Die Dekonstruktion des Nationalhelden in Borges' Evaristo Carriego

oder die Konstruktion eines argentinischen Antihelden


Seminararbeit, 2004

25 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitende Thesen und Fragen

2. Analyse
2.1 Vorstellung der Recherche
2.2 Das Stadtviertel Palermo und die Konstruktion einer Stadtgeschichte
2.3 Die Konstruktion des (Anti-)Helden
2.4 Der identitätssstiftende Beitrag der Zeit
2.5 Die Konstruktion einer Mythologie

3. Schlussfolgerungen

4. Bibliographie und Quellenhinweise
4.1 Primärliteratur
4.2 Sekundärliteratur
4.2.1. Druckausgaben
4.2.2 Online-Recherche

5. Anhang
Anhang 1
Anhang 2
Anhang 3
Anhang 4
Anhang 5

1. Einleitende Thesen und Fragen

Anfang des 20. Jh, im Jahre 1930, schrieb Jorge Luis Borges[1] über einen Dichter aus dem Stadtviertel Palermo von Buenos Aires. Er ist selbst dort aufgewachsen, wenige Straßen von diesem Dichter entfernt[2]. Die Rede ist von Evaristo Carriego[3]. Im Buch, welches den Namen des Dichters trägt, erwartet uns allerdings weniger eine Biographie des Carriego. Einige biographische Daten sind zwar im Kapitel II[4] zu lesen, aber der Umfang der restlichen nicht-biographischen Kapitel könnte die Bezeichnung „Biographie“ nicht rechtfertigen. Wenn mensch weiter liest, stößt er auf viele kritische Anmerkungen über Carriegos Werk und Wesen, wie auch auf Interpretationen seiner Gedichte. Wir könnten also meinen, es handelt sich um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Dichter und seiner Lyrik. Das wäre aber meines Erachtens eine oberflächliche Feststellung. Meine These ist, dass Borges´ Evaristo Carriego ein Modell der alternativen Nationalgeschichtsschreibung vorschlägt beziehungsweise ist. Diese These könnte auch indirekt von den üblichen Beschreibungen des Buches gestützt werden.

Evaristo Carriego no es solamente la biografía de un poeta olvidado. En realidad, Jorge Luis Borges utiliza su existencia para recrear el suburbio porteño de principios de siglo, que ha dado lugar al mito y la leyenda: el Palermo del cuchillo y la guitarra, las quintas, los caserones con sucesión de patios, los burdeles y conventillos, el truco, las inscripciones fanfarronas de los carros, la idiosincrasia de los jinetes, la temeridad de los guapos, el eterno criollo acosado por la justicia y la calma de quien debe una muerte. En la poesía de Carriego se explica el sentido de muchas cosas que hoy han pasado a ser lugares comunes y se rescata lo auténtico de la marea arrabalera, alimentada sin cesar por el tango y el sainete. Precisamente, Borges incorporó aquí su Historia del tango, análisis penetrante de la música popular porteña.[5]

Insbesondere in der Neubearbeitung von 1955 beinhaltet das Werk viele Elemente, welche diese These unterstützen. Das ist der Grund, warum es auch sehr interessant ist, über dieses Werk Borges´ zu forschen. Als erstes seiner Prosawerke ist diese Essaysammlung für die Borges- Forschung von Bedeutung, denn wir finden hier schon viele seiner in späteren Werken wieder aufgegriffenen Themen[6]. Besonders interessant sind seine hinzugefügten Fußnoten und Erklärungen über sein früheres Denken und Schreiben. Borges scheint ein Schriftsteller zu sein, welcher sein Geschriebenes ständig unter die Lupe nimmt, weiter schreibt, umschreibt und kritisiert.

Conservo estas impertinencias para castigarme por haberlas escrito. En aquel tiempo creía que los poemas de Lugones eran superiores a los de Darío. Es verdad que también creía que los de Quevedo eran superiores a los de Góngora.[7]

In meiner Hausarbeit werde ich mich der subtilen Konstruktion des argentinischen Nationalhelden in Borges´ Evaristo Carriego widmen, welche meiner Meinung nach eine Bewusstseinsveränderung des argentinischen Lesers hervorrufen soll.

2. Analyse

2.1 Vorstellung der Recherche

Erste Belege einer Bewusstseinsveränderung, welche letztendlich eine modifizierte (nationale) Identität hervorrufen können, können wir bei der Art der Erzählung beobachten, welche für eine Biographie, also auch im biographischen Teil der Essaysammlung, recht ungewöhnlich ist. So schreibt Borges:

Yo pienso que la sucesión cronológica es inaplicable a Carriego, hombre de conversada vida y paseada. Enumerarlo, seguir el orden de sus días , me parece imposible; mejor buscar su eternidad, sus repeticiones. Sólo una descripcón intemporal, morosa con amor, puede devolvérnoslo[8].

Ich finde, dass diese Art von Geschichtsschreibung (Biographieschreibung ist meines Erachtens ein Teil der Geschichtsschreibung) genau die Nicht-Bildung einer Vorgestellten Gemeinschaft, welche sich mit der romanhaften Erzählung durch eine homogene, leere Zeit bewegt, also der Nicht- Bildung einer Nation nach Benedict ANDERSONs Definition anstrebt . Wenn wir bedenken, dass in Lateinamerika Ende des 19. Jahrhunderts einige „nationenprägende“ Romane geschrieben wurden, scheint mir eine Intension Borges` ein „andere nationale“ Identität zu schaffen, welche sogar nicht-national ist, und einen argentinischen Antiheld als Antwort zum Nationalhelden zu präsentieren recht innovativ.

In wie weit das Buch zumindest in der ersten Auflage und Version auch von Argentinierinnen gelesen wurde, bleibt noch zu recherchieren. Unabhängig davon ist der argentinische Held ein Mann, insofern der sich direkt identifizierende Leser ebenfalls ein Mann. Die Frage des Geschlechts und wie damit verknüpft, Nationalhelden konstruiert werden, ist eine nicht ausreichend erforschte Frage.[9] Ich kann an dieser Stelle, wegen des Umfangs meiner Arbeit, leider auch nicht weiter darauf eingehen.

In meiner Recherche über Borges´ Evaristo Carriego fand ich praktisch nichts weiter als Rezensionen über das Kapitel XI História del tango. Wenn wir uns die Beliebtheit des Tanzes vor Augen führen, dürften wir uns allerdings nicht darüber wundern. Es wirkt zunächst tatsächlich etwas merkwürdig, dass ein Buch eines weltweit erfolgreichen Autors, wie Borges, nicht sonderlich beachtet wird, außer in den Kreisen der TangotänzerInnen[10] in aller Welt. Warum wird denn dieses Buch kaum und sehr spät übersetzt (gelesen) und rezensiert? Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man über Evaristo Carriego, den Dichter von Palermo recherchiert. Außer durch lokale Quellen, wie eine Homepage des Stadtviertels Palermo, wird Carriego vor allem über Borges Buch in Erinnerung gerufen[11]. Also hat Borges dem Poeten Carriego zu einem bleibendem Andenken verholfen und, wie es scheint, nicht Carriegos eigene Gedichte. Borges schrieb über einen unbedeutenden, eiteln Dichter, der sogar rassistische Gedanken äußerte, wie von ihm selbst zitiert

Carriego solía vanagloriarse “A los gringos no me basta con aborrecerlos; yo los calumnio[12]

und eine Lyrik schrieb, welche oft alles andere als formvollendet war.[13].

In folgender Arbeit werde ich mehr durch Borges´ Zitate aus seinem Evaristo Carriego zu Konklusionen kommen wollen und weniger durch, wie schon erwähnt, mangelhafte Sekundärliteratur. Meine Überlegungen mögen dazu dienen, dieses Werk von Borges genauer unter die Lupe zu nehmen und sollten als Anfangsanregungen kritisch gelesen werden.

2.2 Das Stadtviertel Palermo und die Konstruktion einer Stadtgeschichte

Bereits im Vorwort[14] von Borges´ Evaristo Carriego erklärt der Schriftsteller seine Absichten: ihm geht es um eine Geschichte von Palermo, die imaginativ sein kann und sogar ein Palermo beschreiben kann, welches es vielleicht nie gegeben hat.

¿Qué habia, mientras tanto, del otro lado de la verja con lanzas? ¿Qué destinos vernáculos y violentos fueron cumpliéndose a unos pasos de mí en el turbio almacén o en el azaroso baldío? ¿Cómo fue aquel Palermo o cómo hubiera sido hermoso que fuera? A esas preguntas quiso contestar este libro, menos documental que imaginativo.[15]

Es geht Borges nicht nur um eine Beschreibung sondern um eine Verschönerung, wobei er uns anfangs nicht erklärt, was schön ist. Immer wieder im Verlaufe seiner Essays gibt er uns Hinweise, was ein schönes Palermo/ Argentinien sein könnte. Das ist jedenfalls, so viel können wir festhalten, ein authentisches. Was authentisch ist, ist natürlich die nächste Frage. Er versucht diese Frage nicht selbst zu beantworten, sondern verweist auf Quellen. Seine Hauptquelle fürs authentische Palermo ist Carriegos Dichtung, die Dichtung seines Nachbars und Freundes seines Vaters. Typisch ist diese Borgesche Art der Aufführung von literarischen Quellen, welche wie historische Dokumente behandelt werden. Wenn er aber nur so verfahren würde, wäre er wahrscheinlich nicht sonderlich glaubwürdig. Borges scheint über eine Art Genialität in der Konstruktion seiner Geschichte anhand der erwähnten Quellen zu verfügen. Er kritisiert nämlich die Quellen, er zweifelt an ihrer Historizität und Glaubwürdigkeit, er stellt sie bloß als manipulative Werke der Geschichte. So ist das Verb „modificar“ im nächsten Passus deutlich als „verdrehen“ und nicht als „verändern“ zu verstehen. Die negative Bedeutung wird aus dem Kontext des Verbs „impone“ hergeleitet.

Carriego impone su visión del suburbio; esa visión modifica la realidad. (La modificación después, mucho más, el tango y el sainete.)[16]

Er verweist, dass eine Wiederherstellung der Geschichte Carriegos durch Erinnerungen, die er hat, nicht so wichtig ist, denn:

Añado que toda descripción puede satisfarcerlos, sólo con no desmentir crasamente la ya formada representación que prevén.[17]

, wie er meint. Dadurch bleibt der LeserIn keine andere Möglichkeit als alles zusammen, also auch Kontradiktorisches, oder gar nichts zu glauben. Da das „gar nichts“ zu absolut und für Vergangenes nicht anwendbar sein kann, denn Geschichte wird als die Vergangenheit der Gegenwart und auch kausal betrachtet[18], beschränken sich die LeserInnen auf das Glauben.

[...]


[1] Geb. 1899 Buenos Aires – † 1986 Genf, Kurzbiographie im Anhang 1a

[2] Stadtpläne vom Stadtviertel Palermo und von Buenos Aires befinden sich im Anhang 2. Die Straße Serrano, in welcher Borges in seiner Kindheit lebte, ist gekennzeichnet und ihre Verlängerung heißt heutzutage Jorge Luis Borges.

[3] Geb. 1883 Paraná, Entre Rios – † 1912 Buenos Aires, Kurzbiographie m Anhang 1b

[4] Una vida de Evaristo Carriego

[5] Zusammenfassung (sinopsis) (sic) des Herausgebers in Barnes & Nobles.com

[6] Tango und Milonga, die Gauchodichtung, und vor allem die zentrale Rolle von Buenos Aires in seinem Werk.

[7] Seite 55, hinzugefügt im Jahre 1954

[8] Seite 38

[9] Zwar meint ANDERSON zu recht, dass bürgerliche Ehefrauen eine wesentliche Rolle bei der Nationserfindung spielen, allerdings bleibt weiterhin offen die Frage, wie das geschieht, wenn das Geschlecht keine Gemeinsamkeit darstellen kann.

[10] Übersetzungen und Rezensionen des Essays História del Tango (In Übersetzung: Geschichte des Tango) sind im Internet in internationalen Tangokreisen zu finden, wo sie auch diskutiert werden. (Siehe Tangocommunity von Chicago, USA oder Paris, Frankreich)

[11] Bezeichnend ist die Google-Suche für Evaristo Carriego. Im Anhang 3 ist die erste Seite exemplarisch zu finden. Sie weist hauptsächlich auf Websites hin, welche über das Buch von Borges referieren. In den Seiten, in welchen, es nicht um das behandelnde Buch geht, wird Borges trotzdem meistens erwähnt, als einzige Quelle für seine Biographie und Rezension.

[12] Seite 36

[13] Siehe beispielsweise die Analyse seiner Dichtung im Kapitel III, Las Misas Herejes

[14] Prólogo

[15] Seite 9

[16] Seite 137

[17] Seite 34

[18] Siehe auch ANDERSON

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Die Dekonstruktion des Nationalhelden in Borges' Evaristo Carriego
Untertitel
oder die Konstruktion eines argentinischen Antihelden
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Romanistik)
Veranstaltung
ProS Lateinamerikanische Identitätsentwürfe im 19. Jh.
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
25
Katalognummer
V74569
ISBN (eBook)
9783638720489
Dateigröße
767 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dekonstruktion, Nationalhelden, Borges, Evaristo, Carriego, ProS, Lateinamerikanische, Identitätsentwürfe
Arbeit zitieren
Eleni Andrianopulu (Autor:in), 2004, Die Dekonstruktion des Nationalhelden in Borges' Evaristo Carriego, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74569

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