Unter den zahlreichen Quereinsteigern ist das Beispiel Schily im Rahmen dieser Betrachtung zudem wegen eines weiteren Aspektes besonders interessant: Er ist nicht nur Seiteneinsteiger sondern auch Seitenwechsler: Nach neun Jahren bei den Grünen wechselt er zur SPD, wo ihm sein großer Karrieredurchbruch gelingt. Hinzu kommt auch, dass Schily während seiner politischen Karriere einen regelrechten Gesinnungswandel durchmacht.
Im Folgenden wird die Karriere von Otto Schilys mit Fokussierung auf den Aspekt Seiteneinstieg verfolgt. Persönliche Besonderheiten zeigen sich dabei ebenso wie allgemeine und strukturelle Faktoren, die den Erfolg eines Seiteneinsteigers begünstigen oder auch behindern können. Gegliedert ist die Untersuchung in vier Abschnitte, die ausschlaggebend für Schilys Karriere sind: seine Persönlichkeit wird betrachtet, seine vor-politische Karriere, seine Zeit bei den Grünen sowie der Wechsel zur Sozialdemokratie.
Inhaltsübersicht
Vorbemerkung
Persönlichkeit – „elitär in seinem Denken, herablassend in seiner Art, hochfahrend in seinem Anspruch, ein Freigeist, der sich von niemandem einbinden läßt“
Vor dem Seiteneinstieg – „Recht und Politik liegen nahe beieinander, bei Otto Schily gehören beide stets deckungsgleich zusammen.“
Bei den Grünen – „der Außenseiter, der immer Recht hat“
Wechsel zur SPD – „Hier ein großes Ich, dort die Sozialdemokratie“
Abschlussbemerkung
Quellenverzeichnis
Vorbemerkung
„Den Verteidiger neben den Minister zu stellen gibt ein schiefes Bild.“, sagt Otto Schily 2001 im Zeit -Interview (Rückert 2001). Immer wieder wird der ehemalige Innenminister nach seiner Vergangenheit gefragt. Von Medien und Politikern werden seine einstigen mit seinen heutigen Standpunkten verglichen. Schily selbst ist der Ansicht, dass derartige Gegenüberstellungen und daraus resultierende Schlussfolgerungen wenig sinnvoll sind. Im Gespräch erwidert er auf eine Frage nach seiner ideologischen Wandlung: „Man soll die Rolle eines Verteidigers nicht verwechseln mit der Rolle eines Ministers.“ (Rückert 2001)
Schily ist es gewohnt, in Interviews neben aktueller Politik auch seine dreißig Jahre zurückliegende Arbeit als Rechtsanwalt zu diskutieren. Er hat sich damit abgefunden, dass seine Vorgeschichte stärker interessiert als die der meisten seiner Kollegen. Der simpel erscheinende Grund: Schily hat eine nennenswerte Vorgeschichte. Eine Tatsache, die ihn vom Gros der Politiker unterscheidet. Der durchschnittliche Abgeordnete engagiert sich schon seit seiner Jugend in der Parteiarbeit, erklimmt nach und nach höhere Hierarchieebenen und wird später mit einem Ministerposten oder Parteiamt belohnt. Die Ausnahme unter den Berufspolitiker bildet eine Gruppe mit weniger kontinuierlichem Werdegang: Die Seiteneinsteiger. Ohne die typische Ochsentour von ganz unten steigen sie meist ohne Umweg ganz oben ein. Manche werden als fachliche Experten ins Kabinett berufen. Andere ziehen als ewige graue Eminenz im Hintergrund die Fäden.
In der bundesdeutschen Geschichte gibt es nicht wenige Quereinsteiger. Willy Brandts enger Vertrauter Egon Bahr kommt erst nach einer Zeit als Journalist in die Politik. Joschka Fischer, ehemals Taxifahrer, kann bei seiner Vereidigung zum ersten grünen Außenminister nicht einmal das Abitur vorweisen. Die derzeitige Familienministerin Ursula von der Leyen betritt erst nach jahrelanger Arbeit als Kinderärztin politisches Parkett.
Alle Parlamentsparteien greifen von Zeit zu Zeit gerne auf Kräfte außerhalb der eigenen Reihen zurück. „Seiteneinsteiger sind attraktiv, weil sie im besten Fall eine andere Sprache sprechen, eine andere Biografie haben und einen richtigen Beruf. Weil sie, so die Hoffnung, über mehr Eigensinn verfügen als der gewöhnliche Parteisoldat.“ (Krupa 2005) Die gerade genannten Politiker haben ihren Seiteneinstieg offenbar gut gemeistert. Aus unterschiedlichen Gründen sind sie etabliert und erfolgreich. Einige Quereinstiege verlaufen jedoch weniger glatt. So scheitert beispielsweise der medial viel beachtete Versuch, Paul Kirchhof 2005 ins Kabinett der CDU zu holen: Der Steuerexperte bleibt ein Seiteneinsteiger ohne Seiteneinstieg.
Es mag unzählige solcher und ähnlicher Fälle von gescheiterten Politik-Neulingen geben. Vermutlich geraten die meisten von ihnen nicht einmal ins Licht der Öffentlichkeit und bleiben daher unbemerkt. Die Schwierigkeit eines Seiteneinstiegs zeigt sich im politischen Alltag:
Wie viel von alledem [den Vorzügen eines Quereinsteigers, F.S.] lässt sich überhaupt in die Politik übertragen? Wie groß ist die Chance von Seiteneinsteigern, in diesem Milieu wirklich Fuß zu fassen? Und wie lange kann sich jemand den Ruf eines Außenseiters bewahren, ab wann ist er – wie alle anderen – nur noch ‚ein Politiker’? (Krupa 2005)
Das Phänomen Seiteneinsteiger muss also näher betrachtet werden, um Antwort auf diese Fragen zu geben und möglicherweise übergreifende Bedingungen für einen aussichtsreichen Quereinstieg zu finden. Dies soll hier am Beispiel eines Seiteneinstiegs untersucht werden.
Sucht man in der deutschen Politik nach einem erfolgreichen Vertreter dieser Gruppe, fällt der Blick schnell auf Otto Schily. Sein Quereinstieg ist vielen Menschen im Gedächtnis geblieben, denn der studierte Jurist stand bereits zuvor in der Öffentlichkeit. Als er 1998 von Gerhard Schröder ins Kabinett berufen wurde, waren viele überrascht:
Was für eine Biografie ist maßgeschneidert für einen deutschen Innenminister? Jurist sollte er sein, klar. Einen ordentlichen Lebenslauf entlang der Parteilinie vorführen können. – Das hieße nach den gemittelten Maßstäben des Kabinetts Schröder: Mittfünfziger, Ende der 60er zur SPD gekommen, Willy Brandt verehrt, gegen Helmut Schmidt gestänkert, aber gleichzeitig brav auf der Ochsentour und fleißig bei der Oppositionsarbeit. […] Und dann dieser Schily. (Schütz 1999)
Doch obwohl sein Werdegang ihn nicht als prädestiniert für das Amt erscheinen lässt, ist er als Innenminister ohne Frage erfolgreich und durchaus geschätzt.
Unter den zahlreichen Quereinsteigern ist das Beispiel Schily im Rahmen dieser Betrachtung zudem wegen eines weiteren Aspektes besonders interessant: Er ist nicht nur Seiten einsteiger sondern auch Seiten wechsler: Nach neun Jahren bei den Grünen wechselt er zur SPD, wo ihm sein großer Karrieredurchbruch gelingt. Hinzu kommt auch, dass Schily während seiner politischen Karriere einen regelrechten Gesinnungswandel durchmacht.
Im Folgenden wird die Karriere von Otto Schilys mit Fokussierung auf den Aspekt Seiteneinstieg verfolgt. Persönliche Besonderheiten zeigen sich dabei ebenso wie allgemeine und strukturelle Faktoren, die den Erfolg eines Seiteneinsteigers begünstigen oder auch behindern können. Gegliedert ist die Untersuchung in vier Abschnitte, die ausschlaggebend für Schilys Karriere sind: seine Persönlichkeit wird betrachtet, seine vor-politische Karriere, seine Zeit bei den Grünen sowie der Wechsel zur Sozialdemokratie.
Persönlichkeit – „elitär in seinem Denken, herablassend in seiner Art, hochfahrend in seinem Anspruch, ein Freigeist, der sich von niemandem einbinden läßt“.
(O.V., Der Spiegel 45/1989, S.134)
Otto Schily, 1932 geboren, wächst in Bochum in gutbürgerlichem Hause auf. Die Familie des Fabrikdirektors Franz Schily ist wohlhabend, in der SPD bezeichnet man den Genossen Otto später als „ein Kind von Ruhrgebietsadel“ (Krupa 1999: 3)
Franz und seine Frau Elisabeth Schily erziehen die fünf Kinder nach den Grundsätzen der Anthroposophie Rudolf Steiners: Im Mittelpunkt dieser spirituellen Bewegung steht der einzelne Mensch. In der Familie Schily bedeutet das, den Kindern wird Raum gegeben, ihre individuellen Talente und Begabungen zu entdecken und zu vertiefen. Großes Gewicht liegt vor allem auf musikalischer und kultureller Bildung.
Die prägende Wirkung der Lehre Rudolf Steiners zieht sich durch Otto Schilys gesamte Karriere: „Das Anthroposophische ist, neben seinem bürgerlichen Habitus, eine zentrale Linie in seinem Leben.“ (Reinecke 2003: 269) Die Betonung liegt dabei immer auf der besonderen Stellung des Einzelnen. Massenorganisationen und kollektives Denken wirken auf ihn befremdlich. (Reinecke 2003: 50) Dies zeigt sich deutlich daran, wie ungern Schily sich in seinem politischen Leben mit Parteiarbeit und –basis aufhält. (Reinecke 2003: 219; Klingst 2002)
Anthroposophische Erziehung und großbürgerliche Herkunft machen Schily schon früh zum Individualisten, aber auch zum Außenseiter – er nimmt seinen „Stammplatz zwischen den Stühlen“ (Michels 2001:58) ein, wie er es sowohl als Anwalt aus auch als Politiker noch oft tun wird.
Eine fast zwanghaft kritische Distanz zieht sich durch viele Bereiche seines Lebens: Schily ist konfessionslos, und wie sich später in seiner Zeit bei den Grünen und der SPD zeigen wird, hält er wenig davon, die eigenen Ansichten einer Ideologie unterzuordnen. Nichts liegt Schily ferner, als gedankenlos mit dem Strom zu schwimmen. Dazu kommt eine ausgeprägte Skepsis gegenüber anderen: „Schily mißtraut den hundertprozent Überzeugten.“ (Michels 2001: 35)
Die Anthroposophie prägt nicht nur die persönliche, sondern auch die politische Entwicklung Otto Schilys. Es ist unter anderem die frühe Auseinandersetzung mit Rudolf Steiners Theorie von der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, die ihn 1980 zu der Überzeugung bringt, seine politische Heimat bei den Grünen gefunden zu haben. Schily beschäftigt sich schon in den Sechzigern – und damit vor dem Heyday der Umweltbewegung - mit grünen Themen und vertritt seitdem alternative Umwelttheorien. (Reinecke 2003: 72) Dies ist einer der Gründe, wieso Otto Schily sich bei seinem Einstieg in die Politik zunächst den Grünen und nicht etwa der SPD zuwendet.
Seine offenkundige Zugehörigkeit zum gehobenen Bürgertum erweist sich als positiver Faktor in Schilys Karriere. „Der Großbürger Schily kommt 1958 in eine Stadt, die das Großbürgertum im Begriff ist zu räumen. Das ist eine Bedingung für seinen Aufstieg: In Westberlin kann Otto Schily Repräsentant eines Bürgertums werden, das die meisten nur noch aus Romanen kennen.“ (Reinecke 2003: 55) Besonders für die Grünen wird seine Schichtzugehörigkeit von großer Bedeutung sein.
Die Erziehung im Hause Schily gibt den fünf Kindern außer des bürgerlichen Habitus und der anthroposophischen Grundeinstellung noch etwas anderes mit auf den Lebensweg. Die Devise lautet: Du bist zu Höherem berufen! Die nicht zu erschütternde Überzeugung, prädestiniert für Macht, Ansehen und Popularität zu sein, ist ein entscheidender Motor auf Otto Schilys Weg nach oben.
Der Spiegel fasst Schilys Wesen 1989 treffend zusammen: „elitär in seinem Denken, herablassend in seiner Art, hochfahrend in seinem Anspruch, ein Freigeist, der sich von niemandem einbinden läßt“. (O.V., Der Spiegel 45/1989, S.134)
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