar (1994) beschreiben den Unterschied zwischen prospektiver und retrospektiver Zeitschätzung folgendermaßen: „In prospective time estimation, subjects are informed that they will later be asked to estimate the duation of a given interval, wheras in retrospective time estimation this information is not known in advance“ (Zakay, Tsal, Moses & Shahar, 1994, S. 344).

Die Idee hinter der Verwendung der Begriffe Prospektiv und Retrospektiv, wie es manche Autoren (z.B.: Burt & Kemp, 1994; Westergren, 1990) tun, ist jene, daß man nicht nur Aussagen über das Zeitempfinden im Nachhinein machen kann, sondern experimentell auch die Fähigkeit, die Dauer von bevorstehenden Tätigkeiten zu schätzen, untersuchen kann. Dieser Aspekt wurde in der traditionellen Forschung zum Thema Zeitschätzung vernachlässigt und das Augenmerk auf Schätzungen im Nachhinein gelegt.

Nachdem auf die augenscheinliche Relevanz der experimentellen Untersuchung der Fähigkeit zur Schätzung erwarteter und vergangener Dauer hingewiesen wurde (prospektive/retrospektive Zeitschätzung), soll auf die zugrunde liegende Theorien, wie beispielsweise die Rolle des Gedächtnisses, eingegangen werden.

Autoren sind sich auf dem Gebiet der Zeitschätzung, -wahrnehmung und des Erlebens von zeitlicher Dauer darüber einig, daß das Gedächtnis eine zentrale Rolle spielt. So widmet beispielsweise Block (1974) in einer seiner zahlreichen Arbeiten zu diesem Thema sein Interesse dem Gedächtnis während der Zeitschätzung.

Einen etwas anderen Aspekt des Gedächtnisses im Zusammenhang mit Zeitschätzung untersuchten Ceci, Baker und Bronfenbrenner (1988), als sie das „Prospektive Gedächtnis“ in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten. Verwunderlich erscheint, daß es zu diesem Thema kaum Studien gegeben hat, obwohl es ein sehr alltagsrelevantes Problem darstellt: Unter prospektivem Gedächtnis versteht man nach Ceci et. al. (1988) das Erinnern an eine in der Zukunft liegende Handlung (z. B: Nach zehn Minuten das Badewasser abdrehen, nächsten Freitag ein Geschenk besorgen oder Mitte nächsten Monats eine Rechnung zahlen)

Das Gedächtnis war auch bei den Arbeiten von Ornstein (1969) ein ganz zentrales Element, zwar nicht ganz im Sinne der Schätzung von erwarteter Dauer, da es sich hier um Prozesse handelt, die das Kurzzeitgedächtnis betreffen, aber dennoch schon in frühen Jahren der Forschung auf diesem Gebiet die Bedeutung des Gedächtnisses aufzeigten. Auf Ornsteins Theorie des Speicher - Modells und die Bedeutung des Kurzzeitgedächtnisses wird im Abschnitt 4 dieser Arbeit näher eingegangen werden.

Die Bedeutung des Gedächtnisses bei der Schätzung der erwarteten Dauer von Tätigkeiten, Ereignissen oder Intervallen läßt sich am besten anhand der „retrospektiven“ Methode der Zeitschätzung erklären. So wie man sich an ein eben verstrichenes Intervall erinnern kann, bezogen aus dem Kurzzeitgedächtnis (z. B.: das Lesen der letzen Seite), und sich ein Bild darüber machen kann, wie lange dieses circa gedauert hat, kann man ebenso Erinnerungen an länger zurückliegende Intervalle aus dem Langzeitgedächtnis beziehen und sie mit Erfahrungswerten über ihre Dauer besetzen. Auf diese Weise käme man beispielsweise zur weiter oben zitierten Aussage: : „I shall be home in about 20 minutes, after I have picked up my dry-cleaning“ (Burt & Kemp, 1994, S. 156). In diesem Fall greift man auf die Erinnerung vergangener Ereignisse und die Erfahrungen, die damit verbunden sind, zurück und schließt daraus auf die Zukunft. Dieser Prozeß kann mit dem Überbegriff der Mentalen Modelle in Zusammenhang gebracht werden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Prospektive und retrospektive Zeitschätzung unter hoher und niedriger kognitiver Beanspruchung
Hochschule
Universität Wien  (Arbeitsgruppe für Wirtschaftspsychologie an der Universität Wien)
Note
Sehr Gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
112
Katalognummer
V6540
ISBN (eBook)
9783638140836
Dateigröße
2924 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Empirische Arbeit mit quanitativer Datenauswetung und Analyse.
Schlagworte
Prospektive, Zeitschätzung, Beanspruchung
Arbeit zitieren
Stanislava Banjac (Autor:in), 2002, Prospektive und retrospektive Zeitschätzung unter hoher und niedriger kognitiver Beanspruchung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6540

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