Literarische Reisebeschreibung als Mittel zur Darstellung des Fremden: Puškin und der Kaukasus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Russland und Asien
2.1. Abgrenzungen
2.1.1. Geographisch
2.1.2. Geschichtlich
2.2. Der Mythos des Ostens
2.2.1. Europäische vs. russische Vorstellungen vom Orient
2.2.2. Die Entwicklung des Mythos in Russland
2.2.3. Der Mythos, seine Bestandteile und Folgen

3. Puškin und die literarische Beschreibung seiner Reise nach Arzrum
3.1. Ablauf, Bedeutung, Motive und Folgen der Reise Literarische Reisebeschreibung
3.3. Definitionen und Merkmale im Bezug auf Puškins „Putešestvie v Arzrum“

4. Fremdes aus russischer Sicht
4.1. Fremde Natur
4.2. Fremde Kulturen
4.2.1. Mentalitäten
4.2.3. Werte
4.2.4. Lebensqualität

5. Erkenntnisse und Folgen
5.1 Der Mythos des Ostens und seine Desillusionierung
5.2. Folgen für russisch-asiatische Beziehungen
5.3. Folgen für Puškin
5.4. Schlusswort

6. Literaturverzeichnis
6.1. Primärliteratur
6.2. Sekundärliteratur

7. Anhang: Graphische Darstellung der Reiseroute von A. S. Puškin

1. Einleitung

„Vostok delo tonkoe!“ - Es gibt wohl kein anderes Sprichwort, welches die Einstellung Russlands zum asiatischen Raum markanter auf den Punkt bringt. Denn diese drei Worte spiegeln nicht nur die aus russischer Sicht bestehende Unsicherheit im Umgang mit Asien wider, sondern können auch als Sinnbild für die Unfähigkeit Russlands interpretiert werden, diesen geographisch so nahen und emotional doch so fernen Raum, mit seinen Menschen, Kulturen und Sitten ganz oder auch nur teilweise einzuschätzen oder gar zu verstehen.

Aber was ist eigentlich das Fremde und Unverständliche an Asien und warum ist dieser Weltteil für Russland so faszinierend und abschreckend zugleich? Das ist die Leitfrage meiner Hausarbeit, die ich im Folgenden anhand der russischen Reiseliteratur des 19 Jh. zu beleuchten beabsichtige. Diese Zeitspanne ist für die Untersuchung russisch - asiatischer Beziehungen besonders relevant. Während in der Zeit davor die russische Vorstellung von Leben in Asien mangels handfester Informationen eher von Mythen geprägt war, kam es vor allem zu Beginn des 19 Jh. zu einer Intensivierung der Kontaktaufnahme zwischen Russen und Asiaten. Handelswege wurden gesucht, Kriege geführt und Reisen unternommen. Berichte der Reisenden stellten folglich die Informationsquelle dar, die das russische Bild von Asien nachhaltig prägten. „Putešestvie v Arzrum“ von A. S. Puškin ist eine der wichtigsten literarischen Reisebeschreibung dieser Zeit und stellt daher das Kernstück meiner Untersuchung dar. In ihr berichtet der berühmte Dichter von den Beobachtungen während seiner Kaukasus – Reise von 1829. Zur Ergänzung gehe ich aber auch auf zwei Werke Lermontovs ein, in denen er seine ca. zehn Jahre nach Puškin gemachten Kaukasus - Erlebnisse literarisch verarbeitet.

Um russische Vorstellungen von Asien besser zu verdeutlichen, werde ich zuerst den zu untersuchenden asiatischen Raum geographisch abgrenzen, historische Hindergründe der russisch – asiatischen Beziehungen beleuchten, sowie von den Mythen des Ostens und den Absichten der Reisenden berichten. Danach betrachte ich ausführlich die literarischen Reisebeschreibungen Puškins und Lermontovs mit dem übergeordneten Ziel, das Fremde an Asien aus russischer Sicht herauszuarbeiten und schließlich zu verstehen, welche Auswirkungen diese Reiseliteratur auf die russische Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Asien hatte.

2. Russland und Asien

2.1. Abgrenzungen

Angesichts der Vielfältigkeit russisch - asiatischer Beziehungen ist eine räumliche und zeitliche Abgrenzung des Untersuchungsfeldes dieser Hausarbeit nötig, die in diesem Unterkapitel unter Berücksichtigung zahlreicher relevanter Einflussgrößen vorgenommen werden soll.

2.1.1. Geographisch

Die einzigartige geographische Lage Russlands begründet eine besondere Doppelbeziehung:

Die Natur hat hier Westen und Osten, Europa und Asien eng und unzertrennlich miteinander verbunden. Mit gutem Grund wird von einem „eurasischen Kontinent“ gesprochen, ja Rußland darob als „Eurasia“ genommen, „nicht eine Kombination von Europa und Asien, sondern die Mitte des Kontinents als ein besonderes geographisches und historisches Gebiet.[1]

Folglich schließt sich die Frage an, wo dieses Gebiet aufhört bzw. welche Gegenden aus russischer Sicht so fern und fremd erscheinen, dass sie nicht mehr Bestandteil dieses Gebietes sein können. Außerdem stellt sich die Frage nach der Bezeichnung dieser Gegenden. Handelt es sich hierbei um den Osten, den Kaukasus, den Orient oder ganz Asien? Und schließlich interessiert die Frage, welche dieser Gegenden für meine Untersuchung von Bedeutung sind?

Da der Fokus dieser Hausarbeit auf der Reiseliteratur Puškins liegt, werde ich auch nur auf den geographischen Raum eingehen, den der Schriftsteller in seinem Reisebericht „Putešestvie v Arzrum“ beschreibt und alle obigen Fragen aus seiner Perspektive abhandeln.

Während der Westen für A. S. Puškin, der über Kenntnisse mehrer europäischer Sprachen verfügte, weitgehend bekannt und gewohnt war, verkörperte der asiatische Raum für ihn etwas Fremdes und Gemeinmissvolles. Der langsame Übergang Europas zu Asien begann seiner Meinung bereits in Kalmykija[2] und beschleunigte sich, je näher er der damaligen südrussischen Grenze kam, wobei die Türkei und vor allem sein damaliges Reiseziel Arzrum für ihn den wahren Osten bzw. das wahre Asien oder auch den islamischen Orient und damit das wirklich Fremde darstellten[3].

Somit nehmen der Süden Russlands, der Kaukasus und das türkische Vorderasien als Regionen (siehe Abbildung im Anhang), sowie deren Bewohner, ihre Kulturen und Sitten einen zentralen Platz in der literarischen Reisebeschreibung Puškins ein und bilden daher auch den Mittelpunkt meiner Untersuchung.

2.1.2. Geschichtlich

„For comparison with Britain, France, and the United States […] Russia had a much more vexed relationship with “the East””[4]. Sei es die drei Jahrhunderte lange grausame Mongolenherrschaft[5] oder die zeitlich daran anschließende mühevolle Ostexpansion[6] ; zahlreiche Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen mit asiatischen Völkern haben das Land nachhaltig geprägt.

Puškins Reise nach Arzrum findet im Jahre 1829 und somit während des siebten von insgesamt neun russischen Türkenkriegen statt, in dem Russland das Osmanische Reich zurückdrängen und somit seine Vorherrschaft im Kaukasus behaupten konnte.

Zu dieser Zeit war die „Orientalische Frage“[7] für Russland eine sehr bedeutende. Dahinter steckte die langfristige Strategie des Zarenreichs, den muslimischen Einfluss im Kaukasus zu mindern, die besonderen christlichen Kirchen in Armenien und Georgien vor den Osmanen zu schützen, Konstantinopel wieder für das orthodoxe Christentum zu gewinnen und nicht zuletzt den Handel mit Persien durch neue Handelswege zu intensivieren.

Die Stabilisierung und Befriedung des Kaukasus war für die Erreichung dieser Ziele unabdingbar, erwies sich allerdings trotz militärischer Übermacht Russlands als äußerst problematisch. Die freiheitsliebenden Bergvölker leisteten einen erbitterten Widerstand gegen die russischen Besatzer.[8] Vor allem tschetschenische und dagestanische Clans unter der Führung des legendären Imam Šamil’ sowie seines Konkurrenten Hadži Murat, wehrten sich heroisch gegen die russische Expansion und verzögerten diese um Jahrzehnte. Ihre zahlreichen Überfälle auf russische Stellungen gingen in die Geschichte ein, ihr Kampf wurde zum Mythos und sie selbst zu zentralasiatischen Volkshelden. („Все в горах знают Хаджи Мурата, как он русских свиней бил...“[9]).

Ein weiterer Grund für die bis 1859 (Gefangennahme von Imam Šamil’) erfolglos gebliebenen Versuche den Kaukasus zu sichern war neben der Tapferkeit der Bergvölker auch das für die russischen Soldaten zuerst sehr ungewöhnte und auf die muslimischen Freiheitskämpfer wie perfekt zugeschnittene Terrain. Dazu schreibt Hoetzsch:

Östlich und westlich des großen Bergzugs war bereits russisches Herrschaftsgebiet, und schon lange waren große und kleine Kämpfe mit den ihre Freiheit verteidigenden Bergstämmen im Gang. Sie brachten, vermittelt auch durch Russlands größte Dichter Puschkin und Lermontov, den Russen, den Söhnen der einförmigen Ebene, die grandiose Natur der kaukasischen Gebirgswelt und Landschaft nahe. (1966 : 35-36)

Somit war der Kaukasus, im für diese Untersuchung relevanten Zeitraum, trotz seiner weitgehenden Eroberung und formalen Angliederung an das Russische Reich, keineswegs ein bekannter und sicherer Ort für Russen. Das geht auch deutlich aus der im Folgenden zu analysierenden Reiseliteratur Puškins und Lermontovs hervorgeht.

2.2. Der Mythos des Ostens

2.2.1. Europäische vs. russische Vorstellungen vom Orient

Die Vorstellungen des Okzidents vom Orient haben eine sehr lange Tradition. Die ersten Hochkulturen an Eufrat und Tigris waren die Quelle zahlreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Medizin, Mathematik oder Astronomie sowie bedeutenden Erfindungen wie z.B. dem Rad. Der dort damals praktizierte Monotheismus bildete später die Grundlage für das Christentum und den Islam. Dort entstanden die ersten Städte, Schriften und Gesetzesbücher. Folglich avancierte der Orient zu einem Sinnbild für die Wiege der gesamten abendländischen Kultur.

Dementsprechend positiv war auch der Mythos vom Osten. „Der Orient war fast eine europäische Erfindung, und er war seit der Antike ein Ort der Romantik, des exotischen Wesens, der besitzergreifenden Erinnerungen und Landschaften, bemerkenswerten Erfahrungen.“[10]

Für Russland bildete der Osten ein Konglomerat aus unterschiedlichsten Vorstellungen, den europäischen und den eigenen. Durch die besondere geografische und historische Beziehung zu Asien (siehe 2.1) konnte das Zarenreich Erfahrungen sammeln, die die westliche Sicht des Orients etwas modifizierten. Es war vor allem die Mongolenherrschaft, die den größtenteils positiven Mythos des Ostens aus russischer Sicht relativierte und die Frage aufbrachte, wie sich Russland gegenüber Asien positionieren sollte. In „Window on the East“ meint Robert P. Geraci dazu: „The East seemed a world away, yet was close by. Its people ware either exotic and charming or bothersome and distasteful. It could be a source of fascinating study or might best be avoided.” (2001 : 2)

Mit anderen Worten ist Asien für Russland ein Rätsel voller Mythen und Legenden gewesen, welche ich im Folgenden nach ihrer zeitlichen Entwicklung zu untersuchen und nach ihren inhaltlichen Bestandteilen aufzugliedern versuche.

2.2.2. Die Entwicklung des Mythos in Russland

Wie alle Mythen generell ist auch der Mythos des Ostens ein wenig differenziertes, auf Stereotypen basierendes und nur schwer überprüfbares imaginäres Konstrukt, welches auch nur solange aufrechterhalten werden kann, bis widersprechende Informationen ans Tageslicht kommen. Doch genau dieser Mangel an zuverlässigen Informationen über das wahre Leben in Asien konnte in Russland bis zum Beginn des 19 Jh. festgestellt werden. „Недостаток достоверных знаний об азиатских государствах долгое время не позволял адекватно оценить уровень развития этих стран, их экономический и военный потенциал.“[11] Dies hatte laut Soplenkov zur Folge, dass für die meisten Russen, inklusive der russischen Regierung, die Gebiete Asiens etwas im höchsten Maße Fremdes, ja gar eine „terra inkognita“ darstellten.[12] Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zudem damals weitgehend ungebildet war, förderte die „Kultur der mündlichen Überlieferung“ und schuf einen nährreichen Boden für die Mythenbildung.[13] Auch der Hang zur Märchenerzählung, ein fester Bestandteil der russischen Identität, spielte dabei sicherlich eine Rolle. So wurden die ohnehin meist übertriebenen Erzählungen der wenigen, die in asiatischen Ländern gewesen sind, noch fantasievoller weitererzählt, bis der Eindruck entstanden war, dass Asien der wohl reichste und exotischste Teil der Welt ist. Da diese Vorstellung sich auch weitgehend mit der europäischen deckte (siehe 2.2.1), wurden die Berichte der Reisenden, die die einzige Informationsquelle der damaligen Zeit darstellten, auch nicht kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Jedoch konnten die meisten dieser Erzählungen alleine schon aus ihrer Natur heraus nicht objektiv gewesen sein, den bei den Reisenden handelte es entweder um Diplomaten und Kaufleute, die nur mit ausgewählten wohlhabenden Vertretern der asiatischen Völker verkehrten oder um Kriegsveteranen und ehemalige Gefangene, die ihre Erlebnisse sicherlich nicht ohne Ausschmückungen schilderten.[14]

[...]


[1] Hoetzsch 1966:21-22

[2] vgl. Puškin 2001: 3

[3] vgl. Puškin 2001: 20

[4] Geraci 2001: 2

[5] vgl. Haumann 2003: 72 - 84

[6] vgl. Nolte 2003: 62 - 64

[7] Haumann 2003: 249

[8] vgl. Hoetzsch 1966 : 39 vgl. Halbach 2003 : 3 - 5

[9] Tolstoj 1964 : 28

[10] Said 1981: 8

[11] Soplenkov 2000 : 16

[12] Soplenkov 2000 : 15 -16

[13] vgl. Soplenkov 2000 : 18

[14] vgl. Soplenkov 2000 : 18 - 49

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Literarische Reisebeschreibung als Mittel zur Darstellung des Fremden: Puškin und der Kaukasus
Hochschule
Universität Mannheim
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
37
Katalognummer
V75862
ISBN (eBook)
9783638813372
ISBN (Buch)
9783638814232
Dateigröße
1360 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Literarische, Reisebeschreibung, Mittel, Darstellung, Fremden, Puškin, Kaukasus, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Dmitri Ouvarovskii (Autor:in), 2006, Literarische Reisebeschreibung als Mittel zur Darstellung des Fremden: Puškin und der Kaukasus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75862

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