Kulturkritik nach Ernst Cassirer


Hausarbeit, 2006

20 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung und Hinführung zum Thema
I.1. Die Begriffe Kultur, Kritik und Kulturkritik

II. Die symbolische Ordnung der Kultur nach Ernst Cassirer

III. Mythos und Moderne

IV. Fazit – die Bedeutung der „Kritik der Kultur“

Literaturverzeichnis

Werke von Ernst Cassirer:

Sekundärliteratur:

I. Einleitung und Hinführung zum Thema

I.1. Die Begriffe Kultur, Kritik und Kulturkritik

Das Werk des Menschen ist die Welt, die er sich schafft, die Kultur. Diese Einsicht gewann auch Ernst Cassirer. Doch die ganze Kulturphilosophie und mithin die Kulturkritik sind ein umstrittenes Gebiet innerhalb der philosophischen Disziplinen. Schon die Einzelbegriffe Kultur und Kritik haben einen interessanten begriffsgeschichtlichen Hintergrund zu verzeichnen. Der lateinische Begriff cultura heißt übersetzt Bebauung oder Pflege. Der Begriff entstammt demzufolge aus dem Bereich der Landwirtschaft, genauer des Ackerbaus.[1] Cicero war es erst, welcher der Philosophie den Charakter einer „Cultura animi“ (Pflege der Seele) zuwies. Kultur und Philosophie waren in diesem Zusammenhang zum ersten Mal in Verbindung gebracht worden[2]. Doch bis in die frühe Neuzeit hinein bedurfte der Begriff der Kultur dieses Genitivattributs, erst danach konnte das Wort alleine stehen[3].

Heute wird unter Kultur die Gesamtheit der typischen Lebensformen größerer Menschengruppen einschließlich ihrer geistigen Aktivitäten, besonders der Werteinstellungen verstanden. Kultur gilt im weitesten Sinn als Inbegriff für all das, was der Mensch geschaffen hat, im Unterschied zum Naturgegebenen. Im engeren Sinn bezeichnet Kultur alle Bereiche der menschlichen Bildung im Umkreis von Erkenntnis, Wissensvermittlung, ethischen und ästhetischen Bedürfnissen.[4]

Der Begriff der Kritik entstammt ebenfalls der Antike, allerdings ist er griechischen Ursprungs. So bedeutete das Wort ursprünglich die Kunst des Trennens, des Scheidens oder des Beurteilens.[5] Kritik beinhaltet demzufolge auch immer, eine Distanz zum Dargebotenen aufzubauen, um das Bewusstsein für den Ursprung eines Sachverhaltes zu gewinnen.[6]

Kultur und Kulturkritik gehören in der Moderne aufs engste zusammen. Kulturkritik ist selbst ein Teil der Kultur, die sie kritisiert, aber auch die Kultur ist von ihrer Kritik abhängig. Während vor allem die Erfolge von Naturwissenschaft und Technik die Vorstellungen von Fortschritt und Kultur seit Beginn der Moderne beflügelten, wurde zugleich offenbar, dass von einem entsprechenden Höhenflug der moralischen Kompetenzen der Menschen nicht ebenso die Rede sein konnte. Die künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Thematisierungen von Kultur wurden daher seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts durch Kritik, Protest und Warnung begleitet.[7] Es war Jean-Jacques Rousseau, der mit seiner radikalen Kritik am Fortschrittsglauben den Aufklärern leidenschaftlich widersprach. Er machte für die soziale Not nicht den Mangel an Vernunft verantwortlich, sondern den menschlichen Willen, der im Verlauf des Prozesses der Zivilisation unnatürlich, künstlich, falsch und böse geworden sei. Damit wurde das soziale Problem zu einem moralischen Problem, und die Kulturkritik (und Fortschrittskritik) zu einer weit reichenden Anklage gegen die Unglaubwürdigkeit der Menschen. Rousseau verband seine Kritik an der menschlichen Natur allerdings gleichzeitig mit der Überzeugung, dass sie die Fähigkeit habe, sich zu vervollkommnen. Damit verfolgte er eine Kritik, die sich nicht, wie noch bei den Enzyklopädisten, auf einzelne Phänomene beschränkte, sondern diese als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krisensituation zu begreifen suchte. Mit dieser Kulturkritik, welche die gesellschaftlichen Institutionen grundsätzlich der souveränen Entscheidung des Volkes anheim stellte, wurde Rousseau schließlich zum Inbegriff der Französischen Revolution.

Das strikte historische Denken sollte erst eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts werden. Auf dieses neue Denken stützte sich nun jene andere Form von Kulturkritik, die der Idee des Fortschritts selber.

Die Kritik an Kultur und Fortschritt kann zusammenfassend verschiedene Formen annehmen: als Kritik am Fortschrittsglauben oder als Kritik an der Fortschrittsidee. So wird der unreflektierte Glaube an den Fortschritt kritisiert, mit dem fälschlicherweise von einzelnen, fortschrittlichen, Bereichen auf andere geschlossen wird, oder der die negativen Neben- und Rückwirkungen einzelner positiver Entwicklungen ausblendet. Andererseits kann aber auch diese Idee selbst infrage gestellt werden.[8] Etwa durch die Annahmen, dass jeder Fortschritt in einem Bereich zugleich auch Zerstörung und Verlust in einem anderen Bereich bedeutet, und dass die Vorstellung einer linearen Entwicklung der Menschheit in Richtung Vervollkommnung selbst ein Fehlschluss ist, so dass Individuen und Kulturen in ihrer Entwicklung Formen ausbilden, die grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Erweitert man seinen Blick über diese Einstellungen hinaus, lässt sich folgende Unterscheidung von Kulturkritik vornehmen:

A.) Die normative Kulturkritik, deren Horizont auf die „Tragik des Niedergangs und auf die Verklärung vormoderner Lebensformen beschränkt bleibt“.
B.) Die deskriptive Kritik der Kultur, die den Prozess kultureller Selbstbeobachtung rekonstruiert und selbst vorantreibt.[9]

In dieser Arbeit soll es nun darum gehen, wie Ernst Cassirer[10] sich in dem Themenkomplex verorten lässt.

Daher ist herauszuarbeiten, wie die Kulturphilosophie Cassirers beschaffen ist. Cassirer selbst schreibt über die Kulturphilosophie: „Von all den einzelnen Gebieten, die wir innerhalb des systematischen Ganzen der Philosophie zu unterscheiden pflegen, bildet die Kulturphilosophie vielleicht das fragwürdigste und das am meisten umstrittene Gebiet. Selbst ihr Begriff ist noch keineswegs scharf umgrenzt und eindeutig festgelegt.“[11] Mit Cassirer beginnt im 20. Jahrhundert eine neue Phase der Kulturphilosophie und der Kulturkritik, die Phase der „Kritik der Kultur“.[12]

II. Die symbolische Ordnung der Kultur nach Ernst Cassirer

Das Programm Cassirers ist nicht ohne dessen tiefe Verbundenheit zu Kant zu denken. Jedoch ist seinem System eine Art Mittelstellung zwischen Neukantianismus und Phänomenologie zu eigen. Denn während sein Lehrmeister Hermann Cohen[13] und der Marburger Neukantianismus sich mit hermeneutischen und exegetischen Fragen der Kantischen Kritiken beschäftigt hatte, ist es Cassirer, der mit Begrifflichkeiten, wie Mythos, Kunst, Sprache, Religion, Technik und Sitte[14] arbeitet und somit den neukantianischen Denkrahmen überschreitet.

Dabei scheint das Werk Cassirers auf den ersten Blick von einer eher nachvollziehenden Zugangsweise bestimmt zu sein, nicht so sehr von kritischer Stellungnahme. Er versteht es, die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Konzeptionen sinnvoll darzustellen. Selbst außer- und vorwissenschaftliche Weltverständnisse erhalten bei seinem Verfahren eines verständnisvollen Nachvollzugs jeweils die Gestalt innerer Stimmigkeit. Cassirers Haltung ist hier selbst diejenige eines Kulturbetrachters, der aus einer Position eigener, hoher Kultiviertheit heraus alle möglichen Manifestationen aus der Welt des Geistes zu würdigen versteht.

Gleichzeitig will Cassirer aber auch ein Kulturphilosoph eines ganz anderen Typs sein. So tritt einerseits Kultur bei Cassirer als ein Name für die Wirklichkeit schlechthin auf, andererseits ist Kultur der Name für den Inbegriff bestimmter Erscheinungen in Konfrontation zu anderen. Zunächst hat Cassirer bereits 1923 im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen die Konzeption einer Philosophie der Kultur als erster Philosophie proklamiert, wenn er schreibt: „Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Vorraussetzung hat.“[15] Auf diese Weise beschreibt Cassirer etwas anderes als das, was man besonders im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland Kulturkritik nannte. Vielmehr schließt Cassirer an Kants Vernunftkritik an, das bedeutet an Kants wissenschaftlicher Analyse des Verstandes, die als Fundament eines möglichen wissenschaftlichen Weltverständnisses dienen könne. Deshalb kann Cassirer im Anschluss an Kant empfehlen, dass „nicht sowohl vom allgemeinen Weltbegriff, als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff“ auszugehen sei.[16] Schließlich ist zu konstatieren, dass Cassirer das Gebiet der objektiven Erkenntnismöglichkeiten in Form der symbolischen Repräsentation ausweitet und dass diese Abkehr vom rein wissenschaftlichen Bezug des Erkenntnisbegriffs auf dem oben genannten Weg von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur in eine Phänomenologie der Erkenntnis mündet, deren Fundament die symbolischen Formen darstellen.

Diese Kulturphilosophie ist eine neu etablierte kritische Philosophie unter den Bedingungen von Wissenschaftsentwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Dennoch wird Cassirer zu einem späteren Zeitpunkt durchaus wieder den engeren Kulturbegriff positiv benutzen, um ihn der Natur entgegenzustellen. Gemäß einschlägiger Textstellen aus seinem Werk „Logik der Kulturwissenschaften“ ist die Philosophie der symbolischen Formen zwar der Versuch, „jeder Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Recht zuzuerkennen und sie in ihrer Eigentümlichkeit zu begreifen“[17], aber diese Aufgabe scheint keine bloß kulturphilosophische mehr zu sein. Denn Cassirer fügt ausdrücklich hinzu, es gehe der Philosophie der symbolischen Formen um das „Problem der Objektivität in seiner ganzen Weite“, und dieses Problem „umspannt [...] nicht nur den Kosmos der Natur, sondern auch den der Kultur“.[18] Der Kosmos der Natur und der Kosmos der Kultur werden an dieser Stelle also differenziert.

Bereits in seiner Philosophie der symbolischen Formen hatte Cassirer eine natürlich-sinnliche von einer symbolisch-medialen Welt unterschieden. Erfahrung und Wirklichkeit konstituieren sich dabei in je einer eigenen Beziehung von sinnlichen und mentalen Inhalten. Die Gesamtheit der sensuellen Empfindungen sei unendlich verschiedenartig und befinde sich in stetem Wandel. Ihre Einheit ergebe sich schließlich aus ihrer Formlosigkeit. Nach Cassirer begegne der Mensch mit Hilfe der schöpferischen Zeichengebung diesen formlosen Fluss. Denn erst wenn der Mensch das Sinnliche mit Hilfe von Zeichen gestalte, erhalte es Form und Dauer.[19]

[...]


[1] Lat. Cultura, von colere: bebauen, pflegen. Siehe dazu Konersmann, Ralf, Kulturphilosophie, in: Pieper, Annemarie (Hrsg.): Philosophische Disziplinen. Ein Handbuch, 2. Aufl., Leipzig 2004, S. 165-184, hier S. 171 und vgl. Prechtl, Peter; Franz-Peter Burkard: Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen, 2. Aufl., Stuttgart u. Weimar 1999, S. 310f.

[2] Siehe Rudolph, Enno, Zur Einführung, in: Rudolph, Enno; Küppers, Bernd-Olaf (Hrsg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer. Hamburg 1995; S. 1-11, hier S. 1.

[3] Siehe Konersmann, Ralf, Das kulturkritische Paradox, in: Ders. (Hrsg.): Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, S. 9-37, hier S. 11.

[4] Trotz dieser Umschreibungen gibt es bis heute keine allgemeingültige Definition dessen, was Kultur ist. Siehe dazu: Konersmann, Ralf, (wie Anm. 3), S. 11f.

[5] griechisch „krinein“ od. „kritike“ . Siehe dazu Prechtl, Peter; Franz-Peter Burkard, (wie Anm. 1), S. 307 und vgl. Konersmann, Ralf, (wie Anm. 3), S. 13.

[6] Vgl. ebda., S. 13.

[7] Siehe Konersmann, Ralf, (wie Anm. 3), S. 21ff.

[8] Vgl. Ebda., S. 16f.

[9] Siehe dazu: Konersmann, Ralf, (wie Anm. 3), S. 18.

[10] Cassirer, Ernst, Philosoph, geb. in Breslau am 28.07.1874, gest. in New York am 13.04.1945; war 1919-1933 Professor in Hamburg. Cassirer emigrierte nach England und lehrte von 1933-35 in Oxford, dann in Schweden in Göteborg, seit 1941 in den USA an der Yale University und schließlich von 1944-45 an der Columbia University in New York. Cassirer kam von der Marburger Schule des Neukantianismus her (Schüler von H. Cohen). In Weiterbildung des transzendentalphilosophischen kritischen Idealismus Kants deutete er die gesamte kulturell-geistige Wirklichkeit als eine Vielheit von Bildwelten, deren symbolische Formen autonome Schöpfungen des Geistes darstellen; denn erst durch dessen sinnverleihende Formung werden die Erscheinungen zur Welt als einem objektiven Sinnzusammenhang. Die Geistesgeschichte wird in diesem Sinn als symbolgestaltender Ideenprozess gedeutet. In ihm komme der Mensch zur Freiheit wachsender Selbstbewusstheit und Selbstbestimmung. Cassirer schrieb neben seinen systematischen Werken richtungweisende Arbeiten zur Geschichte der Philosophie (Renaissance, Aufklärung, Descartes, Leibniz, Rousseau und Kant) und zur Geistesgeschichte (Goethe, Hölderlin, Kleist). Siehe zu Cassirers Leben: Graeser, Andreas: Ernst Cassirer. München 1994, S. 11-28.

[11] Cassirer, Ernst, Naturalistische und Humanistische Begründung der Kulturphilosophie, in: Cassirer, Ernst: Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940). Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz (Gesammelte Werke Bd. 22), S. 140-166, hier S. 140.

[12] Siehe Konersmann, Ralf, (wie Anm. 3), S. 31. Und siehe zum weiteren Verlauf der Diskussion um den Kulturbegriff im 20. Jahrhundert: Rudolph, Enno: Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus, Tübingen 2003, S. 257-268.

[13] Cohen, Hermann, Philosoph, geb. in Coswig (Anhalt) am 4.07. 1842, gest. in Berlin am 4.04.1918; mit Paul Natorp Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus. Die politische Philosophie seines ethischen Sozialismus hatte großen Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie.

[14] Cassirer spricht nicht von einer bestimmten Anzahl an Formen. Einmal nennt er auch die Wirtschaft als solche. Siehe Graeser, Andreas, (wie Anm. 10), S. 51. Auf der anderen Seite rechnet Cassirer nur mit einer begrenzten Anzahl an symbolischen Formen. Siehe Paetzold, Heinz: Ernst Cassirer zur Einführung. 2. Aufl., Hamburg 2002, S. 43.

[15] Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen (im folgenden PhsF). Teil 1, Die Sprache, Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz (Gesammelte Werke Bd. 11), Darmstadt 2001, S. 9.

[16] Cassirer, PhsF I, (wie Anm. 15), S. 9.

[17] Cassirer, Ernst: Zur Logik der Kulturwissenschaften (im folgenden LKw). Fünf Studien, 5. Aufl., Darmstadt 1989, S. 20

[18] Ebda., S. 20.

[19] Siehe Cassirer, PHsF I, (wie Anm. 15), S. 44f.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Kulturkritik nach Ernst Cassirer
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
Ressentiment und Kulturkritik
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
20
Katalognummer
V76073
ISBN (eBook)
9783638804806
Dateigröße
379 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kulturkritik, Ernst, Cassirer, Ressentiment, Kulturkritik
Arbeit zitieren
Tobias Thiel (Autor:in), 2006, Kulturkritik nach Ernst Cassirer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76073

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