Eine Reihe von Ereignissen in den Jahren 1989/90/91 hat die politische Landschaft
Deutschlands und der Welt enorm geändert. Im November 1989 fiel die Berliner Mauer, die
die zwei deutschen Staaten physisch und symbolisch voneinander getrennt hatte, somit auch
das kommunistische Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der
Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Im Jahre 1990 gingen die Ereignisse so weit,
dass die vier ehemaligen Besatzungsmächte Deutschlands – die Sowjetunion, die Vereinigten
Staaten, Großbritannien und Frankreich – die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik
Deutschland (BRD) und damit der Transfer des DDR-Gebiets weg vom Warschauer Pakt hin
zum Nordatlantischen Bündnis gebilligt hatten. Diese Vereinbarung war ein Vorbote der
Einstellung des Kalten Krieges im Jahr 1991. Wenige Monate nach dem formellen Ende des
Kalten Krieges löste sich die Sowjetunion auf. Als ‚Nachbeben’ dieses imperialen
Zusammenbruchs gingen in den darauf folgenden Jahren die konstitutiven Nationalitäten
der Tschechoslowakei und Jugoslawiens auseinander. Auf der politischen Landkarte
Europas entstanden mehrere neue Staaten auf den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion,
der Tschechoslowakei und Jugoslawiens. Und parallel dazu fusionierten die ehemalige DDR
und die BRD zu einem Staat.
Trotz dem gegensätzlichen Ausmaße, liegen diesen Ereignissen dieselben Ursachen
zugrunde, nämlich: der Wegfall der Ost-West-Konfrontation, das Scheitern des
kommunistischen Experiments und die Wiederbelebung des ethnischen
Zusammengehörigkeitsgefühls. Unter diesen Umständen kristallisiert sich der souveräne
Nationalstaat als eine attraktive Lösung heraus. Tatsächlich haben seit 1989 viele politische
Kräfte und Bewegungen in Europa dieses altherkömmliche Rezept als Ziel angestrebt, da sie
darin die Lösung ihrer politischen Problemen gesehen haben. Zahlreiche Kommentatoren
sind überzeugt, dass ein Großteil der politisch Aktiven in Europa weiterhin an der Idee des
souveränen Nationalstaates, vielleicht bis zu den nächsten fatalen Konsequenzen oder auch
trotz denen, halten. Aufgrund solcher Einschätzungen haben diese Kommentatoren für das
vereinigte Deutschland vorhergesagt, dass es im Gegensatz zu der noch nicht
vollsouveränen Bundesrepublik in der Periode zwischen 1949 und 1990 mehr Autonomie
und Souveränität im klassischen Sinne anstrebt und einen eher machtpolitisch gefärbten
außenpolitischen Stil annimmt. [...]
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 2 Das Konzept der Großstrategie
- 2.1 Aus den Fehlern des Realismus lernen
- 2.2 Eine kurze Geschichte der Großstrategie
- 3 Visionen für Deutschland
- 3.1 Begründung der Auswahl
- 3.2 Zivilmacht Deutschland
- 3.3 „Zentralmacht Europas“
- 3.4 „Kerneuropa“ und „europäischer Föderalismus“
- 3.5 „Finalität Europas“ und „Staatsräson Deutschlands“
- 4 Bilanz und Perspektiven
- Literatur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit hat zum Ziel, ein Raster für die Analyse langfristiger außenpolitischer Handlungsprogramme zu entwickeln und die langfristigen außenpolitischen Handlungsprogramme in einigen für die Jahre nach dem Epochenwechsel 1989/90/91 ersonnenen Visionen der deutschen Eliten über die Grundorientierung künftiger deutscher Außenpolitik herauszufinden.
- Die Analyse von Großstrategien als Instrument der außenpolitischen Planung
- Die Identifikation von Schwächen in realistischen Ansätzen zur Erklärung außenpolitischen Handelns
- Die Vorstellung von verschiedenen Visionen für die deutsche Außenpolitik nach der Wiedervereinigung
- Die Verbindung von nationaler Identität und Interessen mit der Gestaltung von Großstrategien
- Die Untersuchung der Ziel-Mittel-Problematik im Kontext der deutschen Außenpolitik
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 1: Einleitung
Das Kapitel führt in die Thematik der deutschen Außenpolitik im Kontext des Epochenwechsels 1989/90/91 ein. Es beleuchtet die Auswirkungen des Mauerfalls und der Wiedervereinigung auf die deutsche und internationale Politik. Die Diskussion um die Rolle Deutschlands als souveräner Nationalstaat im Vergleich zur europäischen Integration wird als Ausgangspunkt für die Forschungsaufgabe definiert.
Kapitel 2: Das Konzept der Großstrategie
Dieses Kapitel stellt das Konzept der Großstrategie als ein zentrales Instrument der außenpolitischen Analyse vor. Es werden zwei zentrale Kritikpunkte am Realismus als analytischem Werkzeug dargelegt, nämlich die Unfähigkeit des Realismus, Wandel in der Identität und den Interessen von Akteuren zu erklären, sowie die unzureichende Berücksichtigung der Ziel-Mittel-Problematik. Die Geschichte des Begriffs „Großstrategie“ wird kurz beleuchtet, um dessen Bedeutung und Verwendung in verschiedenen Bereichen zu verdeutlichen.
Kapitel 3: Visionen für Deutschland
Dieses Kapitel präsentiert verschiedene Visionen für die deutsche Außenpolitik, die in den Jahren nach der Wiedervereinigung von deutschen Politikern und Intellektuellen formuliert wurden. Zu diesen Visionen gehören u.a. das Konzept der „Zivilmacht“, die Rolle Deutschlands als „Zentralmacht Europas“, die „Kerneuropa“-Vision und die Idee des „europäischen Föderalismus“. Der Fokus liegt auf der Analyse der jeweiligen Visionen und deren Implikationen für die deutsche Außenpolitik.
Kapitel 4: Bilanz und Perspektiven
Dieses Kapitel enthält eine Bilanz der bisherigen Ergebnisse und diskutiert zukünftige Perspektiven für die deutsche Außenpolitik im Kontext der erarbeiteten Visionen. Es wird beleuchtet, inwieweit die verschiedenen Visionen die Herausforderungen und Chancen der deutschen Außenpolitik im 21. Jahrhundert reflektieren und wie sie die deutsche Außenpolitik in Zukunft beeinflussen könnten.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf die Analyse der deutschen Außenpolitik im Kontext des Epochenwechsels 1989/90/91, insbesondere im Hinblick auf die Herausforderungen der Wiedervereinigung und der europäischen Integration. Zentrale Schlüsselwörter sind Großstrategie, Realismus, nationale Identität, Interessen, Ziel-Mittel-Komplex, Visionen, „Zivilmacht“, „Zentralmacht Europas“, „Kerneuropa“, „europäischer Föderalismus“, „Finalität Europas“, „Staatsräson Deutschlands“, sowie das Konzept der Macht und ihre Rolle in der Gestaltung von Außenpolitik.
- Arbeit zitieren
- Alexander Hong Lam Vu (Autor:in), 2001, Großstrategie in Deutschland seit 1989/90/91: Eine Analyse außenpolitischer Handlungsprogramme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6921