Kann es einen „idealen Wohlfahrtsstaat“ geben? - Eine theoretische Untersuchung auf Basis von Rational Choice


Hausarbeit, 2007

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1.) Einleitung

2.) Der Begriff des Wohlfahrtsstaates nach Esping- Andersen
2.1) De-Kommodifizierung
2.2) Stratifizierung

3.) Rational Choice und der ideale Wohlfahrtsstaat nach Esping- Andersen
3.1) Rational Choice – die zugrundegelegten Annahmen
3.2) Der ideale Wohlfahrtsstaat nach Esping- Andersen und seine Implikationen für rationale Akteure
3.3) Der ideale Wohlfahrtsstaat nach Esping- Andersen und seine Implikationen für die Erwerbstätigkeit

4.) Der ideale Wohlfahrtsstaat und das „kollektive Dilemma“
4.1) Sozialleistungen als exklusives Kollektivgut
4.2) Der ideale Wohlfahrtsstaat und das Dilemma des exklusiven Kollektivguts „Sozialleistungen“

5.) Der ideale Wohlfahrtsstaat als Paradoxon – Implikationen und Fazit der Betrachtung des idealen Wohlfahrtsstaates aus der Perspektive von Rational Choice

6.) Literaturverzeichnis

1.) Einleitung

Die Frage danach, wie sich „das Wesen“ oder die Charakteristika des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates bestimmen lassen, haben viele Autoren und Fachrichtungen beschäftigt. Ein in der Politikwissenschaft populärer Ansatz, das Phänomen des Wohlfahrtsstaates theoretisch und empirisch zugänglich zu machen, stammt von Gøsta Esping- Andersen. In einem 1989 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Three political economies of the welfarestate“ unternimmt er eine erste Bestimmung des Begriffes, die er ein Jahr später in seiner Studie „The Three Worlds of Welfare Captialism“ wieder aufnimmt und präzisiert. Dabei konzipiert er den Begriff des Wohlfahrtsstaats aus funktionaler Perspektive, indem er die „soziale Staatsbürgerschaft“ als zentrale Idee des Wohlfahrtsstaates benennt. Im Zentrum dieser Begrifflichkeit steht die „Gewährung sozialer Rechte“, die er in den beiden basalen Elementen der „De-Kommodifizerung“ und „Stratifizierung“ verortet. Letztlich heben diese beiden Begrifflichkeiten darauf ab, das Ausmaß zu bestimmen, in dem wohlfahrtsstaatliche Sozialleistungen einerseits eine tatsächliche Sicherheit bieten (im Sinne einer tatsächlichen Alternative zur Erwerbstätigkeit) und andererseits universell über alle Bevölkerungsschichten hinweg zur Verfügung stehen (im Sinne einer Gleichbehandlung aller).

Als Idealtyp eines Wohlfahrtsstaates könnte demnach derjenige Staat gelten, der beide Prinzipien in bestmöglicher Ausprägung zu gewährleisten in der Lage ist; kurz: umfangreiche und universelle soziale Sicherheiten in gleichem Umfang für jeden.

Aus normativer Perspektive mag sich dies durchaus nach einem vertretbaren Maßstab anhören, den man an Wohlfahrtsstaaten – oder solche, die sich so nennen – anlegen kann. Dabei geht man stillschweigend davon aus, dass dieses Ideal irgendwie auch tatsächlich erreichbar ist[1]. Letztlich gilt es dies aber zunächst einmal zu klären. Daher soll in der hier vorliegenden Arbeit folgende Frage behandelt werden: Ist das oben skizzierte Ideal des Wohlfahrtsstaates auch tatsächlich realisierbar?

In diesem Kontext soll in Kapitel 2 zunächst in ausführlicherer Form auf die von Gøsta Esping- Andersen vorgeschlagene, funktionale Definition des Wohlfahrtsstaatsbegriffs eingegangen werden. Dabei sollen die Termini „De-Kommodifizierung“ und „Stratifizierung“ wie sie Esping- Andersen konzeptioniert einer genauen Untersuchung unterzogen werden (Kap. 2.1 & 2.2). Dieses Vorgehen erscheint nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil eine genaue definitorische Abgrenzung der Begriffe für den weiteren Verlauf der Arbeit essentiell erscheint.

Kapitel 3 wird sich der zentralen Fragestellung dann aus analytischer Perspektive annähern. Dabei soll hier auf die Rational Choice Handlungstheorie rekurriert werden, da sich diese in der politikwissenschaftlichen Perspektive als eine der bisher weitreichendsten Theorien bewährt hat. Zunächst sollen hier die handlungstheoretischen Grundannahmen kurz dargelegt werden, auf die im Weiteren aufgebaut werden soll (Kap. 3.1). Die Darlegung der zugrundeliegenden Annahmen erscheint deshalb notwendig, weil in der wissenschaftlichen Debatte mit dem Begriff Rational Choice sehr unterschiedliche Prämissen verknüpft werden.

Kapitel 3.2 leitet dann unter Anwendung von Rational Choice aus den in Kapitel 2 aufgezeigten Merkmalen des Wohlfahrtsstaates nach Esping- Andersen einen „idealen Wohlfahrtsstaat“ ab, der die von Esping- Andersen angeführten Merkmale des Wohlfahrtsstaates in bestmöglicher Ausprägung zu verwirklichen versucht. Dies soll im Rahmen einer Betrachtung auf der Mikroebene geschehen. Daran anlehnend untersucht das folgende Kapitel die sich aus dem idealen Wohlfahrtsstaat ergebenden Folgen für die Erwerbstätigkeit rationaler Akteure auf der Makroebene (Kap. 3.3). Kapitel 4 wird zeigen, dass sich wohlfahrtsstaatliche Leistungen (Sozialleistungen) unter den angenommenen Rahmenbedingungen als exklusives Kollektivgut konzeptionieren lassen. Daraus wiederum ergeben sich aus der Perspektive von Rational Choice folgenreiche Konsequenzen für die Übertragbarkeit des wohlfahrtsstaatlichen Idealtypus auf die Realität und damit für seine Anwendbarkeit als komparative Größe (Kap. 5).

2.) Der Begriff des Wohlfahrtsstaates nach Esping- Andersen

Im Folgenden soll nun auf die von Gøsta Esping- Andersen vorgeschlagene Definition des Wohlfahrtsstaatsbegriffs näher eingegangen werden. Basales Element ist dabei das Konzept der „Sozialen Staatsbürgerschaft“[2] und die damit verbundene Gewährung von Sozialen Rechten. Definiert man den Wohlfahrtsstaat über die Gewährung von Sozialen Rechten, sind damit zugleich weitere Implikationen verbunden, die sich aus dem Begriff des Rechts quasi per Definition ergeben:

In der heute üblichen, eher rechtstaatlich orientierten Verwendung, wird „Recht“ immer als

a) allgemein gültig (im Sinne einer Nicht-Exklusivität) und
b) für alle in gleichem Maße geltend (im Sinne einer Gleichbehandlung aller ohne Berücksichtigung des sozialen, kulturellen, ökonomischen oder wie auch immer gearteten Status eines Individuums)

aufgefasst[3]. Auf diese Implikationen hebt auch Esping- Andersen - eher implizit als explizit - ab, wenn er die Gewährung von sozialen Rechten über die Begriffe „De-Kommodifizierung“ und „Stratifizierung“ operrationalisiert. Analog dazu soll der Begriff „Sozialleistung“[4] im Folgenden verstanden werden als auf Basis Sozialer Rechte von einem Gemeinwesen oder einer Gruppe innerhalb eines Gemeinwesens bereitgestellte Dienst-, Geld- oder Sachleistung - und somit materielle wie immaterielle Leistungen umfassen (z.B. Sozialversicherung, Kindergartenplätze etc.).

2.1) De-Kommodifizierung

„Als auf dem Markt angebotene Waren sind die Arbeiter in Ihrem Wohlergehen vollkommen von ihrem Marktpreis abhängig. Die Frage sozialer Rechte stellt sich daher als eine der De-Kommodifizierung [...]“ (Esping- Andersen, 1998, S.36) „De-commodification occurs when [...] a person can maintain livelihood without reliance on the market.“ (Esping- Andersen, 1990, S. 22). So [SK] „we are capturing the degree of market-independence for an average worker“ (Esping- Andersen, 1990, S.50).

De-Kommodifizierung meint nach Esping- Andersen zunächst einmal den Grad der Entkopplung der Lebensführung von Individuen vom (Arbeits-)Markt mittels sozialer Rechte. Damit bezieht sich Andersen im Kern auf die oben bereits erwähnte Nicht-Exklusivität von sozialen Rechten. Dies beinhaltet einerseits natürlich die Betrachtung der Voraussetzungen, die an den Bezug sozialer Leistungen geknüpft sind (z.B. Bedürftigkeitsprüfungen, erbrachte Sozialversicherungsbeiträge), da dies eine wesentliche Zutrittsschranke für den Bezug sozialer Leistungen darstellt und somit Exklusivität generiert (vgl. Esping- Andersen, 1990, S. 47). Zugleich spielt auch die potentiell mögliche Dauer des Bezugs sozialer Leistungen eine determinierende Rolle, da hierdurch die Entkopplung der Lebensführung vom Markt zeitlich begrenzt und zugleich eine Wiedereingliederung in den Markt vorausgesetzt bzw. erzwungen wird.

Andererseits kann auch bei vollkommener Zutrittsfreiheit und dem Wegfall einer Beschränkung der Bezugsdauer nicht per se von einer de-kommodifizierenden Wirkung sozialer Leistungen ausgegangen werden, da auch die Höhe der (nicht zwingend monetären) sozialen Leistungen letztlich darüber bestimmt, ob die Inanspruchnahme eben solcher eine wirkliche Alternative zur Erwerbstätigkeit darstellt und insofern von der absoluten Notwenigkeit der Erwerbstätigkeit für den Lebensunterhalt befreit (vgl. Ebenda).

In diesem Kontext erscheint auch relevant, welche (Lebens-) Risiken durch die gewährten sozialen Rechte abgesichert sind, d.h. in wieweit der Bezug von sozialen Leistungen letztlich an das Eintreten bestimmter Ereignisse gebunden ist (z.B. Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erreichen des Rentenalters) oder ob es jedem offen steht, ohne Angabe von näheren Gründen soziale Leistungen zu beziehen, wenn er dies für geboten erachtet.

„A minimal definition must entail that citizens can freely, without potentials loss of job, income, or general welfare, opt out of work when the themselves consider it necessary“ (Esping- Andersen, 1990, S. 23).

2.2) Stratifizierung

„The welfare state is not just a mechanism that intervenes in, and possibly corrects, the structure of inequality; it is, in its own right, a system of stratification. It is an active force in ordering of social relations“ (Esping- Andersen, 1990, S.23)

Ergänzend zur eben betrachteten De-Kommodifizierung spielt auch die Stratifizierung durch soziale Rechte eine wichtige Rolle. Die zentrale Frage ist hierbei, inwieweit soziale Rechte soziale Strukturen beeinflussen oder gar ihrerseits neue soziale Strukturen generieren. Das Hauptaugenmerk Esping- Andersens liegt dabei auf dem Phänomen sozialer Ungleichheit, wie die folgenden fünf, für ihn zentralen, Faktoren der Stratifizierung zeigen (vgl. Esping- Andersen, 1990, S.69 & Esping- Andersen, 1998, S.39ff.):

a) Segmentierung sozialer Programme

Ein wesentlicher Faktor für die Bestimmung der Stratifizierung durch soziale Rechte, ist die Segmentierung sozialer Programme. Werden soziale Leistungen nur für bestimmte soziale Gruppen zur Verfügung gestellt, oder werden je nach sozialer Gruppe unterschiedliche soziale Leistungen angeboten, ist davon auszugehen, dass das Ausmaß der Stratifizierung relativ stark ist, da bestehende soziale Strukturen als Basis für die Verteilung von sozialen Leistungen auf die Bevölkerung zu Grunde gelegt werden und diese damit reproduziert werden.

b) Unterschiede in der Höhe sozialer Leistungen für unterschiedliche soziale Gruppen

Auch wenn soziale Leistungen über alle sozialen Gruppen hinweg gleichermaßen zur Verfügung stehen, aber in ihrer Höhe variieren, ist davon auszugehen, dass die Stratifizierung zunimmt. Dieser Effekt ist paradoxerweise auch dann zu erwarten, wenn durch das unterschiedliche Leistungsniveau soziale Ungleichheiten kompensiert werden sollen, da mit zunehmender Differenzierung auch die Gefahr der Stigmatisierung sozialer Gruppen zunimmt und somit soziale Unterschiede quasi per Gesetz festgeschrieben werden.

c) Privilegien für Staatsbedienstete

In vielen Wohlfahrtsstaaten sind vor allem Staatsbedienste (Beamte) in Bezug auf soziale Rechte besonders gut situiert. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass mit diesen privilegierten sozialen Leistungen für Staatsbedienstete deren Loyalität gegenüber ihrem Arbeitgeber – dem Staat – sichergestellt werden soll. Letztlich ergeben sich daraus mindestens zwei soziale Gruppen (die der privilegierten Beamten und die der nicht privilegierten Nicht-Beamten) und damit soziale Differenzen.

d) Relevanz der Vermögensverhältnisse

Werden soziale Rechte nur für bestimmte, „bedürftige“ Vermögensgruppen gewährt, so ist davon auszugehen, dass damit bestehende soziale Ungleichheiten unterstützt oder gar verstärkt werden, weil mit der Gewährung der sozialen Leistung zugleich eine Stigmatisierung als „arm“ und „bedürftig“ einhergeht (z.B. Armenfürsorge). Dies begünstigt die Herausbildung unterschiedlicher sozialer Klassen.

e) Relevanz der privaten Vorsorge

Auch die Relevanz der privaten Vorsorge im Verhältnis zu staatlichen Sozialleistungen ist laut Esping- Andersen ein wesentlicher Faktor der Stratifizierung, weil davon auszugehen ist, dass mit zunehmender Relevanz privater Vorsorge vor allem privilegiertere soziale Schichten eher in der Lage sein werden, sich abzusichern. Dies verstärkt die sozialen Unterschiede zunehmend, weil soziale Leistungen dann sukzessive nur denen zur Verfügung stehen, die während ihrer Erwerbstätigkeit finanziell dazu in der Lage waren, entsprechende Sozialversicherungsbeiträge einzuzahlen.

[...]


[1] Anderenfalls wäre ein Vergleich mit realen Wohlfahrtsstaaten absurd.

[2] Vgl. hierzu: Marshall, T. H. (1950). Citizenship and Social Class. Cambridge.

[3] Vgl. hierzu z.B. Art. 3 GG „Gleichheit“; Art. 101 GG Abs. 1 „Verbot von Ausnahmegerichten“

[4] Oder: „soziale Leistung“.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Kann es einen „idealen Wohlfahrtsstaat“ geben? - Eine theoretische Untersuchung auf Basis von Rational Choice
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Wohlfahrtsstaaten im Vergleich
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
19
Katalognummer
V76849
ISBN (eBook)
9783638826433
ISBN (Buch)
9783638873147
Dateigröße
538 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kann, Wohlfahrtsstaat“, Eine, Untersuchung, Basis, Rational, Choice, Wohlfahrtsstaaten, Vergleich
Arbeit zitieren
Steffen Kroggel (Autor:in), 2007, Kann es einen „idealen Wohlfahrtsstaat“ geben? - Eine theoretische Untersuchung auf Basis von Rational Choice, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76849

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