Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien


Hausarbeit, 2006

68 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung:

2. Theoretische Vorbetrachtung der Begrifflichkeiten:
2.1 Menschenrechte
2.2 Menschenrechtsverletzungen

3. Die internationale rechtliche Situation

4. Menscherechte in Kolumbiens Verfassung von
4.1 Freiheiten und Grundrechte – die Erste Generation:
4.2 Soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte – die zweite Generation:
4.3 Kollektive Rechte – die dritte Generation:
4.4 Betrachtung und Analyse:
4.5 Verfassungsmäßiger Schutz der Grundrechte
4.5.1 allgemeiner Schutz:
4.5.2 spezieller Schutz:

5. Die Verfassungswirklichkeit der bürgerlich – politischen Rechte
5. 1. Akteure und Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien
5.1.1 Staatliche Sicherheitsorgane, paramilitärische Gruppen und Guerilla
5.1.2. Die Lage der indigenen Bevölkerung
5.1.3 Drogenkriminalität und die anomisierende Wirkung der Drogenökonomie
5.2 Gewaltdiffusion und fehlendes Gewaltmonopol
5. 3 Das Problem der Amnestie und Straflosigkeit (impunidad)

6. Die Umsetzung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte

7. Zusammenfassung

Glossar

Literaturverzeichnis

Anhang Auszug aus der Kolumbianischen Verfassung

1. Einleitung:

Die Menschenrechtssituation in Kolumbien ist ein in der Öffentlichkeit häufig diskutiertes Thema. Die Palette der Bezeichnungen ist dem entsprechend sehr breit. Da ist die Rede von „besorgniserregend“, „beängstigend“ oder auch „hoffnungsstiftend“ bis hin zu „desolat“, „absurd“ oder „katastrophal“. Tatsache ist allerdings, dass die Menschenrechtssituation in Kolumbien immer wieder für Aufsehen und Verwirrung sorgt, denn Kolumbien nimmt in dieser Hinsicht eine gewisse Sonderstellung auf dem südamerikanischen Subkontinent ein. Gründe dafür sind zum einen das erhebliche Ausmaß und die Schwere von Menschenrechtsverletzungen, sowie die eigentlich im Gegensatz dazu stehende Staatsform und das staatliche Selbstverständnis, welches Kolumbien als moderne Demokratie definiert.

Im Rahmen dieser Arbeit sollen mehrere Ziele verfolgt werden. Im ersten Teil werden zunächst einige begriffliche Betrachtungen zum Thema unternommen. Durch eine klare begriffliche Abgrenzung soll ein besseres Verständnis der Zusammenhänge in diesem komplexen Thema erreicht werden. Im Anschluss wird ein kurzer Ausblick über Menschenrechte auf der Ebene des internationalen Rechts gegeben um im Folgenden die rechtliche Sicherung der Menschenrechte durch die kolumbianische Verfassung zu untersuchen.

Die Differenz zwischen Verfassungstext und Verfassungspraxis ist ein für den Subkontinent nicht untypisches Problem, welches jedoch im Fall von Kolumbien enorme und vielschichtige Folgen nach sich zieht. Ursachen und Hintergründe sowie Akteure und Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden daher im zweiten Teil genauer betrachtet. Mit den gewonnenen Kenntnissen soll letztendlich ein ursächlicher Erklärungsversuch unternommen werden. Dabei wird im zweiten Teil der Schwerpunkt auf den bürgerlich – politischen Rechten liegen, da diese kausal enger mit der für diese Arbeit relevanten Frage verbunden sind. Zu klären ist:

Besteht ein Zusammenhang zwischen latentenautoritären Prägungender Gesellschaft und der konstantschlechten Situation der Menschenrechtein Kolumbien? Sind diese beiden Phänomene eventuell kausal verknüpft?

Auf der Grundlage folgender Aussagen soll diesen Fragen nachgegangen werden.

Autoritarismus (nach Nohlen): „Herrschaftsordnung, die durch […] die Schwäche oder das Fehlen wirksamer Verfassungs- und rechtsstaatlicher Sicherungen gegen die Exekutive und gegen das Tun und Lassen politisch mobilisierter Anhängerschaften des Regimes charakterisiert ist.“[1]

J. Linz über Autoritarismus: „[…]Die Definition betont bereits eine Reihe von Charakteristiken, die mit dem vollen Schutz der Menschenrechte […] nicht vereinbar sind.“[2]

Octavio Paz (Mexikanischer Schriftsteller und Nobelpreisträger über Lateinamerika allgemein): “Die Verfassungen sind Demokratisch, die wirklichen Verhältnisse Diktatorisch.“

Gerade im letzten Zitat von Paz wird eine Diskrepanz deutlich, welche wie eingangs erwähnt immer wieder Verwirrung stiftet. Die Äußerungen von Linz und Nohlen geben Erklärungsansätze, jedoch entstammen sie allgemeinen Definitionen und lassen sich als solche bekanntlich nie eins zu eins auf konkrete Fallbeispiele übertragen.

Folglich muss eine detaillierte Analyse der Gesamtsituation unternommen werden um eine fundierte Aussage dazu treffen zu können, ob und wenn ja wie, Autoritarismus und Menschenrechte bzw. deren Verletzungen in Kolumbien zusammen hängen.

2. Theoretische Vorbetrachtung der Begrifflichkeiten:

2.1 Menschenrechte

Um über Menschenrechte in Kolumbien sprechen zu können, ist es erforderlich einige begriffliche Klärungen zu diesem Thema zu unternehmen.[3]

Der Bergriff stammt aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und umfasst all jene Grundrechte des Menschen, die ihm aufgrund seines Menschseins unveräußerlich und nicht verlierbar, von Natur aus, dass heißt von der Geburt bis zum Tod, zu Eigen sind. Menschenrechte sind übergesetzlich und nicht von staatlicher oder institutioneller Billigung abhängig. Ein weiteres grundlegendes Charakteristikum von Menschenrechten ist ihre universelle Gültigkeit, für alle Menschen, ungeachtet der Nationalität, Rasse, des sozialen Standes, der Religionszugehörigkeit oder des Alters.

Seit dem 18. Jahrhundert hat sich der Begriff stetig entwickelt, so dass der Menschenrechtsbegriff heute drei Unterkategorien umfasst:

- Menschenrechte der sog. 1. Generation: zivile und politische Rechte, Grundfreiheiten und Schutzrechte (z.B. Recht auf Leben).
- Menschenrechte der sog. 2. Generation: wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Leistungsrechte.
- Menschenrechte der sog. 3. Generation: kollektive Rechte (z.B. Recht auf Frieden und Entwicklung).

All diese Rechte sind unteilbar und von gleicher Wichtigkeit![4]

2.2 Menschenrechtsverletzungen

Menschenrechte sind auf staatlicher Ebene Grundrechte die ein Staat seinen Bürgern in der Verfassung garantiert oder bzw. garantieren sollte. Sie besitzen jedoch wie bereits erwähnt auch ohne eine eindeutige gesetzliche Nennung allgemeine Gültigkeit. Juristische Grundlage dafür bilden zahlreiche später noch zu erläuternde Abkommen und Konventionen. Wenn ein Staat diese Rechte negiert oder sie verletzt bzw. deren Verletzung durch Dritte zulässt, sprechen wir von Menschenrechtsverletzungen. Diese können sich manifestieren durch:

1. Unterlassung, das heißt die Verweigerung von Leistungsrechten (Bildung, Wohlfahrt, Gesundheitsfürsorge,…) und
2. Handeln, das heißt die Einschränkung oder Verweigerung von Schutzrechten (Recht auf Freiheit, Leben,…).[5]

Im Zusammenhang dieser Arbeit soll hier deutlich unterschieden werden zwischen institutionell oder im weitesten Sinne organisiert verübten Menschenrechts­verletzungen (z.B. durch staatliche Organe, Drogenkartelle, Paramilitärs oder Guerilla) und Menschenrechtsverletzungen die durch die „übliche“ Kriminalität entstehen (siehe Akteure und Opfer von Menschenrechtsverletzungen). Obgleich eine solche Trennung nicht klar vollziehbar ist und die Grenzen oft fließend sind, ist eine grundlegende Unterscheidung für eine Beantwortung der Leitfrage doch zweckmäßig.[6]Menschenrechtsverletzungen, welche nicht auf im weitesten Sinne politisch motivierter sondern unorganisierter bzw. „gewöhnlicher“ Kriminalität beruhen, haben für diese Arbeit nur insofern eine Bedeutung, als dass der Staat nicht im Stande ist diese durch die Erfüllung seiner Schutzpflichten zu verhindern. Im Zentrum der Betrachtung stehen jedoch solche Menschenrechtsverletzungen, die von institutioneller Natur sind. Der Staat nimmt dabei natürlich eine besondere Rolle und Verantwortung ein.

3. Die internationale rechtliche Situation

Infolge der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und der darin manifestierten Nichtachtung jeglicher menschlicher Grundrechte war es nötig, ein international gültiges Abkommen über Menschenrechte zu erstellen. Ausgangspunkt für eine allgemeingültige Festlegung der Menschenrechte und den universellen Menschenrechtsschutz ist, anknüpfend an die Ziele der UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948. Darin werden sowohl bürgerlich-politische Rechte als auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erfasst.

Eine weitere Konkretisierung und Ergänzung erfuhren diese im UN-Sozialpakt von 1966. Hier werden unter anderem das eindeutige Verbot der Diskriminierung, Gewerkschaftsrecht, besonderes Schutzrecht von Familien, wie auch „die Rechte auf: Arbeit, gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, angemessenen Lebensstandard (Ernährung, Wohnen etc.) Gesundheit, Bildung sowie das Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben und an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts“[7]verankert.

Darüber hinaus existieren noch eine Reihe weiterer internationaler Verträge zum Schutz der bürgerlich- politischen, sowie auch der sozialen Rechte und zwar bezogen auf besondere Zielgruppen. Einige Beispiele sind:

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD von 1965, seit 1976 in Kraft)
- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW, 1979/1981)
- Kinderrechtskonvention (CRC, 1989/1990)
- Maerikanische Konvention über Menschenrechte + Extra Zusatzprotokoll über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (AMRK ,1988, seit 1999 in Kraft)
- ILO (Internationale Arbeitsorganisation )-Konvention 169 von 1989 zum Schutz „indigener und in Stämmen lebender Völker“[8]

Mit letzterer verpflichten sich die unterzeichnenden Staaten „indigenen Völkern eine eigenständige, selbstbestimmte Entwicklung zu ermöglichen.“ Dies beinhaltet das Recht auf: "Land und Ressourcen (…), Beteiligung an Entscheidungen, die diese Völker betreffen, sowie allgemein die volle Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte indigener Völker unter Achtung ihrer sozialen und kulturellen Identität, Bräuche, Überlieferungen und Einrichtungen“[9]

Interessant ist, dass Kolumbien all diese Abkommen ausnahmslos ratifiziert und als politisches Pogramm anerkannt hat. Auf der offiziellen Ebene nehmen diese sogar Verfassungsrang ein und haben unter anderem Eingang in die Verfassung von 1991 Einzug gehalten.[10]Man könnte demnach fast den Eindruck gewinne, dass der Schutz der Menschenrechte in Kolumbien eine besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge genießt, mehr noch als in manch europäischem Staat.

Wenden wir uns nun der Kolumbianischen Verfassung zu. Wie steht der Staat in diesem grundlegenden Gesetzeswerk zu den Grund- bzw. Menschenrechten?

4. Menscherechte in Kolumbiens Verfassung von 1991

Die Verfassung, welche Kolumbien sich im Jahre 1991 gab, ist was die Erwähnung von Grund- bzw. Menschenrechten angeht, durchaus bemerkenswert. Doch ist es nicht so, dass im Zuge der Verfassungsreform von 1991 die Menschenrechte und deren besondere Schutzwürdigkeit zum ersten Mal in die Verfassung Einzug gehalten hätten. Vielmehr hat die verfassungsrechtliche Garantie gewisser Grundrecht in Kolumbien eine lange Tradition, welche bis zur ersten verfassungsgebenden Versammlung noch während des Unabhängigkeitskrieges zurückgeht. Seitdem wurden immer mehr Grundrechte in die Verfassung integriert, so dass sie auf diesem Gebiet heute als durchaus sehr fortschrittlich zu bewerten ist. Da sich der kolumbianische Staat mit dem Problem zahlreicher außerstaatlicher Protagonisten (Mafia, Guerilla, Paramilitärs…) konfrontiert sieht, welche alle das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkennen[11], wurde in der 91er Verfassung dieses explizit betont. Dies schließt folglich das Verbot der Bildung jeglicher Gewaltorganisationen oder Gruppierungen zum Zweck der Selbstjustiz außerhalb der staatlichen Ordnung, verfassungsrechtlich ein.[12]

Laut Artikel 1 der kolumbianischen Verfassung definiert sich Kolumbien selbst als sozialer, demokratischer Rechtsstaat, welcher auf dem „Respekt der menschlichen Würde“[13]basiert und deren Schutz zu gewährleisten hat.[14]

Alle drei in Punkt zwei besprochenen „Generationen“ von Menschenrechten sind in der Verfassung genau aufgelistet.

4.1 Freiheiten und Grundrechte – die Erste Generation:

Alle diese Rechte finden sich in der Verfassung am Anfang von Artikel 11 bis 41. Dies und auch der enorme Umfang zeigt auch ihre herausragende Bedeutung auf.[15]

Inhalt:

Recht auf: Leben, Gleichheit vor dem Gesetz, Anerkennung der juristischen Persönlichkeit, familiäre Intimität, einen guten Ruf(!), freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Glaubens- und Religionsfreiheit, freie Meinungsäußerung, Unverletzlichkeit der Wohnung, freie Berufs- und Beschäftigungswahl, ein faires rechtsstaatliches Verfahren (!), Demonstrationsfreiheit, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, Gewerkschaften (nur bei Arbeitgebern und -nehmern, nicht bei Polizei und Armee).[16]

Weiterhin wird eindeutig das Recht eingeräumt, sich an der politischen Macht nach den Möglichkeiten, welche der demokratische Pluralismus bietet, zu beteiligen. Das heißt, es gibt das Recht auf Wahlen und zur Gründung von Parteien. Darüber hinaus sind folgende Dinge ausdrücklich verboten:

Die Todesstrafe, das Verschwindenlassen von Personen, die Folter oder unangemessene, grausame, schikanierende oder demütigende Formen der Bestrafung, die Sklaverei, Knechtschaft und Menschenhandel, Zensur der Presse, Verbannung, eine lebenslange Haftstrafe und Enteignungen oder Vertreibungen (offiziell „Evakuierungen“). Für letztere gilt allerdings die Ausnahme eines Richterlichen Urteils.[17]Es sind noch einige weitere Grundrechte und Freiheiten genannt, aber hier sollen nur die wichtigsten erwähnt werden.

4.2 Soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte – die zweite Generation:

Hierbei handelt es sich vornehmlich um Leistungsrechte, zu deren Erfüllung sich der Staat verpflichtet. Auch der Umfang dieser Rechte in der Verfassung ist enorm, Artikel 42 bis 77. Diese beziehen sich unter anderem auf: besonderer Schutz der Familie, Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz, Rechte der Kinder auf Gesundheit, soziale Sicherheit, Pflege, Liebe, Ausbildung und Teilhabe an der Kultur, deren Schutz vor Gewalt und sexuellem Missbrauch, auf das Recht der Jugend auf Bildung, Schutz und Integration alter und behinderter Menschen, auf soziale Sicherheit unter der Leitung, Kontrolle und Koordinierung des Staates, Gesundheit und Gesundheitsfürsorge; ja sogar das Recht auf würdiges Wohnen, auf Unterhaltung, Sport und Freizeit wird verfassungsrechtlich eingeräumt![18]

Es werden überdies noch zahlreiche Rechte von Arbeitnehmern gesichert wie Rente, Weiterbildung und Erholung, selbst eine funktionieren Infrastruktur der ländlichen Gebiete ist laut Verfassung ein legitimes wirtschaftliches Grundrecht! Besonders zu erwähnen ist hier noch, dass jegliche journalistische Tätigkeit in Kolumbien ausdrücklich unter staatlichem Schutz steht. Auch hier gilt, es sind noch einige andere Rechte genannt, welche hier jedoch keine Erwählung finden. Die vollständige Auflistung und Erläuterung aller Grund- und Menschenrecht der Verfassung würden ein eigenständiges Werk erfordern und den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

4.3 Kollektive Rechte – die dritte Generation:

Vergleichbar kurz sind die kollektiven Rechte abgehandelt. In Artikel 78 bis 82 garantiert der Staat den Bürgern: eine staatliche Qualitätskontrolle von Gütern und Dienstleistungen, das Recht auf eine gesunde Umwelt, auf Frieden(!), und die Entwicklung fördernde Nutzung der natürlichen Ressourcen durch den Staat. Kernwaffen und Biologische Waffen sind wie der Import von Giftmüll zum Wohle des Landes untersagt.[19]

4.4 Betrachtung und Analyse:

Wie sinnvoll die Unterscheidung der verschiedenen Grundrechtskategorien ist, darüber kann man sicher geteilter Meinung sein. Vertretbar ist sie jedoch nur, wenn nicht von vornherein über deren Relevanz gewertet wird. Bei dem enormen Umfang

der rechtlichen Zusicherungen in der Verfassung liegt der Schluss nahe, dass die Menschenrechtsbestrebungen auf ein Utopia abzielen in welchem alle Bürger ein zufriedenes und beschauliches Leben unter der Fürsorge des Staates führen können.

Doch der Formulierung jener Rechte liegt nicht etwa der Realitätsverlust der Konstituanten zu Grunde, sondern in der vorliegenden Form wird ein bestimmter Zweck angestrebt. Von außen betrachtet, tritt hier allerdings ein eklatanter Mangel der Kolumbianischen Verfassung zu Tage, welcher scheinbar jedoch absichtlich von den Verfassungsvätern eingebaut wurde. Die genannten Rechte sind nämlich nicht direkt vom Staat einklagbar. Dabei gilt die Ausnahme in Artikel 85, welcher besagt, dass Artikel 11-12, 23-24, 26-31, 33, 34,37 und 40 sofort nach dem Inkrafttreten (1991) umgesetzt werden müssen. Für den weitaus größten Teil gilt dies jedoch nicht. Die Unterscheidung der Generationen ist hier also eine Abstufung der Wichtigkeit, sodass ein großer Teil der Rechte sich zwar gut anhört und hohe Ideale vermuten lässt, ihre Umsetzung jedoch nicht vorgesehen ist oder nur in dem Maße wie es der Allgemeinheit nützt.[20]

Der ehemalige Präsident Gaviria bringt es in folgendem Zitat auf den Punkt: “Ich weiß, dass viele sich fragen: Was für einen Grund hat es, dass die Verfassung allen Kolumbianern Gesundheit, Bildung, Wohnung, Erholung, Arbeit und soziale Sicherheit verspricht? Wird der kolumbianische Staat solche Verpflichtungen erfüllen können? […] Zum Glück […] wurde diese Debatte durch eine neue Kategorie von Rechten überwunden. Sie wurden Rechte von fortschreitender Durchführung genannt. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, zu entscheiden, welches Recht in gradueller Weise, nach den wirtschaftlichen und administrativen Möglichkeiten des Staates, von ihm wirklich garantiert werden soll. Deshalb sind diese Rechte weder unrealistische Bestrebungen noch Verpflichtungen, die den Staat in die Pleite führen könnten.“[21]

Hier wird der verfassungskosmetische Charakter vieler genannter Rechte deutlich. In der Praxis haben sie folglich keine Auswirkung und das sogar zu „Recht“, es obliegt ja dem subjektiven Sachverstand der Regierung über die Relevanz oder Durchführbarkeit von Rechten zu befinden. Im Umkehrschluss kann eine Verletzung dieser Rechte nicht wirkungsvoll beanstandet werden, da die Möglichkeit zur Gewährung des betroffenen Rechts womöglich per Definition nicht voll umsetzbar ist. Im Gegensatz zu den bürgerlichen und politischen Rechten, sind sie demnach nicht hinreichend bestimmbar, und könne im Beschwerdefall vor Gericht nicht geltend gemacht werden. Sie haben nicht den Status „echter“ Rechte[22], sondern bestenfalls den politischer Zielvorgaben.[23]Durch diese Möglichkeit zur Interpretation nach den Bedürfnissen der Situation[24]des Staates fand also keine wirklich grundlegende Reform der Menschenrechte statt.

4.5 Verfassungsmäßiger Schutz der Grundrechte

Es existiert laut Verfassung doch ein gewisser Schutz der Menschenrechte. Dazu gehört wie erwähnt als erstes der Artikel 85. Darüber hinaus besagt Artikel 214, dass durch Notstandsgesetze die in Artikel 85 aufgelisteten Rechte nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen.[25]Für alle anderen ist dies jedoch per Notstandsdekret zulässig; also auch für Rechte erster Generation die in Artikel 85 nicht aufgelistet sind, wie zum Beispiel das Vereinigungs- und Koalitionsrecht. Somit wird einem eindeutigen Bekenntnis zu uneingeschränktem Pluralismus widersprochen[26]. Bei den weiteren Schutzmechanismen wird unterschieden zwischen allgemeinen und spezifischen Schutzmechanismen. Die allgemeinen haben eine indirekte Wirkung auf die Menschenrechte und staatliche Institution zu deren Gewährleistung wie die Wahlen. Die spezifischen Instrumente des Rechtsschutzes sollen jedem Bürger die Möglichkeit einräumen sich gegen Missachtungen von Grundrechten zur Wehr zu setzen.

4.5.1 allgemeiner Schutz:

- Artikel 4 garantiert den Vorrang der Verfassung vor allen anderen Gesetzeswerken. Rechte aus der Verfassung stehen hierarchisch über allen Gesetzen, Verordnungen und dergleichen und können durch diese nicht negiert werden. Ausnahme ist nur der Notstand.
- Artikel 93 besagt, dass die internationalen, vom Kongress ratifizierten Menschenrechtsabkommen die Begrenzungen von Grundrechten im Rahmen von Ausnahmezuständen verbieten, der internen Rechtslage vorrangig sind. Dies steht allerdings in Konflikt mit Artikel 4.
- Artikel 214 betont noch einmal die Wichtigkeit der Einhaltung internationalen Menschenrechts während des Ausnahmezustandes.[27]
- Artikel 277 bis 284 etablieren ein Kontrollorgan für Menschenrechte. Das „Ministerio Publico“ und den Bürgeranwalt („Defensor del pueblo“). Diese sollen auf dem Rechtsweg für die Einhaltung der Grundrechte einstehen.

Auch hier sind nicht alle, sondern nur die bedeutendsten allgemeinen Schutzme­chanismen genannt.

4.5.2 spezieller Schutz:

- Artikel 86, die so genannte „Accion de Tutela“ gewährt jedem das Recht vor einem Richter wegen eines Schadens zu klagen um zu erwirken, dass Wiedergutmachung geschieht, ein untragbarer Zustand eingestellt wird oder eine geplante Maßnahme, die zum Schaden führen würde, nicht unternommen werden darf. Dieses Instrument soll besonders der Förderung der in Artikel 1 garantierten Rechtsstaatlichkeit dienen.
- Artikel 87 soll dem verbreiteten Missstand entgegenwirken, dass Gesetze oft auf regionaler Ebene nicht durchgesetzt werden. Laut dieses Artikels hat jeder Bürger das Recht eine Umsetzung von Gesetzen richterlich zu erzwingen.[28]
- Artikel 88 erweitert 87 auf kollektive Rechte. Das heißt es ist ein Instrument zum Schutz und zur Durchsetzung kollektiver Rechte wie öffentliche Sicherheit, saubere Umwelt usw.
- Ferner gibt es laut Artikel 30 und 282 den „Habeas Corpus und laut Artikel 15 den „Habes Data“ aufgrund dessen jede Person in den Stand versetzt werden soll ihre Ehre, den guten Ruf, Intimität und freie Persönlichkeitsentwicklung zu schützen

Alle diese Schutzmechanismen, alle genannten Rechte, auch mit deren Einschränkungen, gewähren trotzdem theoretisch einen recht guten Menschen­rechtsschutz. Doch bekanntlich sieht die Realität nicht so aus. In der Praxis wird die Verfassung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ad Absurdum geführt. Wie das geschieht, wer die Beteiligten sind und welche Ursachen und Hintergründe es dafür gibt, soll im nächsten Teil erörtert werden.

5. Die Verfassungswirklichkeit der bürgerlich – politischen Rechte

Die Defizite in Kolumbien, welche die Einhaltung der bürgerlich – politischen Menschen-rechte betreffen, lassen sich zwei wesentlichen Bereichen zuordnen: 1. der Umgang mit Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit und 2. die Diffusion von Gewalt.[29]

5. 1. Akteure und Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien

In Kolumbien werden Menschenrechte in verschiedener Form verletzt: zum einen durch staatliche Sicherheitsorgane, welche ihre Vorgehensweise mit dem Kampf gegen die Guerilla, den Drogenhandel und allgemeine Kriminalität begründen, zum anderen durch halbstaatliche paramilitärische Gruppen. Letztere werden nicht selten von Großgrundbesitzern oder der organisierten Drogenkriminalität finanziert, um Volksorganisationen, Guerilla oder konkurrierende Drogenkriminalität einzudämmen bzw. zu beseitigen.[30]Am schwersten betroffen ist die Landbevölkerung, zu der ein Großteil der Indigenen gehört.

5.1.1 Staatliche Sicherheitsorgane, paramilitärische Gruppen und Guerilla

Der Anteil von politisch motivierter Gewalt im Verhältnis zur Gesamtkriminalität beträgt ca. 10%, allerdings ist eine Abgrenzung zwischen sozialer und politischer Motivierung nur schwer zu vollziehen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor der politischen Gewalt ist der seit Jahrzehnten währende Konflikt zwischen der kolumbianischen Armee und den Guerillagruppen (FARC, ELN, ELP).[31]Besonders die Zivilbevölkerung wird dabei in Mitleidenschaft gezogen. Einerseits werden wegen des Vorwurfes an Einwohner, die Guerilla zu unterstützen, Dörfer zerstört, Bauern und Bäuerinnen verschleppt, gefoltert oder ermordet. Andererseits übt die Guerilla

Gewalt aus, um Einfluss besonders in den peripheren Gebieten zu gewinnen.[32]Es wird von Übergriffen der Guerilla auf Dörfer mit Hinrichtungen und Geiselnahmen berichtet, u.a. wird die Guerilla für ein Massaker in Urabá, welches die Zivilbevölkerung traf, verantwortlich gemacht.[33]Die Guerilla ist der wichtigste nichtstaatliche und der einzige konsequent gegenstaatliche Gewaltakteur.[34]

Das Ausmaß der Gewalt bestimmen zusätzlich zu den Guerilla, den offiziellen Streitkräften und den Sicherheitsorganen auch parastaatliche Organisationen. Von deren Gewaltausübung ist die Zivilbevölkerung am stärksten betroffen. Parastaatliche Gruppen werden zusammen mit staatlichen Akteuren für ca. 73% der politisch motivierten Morde verantwortlich gemacht, 27% der Morde werden von der bewaffneten Opposition begangen.[35]Das Handeln von Todesschwadronen und paramilitärischen Gruppen hat sich zum schwerwiegendsten Menschenrechts­problem Kolumbiens entwickelt. Schätzungsweise operieren 250 Gruppen im ganzen Land, deren Ausweitung selbst von der Regierung eingeräumt wurde. Sie kontrollieren weite Teile des Landes und handeln dabei im Auftrag von Industriellen, Drogenbaronen, Viehzüchtern und Großgrundbesitzern, welche sie finanziell unterstützen. Vielfach belegt ist die Zusammenarbeit zwischen paramilitärischen Gruppen und den Militärs - u. a. werden sie von den offiziellen Streitkräften ausgebildet und mit Waffen versorgt -, weshalb diese Gruppen besonders ungehindert in militärischen Hochburgen agieren.[36]Den so genannten „Schmutzigen Krieg“ führen die paramilitärischen Gruppen mit dem Repertoire von Todesdrohungen, Folter, willkürlichen Verhaftungen, selektive politische Morde und kollektive Massaker. Dieselben Verbrechen werden ebenfalls von Angehörigen der staatlichen Sicherheitskräfte verübt, der Übergang verläuft häufig fließend. Gemeinsam verfolgen sie somit eine „Strategie des systematischen Terrors“[37], um die Opposition einzuschüchtern oder sogar physisch zu eliminieren.

[...]


[1]Nohlen, S.499.

[2]Linz, S.503.

[3]Vgl. Neuschler, S.5.

[4]Ebd.

[5]Vgl. Neuscheler, S.5.

[6]Achtung! Diese Unterscheidung soll keine qualitative Wertung sein und andere Formen von Menschenrechtsverletzungen(Straßenkriminalität…) abwerten, sie dient lediglich als Instrument zur besseren Identifizierung autoritärer Elemente, welche Gewalt als Mittel der Wahl zur Erreichung ihrer Ziele benutzen.

[7]Krennerich, S.174.

[8]Ebd.

[9]Ebd.

[10]Artikel 93, Kolumbianische Verfassung.

[11]Beleg für autoritäre Prägungen und Bestrebungen!

[12]Vgl. Rojas, S. 144-145.

[13]Artikel 2, Kolumbianische Verfassung.

[14]Artikel 5, Kolumbianische Verfassung.

[15]Vgl. dazu: in der Deutsche Verfassung werden die Grundrechte „nur“ von Artikel 1 bis 20

behandelt (Deutsches Grundgesetz: 146 Artikel, davon über Grundrechte; Kolumbianische

Verfassung 380 Artikel, davon 82(!) über Grundrechte.

[16]Vgl. Rojas, S. 146.

[17]Ebd. S.147 und Artikel 11-41, Kolumbianische Verfassung.

[18]Ebd.

[19]Ebd. S.147 und S. 148 und Artikel 78 - 82, Kolumbianische Verfassung.

[20]Vgl. Timmermann, S. 36.

[21]Rojas, S. 148.

[22]Nach Artikel 85 der kolumbianischen Verfassung sind Artikel 22 (Recht auf Frieden), Artikel 25
Recht auf Arbeit, Artikel 36 Recht auf Asyl sowie Artikel 38 und 39 (Vereinigungs- und
Koalitionsfreiheit, keine einklagbaren Rechte obgleich sie zur 1. Generation gehören.

[23]Krennerich, S.176.

[24]Wie es zum Beispiel bei Notstandsverordnungen zur Aufhebung bestimmter Rechte kommen kann.

[25]Vgl. Timmermann, S. 39.

[26]Beleg für Autoritäres Denken der Verfassungsgeber, im Notstand ist der Pluralismus einschränkbar.

[27]Vgl. Rojas, S. 149.

[28]Ebd., S 150.

[29]Vgl. Kurtenbach, S. 6.

[30]Vgl. Ambos, S. 466.

[31]Vgl. Neuscheler, S. 8. Von den zunächst sieben größeren Guerillas sind derzeit nur FARC und ELN

militärisch relevant, die EPL ist die stärkste der kleineren aktiven Guerillas (Zinecker, Kolumbien,

S. 8).

[32]Vgl. Dombois, S. 265.

[33]Vgl. Neuscheler, S. 8, Amnesty International 1999.

[34]Vgl. Zinecker, Kolumbien, S. 9.

[35]Vgl. Neuscheler, S. 8.

[36]Vgl. Ebd., S. 12.

[37]A. a. O.

Ende der Leseprobe aus 68 Seiten

Details

Titel
Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien
Hochschule
Universität Leipzig  (Iberoamerikanische Geschichte)
Veranstaltung
Zur politischen Kultur des Autoritarismus in Lateinamerika
Note
2
Autoren
Jahr
2006
Seiten
68
Katalognummer
V70137
ISBN (eBook)
9783638624589
Dateigröße
705 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Menschenrechtsverletzungen, Kolumbien, Autoritarismus, Lateinamerika
Arbeit zitieren
Katharina Frauenlob (Autor:in)Samuel Bednarzik (Autor:in), 2006, Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70137

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