Antipädagogik

Die Rolle der Eltern - Freundschaft mit Kindern


Hausarbeit, 2006

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Antipädagogik
2.1 Was ist Erziehung bzw. Pädagogik?
2.2 Was ist Antipädagogik?
2.3 Die Entwicklungsphasen der Antipädagogik
2.4 Theoretischer Hintergrund
2.4.1 Margaret Mead: zivilisationskritische Begründung
2.4.2 Alice Miller: therapeutische Begründung
2.4.3 Der „labeling approach“
2.4.4 Die Bedeutung unmittelbarer Gefühle

3 Die neue Beziehung – Die Freundschaft mit Kindern
3.1 Voraussetzung der neuen Eltern-Kind-Beziehung
3.2 Die neue Lebensphilosophie der Eltern
3.3 Die neue Beziehung – Freundschaft mit Kindern

4 Kritische Auseinandersetzung
4.1 Erkenntnisinteresse
4.2 Gründe für den Erziehungsversuch
4.3 Die Kinderrechtsbewegung
4.4 Das Pädagogische an der Antipädagogik
4.5 Die Dimension der Zeit

5 Zusammenfassung

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Mit dem Erziehen aufzuhören, aus diesem Alptraum aufzuwachen, dieses Spiel ohne Ende von außen zu betrachten und zu beenden, ist deswegen so eine schwierige Aufgabe, weil es in unserem Kulturkreis kaum Menschen gibt, die sich mit den Regeln dieses Spiels nicht anfreunden mussten, die diesen Traum nicht mit dem Leben verwechseln, die nicht felsenfest davon überzeugt sind, es wäre nicht gut, einfach nett zu sein“ (von Braunmühl 1975, S. 20)

Dieses Zitat verdeutlicht wie schwer es ist mit dem Erziehen aufzuhören, wie schwer es ist die Erziehung abzuschaffen, wie es die Forderung der Antipädagogen ist.

In den Medien, welche Sendungen wie die „Super Nanny“ ausstrahlen oder Reportagen über Boot Camps zeigen, in denen aus schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen „bessere Menschen“ werden, wird deutlich, dass „die Vorstellung der Steigerung des Guten durch richtige Erziehung […] bis heute kaum erschüttert ist“ (Thiel 1996, S. 35). Thiel spricht in diesem Zusammenhang von der Pädagogisierung gesellschaftlicher Krisen.[1] Unter Pädagogisierung versteht er die Herauslösung des Erziehungshandelns aus der vormodernen Einbettung in den Lebens- und Arbeitsvollzug und die daraus resultierende zunehmende Verselbständigung (vgl. ebd., S. 39). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Pädagogisierungsprozesse einen ungeheuren Schub erhalten, dem Vertrauen in die pädagogische Verbesserungskompetenz scheinen keine Grenzen gesetzt (vgl. ebd., S. 38). Die Pädagogisierung ist abhängig von den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Interessen und die gesellschaftliche Antwort auf eine gesellschaftliche Krise, welche eine zeitliche Streckung der (politischen) Bearbeitung ermöglicht (vgl. ebd. S. 42). Durch die Pädagogisierung wird eine Krise mittels Erziehung, Bildung und Lernen bearbeitet, mit dem Ziel die Krise durch die Veränderung individueller Dispositionen und individuellen Verhaltens zu bewältigen (vgl. ebd., S. 43).

Als Gegentheorie zur Pädagogik hat sich Ende des 20. Jahrhunderts die Antipädagogik entwickelt, die sich radikal gegen jede Form von Erziehung äußert und als einzige Konsequenz deren Abschaffung fordert. Um diese Strömung der Erziehungskritik soll es in der folgenden Arbeit gehen. Dabei wird zunächst darauf eingegangen, was Antipädagogik ist, wie sich diese Antipädagogik entwickelt hat und auf welchen theoretischen Annahmen die Antipädagogik beruht. Im Anschluss daran wird die neue Eltern-Kind-Beziehung, die „Freundschaft mit Kindern“, vorgestellt, die die praktische Umsetzung der theoretischen Annahmen der Antipädagogik darstellt. Abschließend werden die Aussagen der Antipädagogik unter besonderen Bezug auf Michael Winkler kritisch reflektiert um die Frage zu klären, ob die Theorie der Antipädagogik eine Alternative zur Pädagogik darstellt. 2 Antipädagogik

„In den wenigen kurzen Jahrtausenden jedoch, seit er [der Mensch] von der Lebensweise abgewichen ist, an die ihn die Evolution angepaßt hatte, hat er nicht nur die natürliche Ordnung des gesamten Planeten verwüstet, sondern er hat es auch fertig gebracht, das hochentwickelte sichere Gespür in Mißkredit zu bringen, das sein Verhalten endlose Zeiten hindurch leitete. Viel davon wurde erst kürzlich untergraben, als die letzten Schlupfwinkel unserer instinktiven Fähigkeiten ausgehoben und dem verständnislosen Blick der Wissenschaft preisgegeben wurden. Immer häufiger wird unser angeborenes Gefühl dafür, was am besten für uns ist, durch das Mißtrauen abgeblockt, während der Intellekt, der nie viel über unsere wahren Bedürfnisse wußte, beschließt, was zu tun sei…“ (Kern zit. nach Liedloff 1980)

In der pädagogischen Diskussion seit den siebziger Jahren gab es keine Thesen, Ideen und Konzepte, die die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung mehr herausgefordert und infrage gestellt haben als die Antipädagogik. Die Antipädagogik setzt sich nicht nur mit der damaligen pädagogischen Theorie und Praxis auseinander, sondern fordert deren Aufhebung (vgl. Klemm 1992, S. 7-10).

2 Antipädagogik

2.1 Was ist Erziehung bzw. Pädagogik?

Der Begriff der Antipädagogik existiert nicht ohne Pädagogik, vielmehr ist die Pädagogik Voraussetzung für die Antipädagogik (vgl. Kern 1992, S. 122).

Die Pädagogik gibt es schon so lange wie es schriftliche Überlieferungen gibt, vermutlich gab es auch schon zuvor Institutionen, welche für die „führergerechte Züchtigung“ gesorgt haben (vgl. ebd., S. 122). Ansichten über Erziehung gibt es sehr viele: die antiautoritäre Erziehung, die demokratische Erziehung, die emanzipatorische Erziehung und andere, weshalb es unterschiedliche Definitionen gibt.

In einem philosophischen Wörterbuch der Neuzeit wird Erziehung beispielsweise wie folgt definiert: „Erziehung ist die Einwirkung einzelner Personen oder der Gesellschaft auf einen sich entwickelnden Menschen und Erziehung im engeren Sinne ist die planmäßige Einwirkung von Eltern und Schule auf den Zögling, d.h. auf den unfertigen Menschen, zu dessen Wesen die Ergänzungsbedürftigkeit und –fähigkeit, auch das Ergänzungsvermögen gehören. Zweck der Erziehung ist es, die im Zögling zur Entfaltung drängenden Anlagen zu fördern oder zu hemmen, je nach dem Ziel, das mit der Erziehung erreicht werden soll. Mittel der Erziehung sind […] der Befehl, die Überredung, die Gewöhnung und der Unterricht. Die Erziehung erstreckt sich auf Körper, Seele und Geist. […]“ (ebd. zit. nach Schmidt 1982, S. 168).

Demnach ist Erziehung „immer so etwas wie eine Herrschaftsausübung“, (von Braunmühl 1975 zit. nach Groothoff 1972, S. 196) „impliziert immer ein Gewaltverhältnis von Menschen über Menschen, in der Regel ein Gewaltverhältnis der Erwachsenen bzw. bestimmter Erwachsener über Kinder und Jugendliche“ (ebd. zit. nach Giesecke 1970, S. 68) um deren Dispositionen „mit psychischen oder sozialkulturellen Mitteln in irgendeiner Weise dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten“ (ebd. zit. nach Brezinka in Mollenhauer 1974, S. 23).

Um eine allgemeine Definition zu ermöglichen, hat von Braunmühl versucht allgemeine Charakteristika von Pädagogik zu benennen: dies sind die Erziehungsbedürftigkeit und die pädagogische Einstellung (vgl. ebd., S. 67).

Fundamentaler Grundsatz aller Pädagogik und zugleich deren Legitimationsgrundlage ist die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, „denn der Mensch ist offensichtlich von Natur aus ein erziehungsbedürftiges Wesen, d.h. ein Wesen, dass von seiner Geburt an auf Lernen angewiesen ist, um schon im rein physischen Sinne überleben zu können“ (ebd. zit. nach Giesecke 1970, S. 21).

Die pädagogische Einstellung beinhaltet nach Roth Belehren, Fordern, Eingreifen, Werten, Beurteilen, Benoten (vgl. ebd., S. 86). Deren Folge sind „lernpsychologische Dressurtechniken“, innerhalb derer der Herrschaftsanspruch nicht deutlicher zum Ausdruck kommen kann (vgl. ebd., S. 91, 97).

2.2 Was ist Antipädagogik?

Der antipädagogischen Strömung geht es um die Überwindung von Erziehung, um die Abschaffung jeglichen bewussten oder unbewussten pädagogischen Umgangs mit Kindern, denn Erziehung bedeutet Ungleichheit, Tyrannei und Machtausübung, der sie Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung entgegen setzen.[2] (Klemm 1992, S. 11) Erziehung als „kinderfeindlich“, als „kleinen Mord“, als „Gehirnwäsche“ zu durchschauen, ist die Voraussetzung Erziehung als „überflüssig, kinder-, menschen-, lebensfeindlich, als verbrecherisch zu erkennen“. (von Braunmühl 1975, S. 78-84)

Die Vertreter der Antipädagogik fordern die Aufgabe des Herrschaftsanspruchs, denn auch Kinder haben eine unantastbare Würde und sind von Geburt an zur Selbstbestimmung in der Lage. Kinder werden nicht als erziehungsbedürftig sondern als lernbedürftig angesehen. Zum Lernen bedarf es keiner Erziehung, im Gegenteil: das Lernen wird durch Erziehung eher behindert.

Ziel der Antipädagogen ist es in der Gegenwart zu leben und die Gegenwart nicht der Zukunft zu opfern. Pädagogisches Einwirken ergibt nur einen Sinn, wenn es über den bloßen Augenblick hinausgeht und stellvertretend für das Kind einen günstigen „pädagogischen Weg“ finden kann. Gerade dies stellen die Antipädagogen jedoch in Frage, da es in modernen Gesellschaften keine allgemeinverbindlichen gesellschaftlichen Werte mehr gibt.[3] (Oelkers/Lehmann 1990, S. 10) Nur das Ich ist sicher, es gibt verlässliche Auskunft über Wünsche und Bedürfnisse. (ebd., S. 12)

2.3 Die Entwicklungsphasen der Antipädagogik

Innerhalb der Antipädagogik gibt es eine Vielzahl von Positionen, Überlegungen und Strategien. „Die Einheit der Antipädagogik gründet sich vor allem im „Anti“, daß man gegen die Pädagogik eingestellt ist, sie endlich abgeschafft wissen will.“ Zu einer Systematisierung bietet sich eine Betrachtung der unterschiedlichen Entwicklungsphasen an: die erste Phase ist eine traditionelle Kritik an der Pädagogik mit dem Ziel der Humanisierung von Erziehung, in der zweiten Phase geht es um eine theoretische Auseinandersetzung mit der Erziehung und die Entwicklung der Antipädagogik als Gegentheorie, die dritte Phase bezieht sich auf Überlegungen zur praktischen Umsetzung. Diese letzte Phase „mündet in dem Konzept „Freundschaft mit Kindern“, in welchem eine neue „therapeutische“ Umgangsform zwischen Erwachsenen und Kindern begriffen sein soll.“[4] (Winkler 1983, S. 534)

Die erste Entwicklungsphase der Antipädagogik beginnt mit einem Aufsatz von Heinrich Kuppfer im Jahre 1974, welcher bezugnehmend zu Laing, Goffman und Basaglia sich mit den Erziehungsproblemen in totalen Institutionen auseinandersetzt. Die Kritik bezieht sich dabei allgemein auf die als Disziplinierung verstandene Erziehung. In dieser Phase geht es nicht um die Abschaffung der Erziehung sondern um die Erweiterung des Nachdenkens über pädagogische Prozesse. (ebd., S. 534f.)

Gegen die Verwissenschaftlichung der Erziehung richtet sich die zweite Etappe, denn dadurch werden traditionelle, selbstverständliche und ungeplante Sozialisationsprozesse zerstört und es kommt zur Ausdehnung der Erziehungsgebiete. Kindheit und Jugend werden als Produkt der Pädagogik betrachtet. Zudem ist man der Auffassung, dass der Gedanke der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen die Kluft zwischen Erwachsenen und Kindern vergrößert und zur Stigmatisierung von Kindheit führen. Ekkehard von Braunmühl und Alice Miller[5] mit ihrem tiefenpsychologischen Ansatz haben endgültig die Grundpfeiler für die Gegenposition: Antipädagogik gelegt. (ebd., S. 535f.)

Die letzte Phase ist gekennzeichnet durch zwei Dimensionen. Zum einen der Kinderrechtsbewegung und zum anderen der praktischen Umsetzung der Antipädagogik auf die Eltern-Kind-Beziehung.[6] (ebd., S. 536) Die Kinderrechtsbewegung postuliert die Gleichberechtigung von Kindern und Erwachsenen.[7] Es werden gleiche Rechte wie die sexuelle Freiheit, das Recht zur Selbsterziehung, das Recht auf Wissen, die Wahl seiner Umgebung sowie beispielsweise auf wirtschaftliche Betätigung gefordert. (von Schoenebeck 1982, S. 180)

2.4 Theoretischer Hintergrund

Es lassen sich vier allgemeine Argumentationslinien für die theoretische Begründung der Antipädagogik benennen: die zivilisationskritische Auffassung von Margaret Mead; die ebenfalls zivilisationskritische Auffassung, welche auf die Psychogenese im Zivilisationsprozess abhebt (Rousseau, Miller); die Überlegungen des „labeling approach“ und die weniger argumentative Linie, die die Bedeutung unmittelbarer Gefühle hervorhebt. (Winkler 1983, S. 533f.)

2.4.1 Margaret Mead: zivilisationskritische Begründung

Margaret Mead bezieht sich in ihrer Begründung zur Ablehnung der Erziehung auf die Zivilisation und die Kultur. Sie hat drei verschiedene Kulturformen analysiert: die postfigurative[8], die konfigurative[9] und die präfigurative Kultur. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich aus durch eine präfigurative Kultur, in der die Zukunft „weitgehend unbekannt ist, [so] daß man sie nicht, wie wir es gegenwärtig zu tun versuchen, als einen Wandel auf Generationsbasis mit Konfiguration innerhalb einer stabilen, von den Älteren kontrollierten und nach elterlichem Vorbild geformten Kultur unter Einschluss postfigurativer Elemente behandeln kann.“ (von Braunmühl 1975 zit. nach Mead 1974, S. 80) Das heißt, dass Eltern aufgrund der sozialen und kulturellen Dynamik in modernen Gesellschaften Erziehung nicht mehr auf Erfahrung und den daraus gewonnenen Zukunftsvorstellungen stützen können. Moderne Gesellschaften sind gekennzeichnet von einer Kluft zwischen den Generationen. Die Eltern können keine gültigen Kulturmuster mehr vermitteln, so dass es keine Legitimation für die Erziehung mehr gibt. (Winkler 1983, S. 533) Daraus folgt, dass Zukunft „nur noch werden [kann], wenn die Jungen Eigeninitiative in vollem Umfang entfalten und den Älteren den Weg ins Unbekannte weisen können.“ (von Braunmühl 1975 zit. nach Mead 1974, S. 110)

2.4.2 Alice Miller: therapeutische Begründung

Rousseau und Miller sehen als Ergebnis der Erziehung die Selbstentfremdung, die die Ursache für alles Übel ist.[10]

Alice Miller liefert, in dem sie sich mit der narzisstischen Störung befasst, eine therapeutische Begründung für die Absage an die Erziehung, denn jede Form einer narzisstischen Störung kann auf die Erziehung zurückgeführt werden. (Ruder 1989, S. 584) Sie ist der Auffassung, dass „jeder Mensch durch seine Kindheit wenn schon nicht determiniert, so doch weitgehend geprägt ist, daß neurotische Entwicklungen hier ihre Wurzeln haben“ (ebd. zit. nach Miller 1981, S. 66f.), als Resultat einer realen physischen oder psychischen Machtausübung des Erwachsenen über das Kind. (ebd., S. 580)

Das ureigenste Bedürfnis des Säuglings ist es ihrer Meinung nach sich selbst als Zentrum aller Aktivitäten zu erleben. Das wichtigste Subjekt seiner Umgebung ist seine Mutter, welche narzisstisch besetzt, d.h. als Teil des eigenen Selbst betrachtet wird. Nicht wunschgemäßes Verhalten der Mutter erlebt das Kind als Kränkung und Enttäuschung. Die Folge ist die Abspaltung eines guten und eines bösen Objekts als einzige Möglichkeit sich mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen. (ebd., S. 583)

Haben die Eltern in ihrer Kindheit keine Toleranz und Akzeptanz erfahren, sind sie selbst noch narzisstisch bedürftig. Dies führt dazu, dass die Eltern die Erfüllung ihrer unerfüllt gebliebenen Erwartungen in ihrem Kind suchen. Das bedeutet: die Eltern wünschen sich ein „Wesen, das ganz auf sie eingeht, sie ganz versteht und ernst nimmt, das sie bewundert und ihnen folgt“. (Ruder 1989 zit. nach Miller 1979, S. 22) Hierfür bietet das Kind in seiner Anhängigkeit von den Eltern eine „hervorragende Projektionsfläche“ für die meist unbewussten Wünsche der Eltern und es entwickelt ein Gespür dafür, die Bedürfnisse der Eltern zu befriedigen. Das Resultat ist, dass das Kind ein „falsches Selbst“ entwickelt, „das die eigenen Gefühle tötet, um sich das Selbstobjekt „Mutter“ zu erhalten“. Das Kind ist nicht in der Lage eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. (ebd., S. 584)

Die Notwendigkeit der Erziehung erklärt sich Miller aus dem universalen Wiederholungszwang, dem narzisstischen Bedürfnis der Eltern, welches durch Erziehung entstanden ist. (ebd., S. 585) Erst wenn die Eltern-Kind-Beziehung von der Erziehung befreit ist, wird dieser schlechte Wiederholungszwang durchbrochen, das Kind kann sich optimal entwickeln und ein wahres Selbst ausbilden. (ebd., S. 587)

2.4.3 Der „labeling approach“

Der in der Kriminalsoziologie entwickelte „labeling approach“ stellt die These auf, dass erst durch das pädagogische Denken sein Gegenstandsbereich produziert wird. (Winkler 1983, S. 534) Denn in Stigmatisierungsprozessen werden „einem Individuum anhand eines gesellschaftlich diskredidierten Merkmals negative Eigenschaften zugeschrieben (Etikettierung), über die der Einzelne dann ausschließlich definiert wird. […] In der Folge sind für den Stigmatisierten dann sämtliche Interaktions- und Kommunikationsprozesse von entsprechenden Vorurteilen und Diskriminierungen geprägt. (Reinhold, Pollak & Heim 1999, S. 500) Bezogen auf das pädagogische Denken bedeutet dies, dass durch die Etikettierung des Kindes als „erziehungsbedürftig“ der Gegenstandsbereich der Erziehung hergestellt und fortlaufend reproduziert wird.

[...]


[1] Unter einer Krise versteht Thiel eine Situation, in der auf ein Ereignis nicht problemlösend reagiert wird oder werden kann, verbunden mit dem Gefühl der Ungewissheit gegenüber herkömmlichen Routinen. Eine gesellschaftliche Krise zeichnet sich aus durch eine massenhafte subjektive Erfahrung einer Krise (1996, S. 36).

[2] Antipädagogen richten sich dabei nicht gegen Bildung oder Unterricht, sondern nur gegen Erziehung, „den Anspruch Menschen in ihren Grundstrukturen zu formen“. (von Braunmühl 1975, S. 78)

[3] nähere Informationen hierzu in Kapitel 2.4.1

[4] Kern weist in seinem Aufsatz „Entwicklung einer Antipädagogik“ darauf hin, dass es das Phänomen der Antipädagogik schon viel früher gab als den Begriff der Antipädagogik, welcher von Ekkehard von Braunmühl geprägt wurde. Erste antipädagogische Tendenzen sind zum Beispiel in der philosophischen Schule der Kyniker zu erkennen. (Kern 1992, S. 125) Die Kyniker zeichnen sich aus durch eine naturalistische Haltung, durch eine Orientierung an den Wechselbeziehungen der Dinge. Im Gegensatz zum Platonismus oder der aristotelischen Schule verfolgen sie nicht das Ziel die Natur in Einklang mit Gesetzmäßigkeiten zu bringen, vielmehr wenden sie sich gegen Brauch und Gesetz für ein Leben in Selbstbestimmung, wie es konsequenter nicht vorstellbar ist. Neben der Philosophie hat Sigrist in seiner Arbeit „Regulierte Anarchie“ einen weiteren Beleg für die antipädagogische Einstellung geliefert: am Beispiel afrikanischer Völker hat er gezeigt, dass es bis in die heutige Zeit hinein andere funktionierende Verbände gibt, die ihr Zusammenleben nicht durch Gesetze ordnen, sondern „aus [ihren] natürlichen Wurzeln das Chaos regulieren“. (ebd., S. 126)

[5] Der tiefenpsychologische Ansatz wird in Punkt 2.4.2 genauer dargestellt.

[6] Auf die neue Eltern-Kind-Beziehung die „Freundschaft mit Kindern“ wird im dritten Kapitel eingegangen.

[7] Kern weist darauf hin, dass die Forderung nach mehr / gleichen Rechten für Kinder zu kurz gegriffen ist, denn das Recht als Instrumentarium von Herrschaft und Macht hat die Tendenz sich immer mehr auszuweiten. Mit Hilfe des Rechts wird der Mensch immer mehr aus seiner Eigenverantwortlichkeit entlassen und in „die fürsorglichen Hände des Machthabers gedrängt“. (1992, S. 134)

[8] Die Postfigurative Kultur „bezieht ihre Kontinuität aus den Erwartungen der Alten und dem Umstand, daß diese Erwartungen den Jungen fast unauslöschlich eingeprägt werden.“ (von Braunmühl 1975 zit. nach Mead 1974, S. 27)

[9] Die konfigurative Kultur „ist eine Kultur, in der die Mitglieder der Gesellschaft ihr Verhalten nach dem Vorbild der Zeitgenossen ausrichten.“ (ebd. zit. nach Mead 1974, S. 52)

[10] Auf Rousseau soll in dieser Hausarbeit nur am Rande eingegangen werden, daher soviel dazu: Er betrachtet den Menschen in seinem Naturzustand als moral-, vernunft- und sprachloses Wesen, dass einzig und allein sich selbst genügt. (Ruder 1989, S. 577) Das heißt die Selbsterhaltung und Identität ist von Natur aus gesichert und muss nicht im Laufe eines Entwicklungsprozesses hergestellt werden. Daher gibt es in diesem Naturzustand keine Erziehung und auch keinen Fortschritt. Der „homme naturel“ befindet sich in einem Gleichgewichtszustand zwischen genetischer Konstitution und umweltspezifischen Konditionen, welcher die Fähigkeit, die Rousseau als „perfectibilite“ bezeichnet, verdeckt. Diese Fähigkeit ermöglicht zum einen eine Verbesserung zum anderen aber auch eine Verschlechterung der natürlichen Existenz des Menschen. Zugleich ermöglicht diese „perfectibilite“ Geschichte und Gesellschaft, Entartung wie Fortschritt gleichermaßen. (ebd., S. 577) Das Verlassen des Naturzustandes des Menschen muss von außen bewirkt werden, es ist nicht zurückzuführen auf dessen freie Entscheidung. Verlässt der Mensch seinen Naturzustand wird seine Selbstgenügsamkeit zerstört und er tritt ein in eine „komparative Existenz“, die Rousseau mit Selbstentfremdung gleichsetzt. Die Selbstentfremdung ist für Rousseau die „Wurzel des Bösen“, hierin liegt der Fehler der bürgerlichen Erziehung, die dies nicht erkannt hat. (ebd., S. 578)

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Antipädagogik
Untertitel
Die Rolle der Eltern - Freundschaft mit Kindern
Hochschule
Universität Lüneburg
Veranstaltung
Varianten von Erziehungskritik / Bildungssystem und Erziehung im Nationalsozialismus
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
26
Katalognummer
V81436
ISBN (eBook)
9783638862059
ISBN (Buch)
9783638863582
Dateigröße
490 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Antipädagogik, Varianten, Erziehungskritik, Bildungssystem, Erziehung, Nationalsozialismus
Arbeit zitieren
Franziska Busch (Autor:in), 2006, Antipädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81436

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Titel: Antipädagogik



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