Bei allen Entscheidungsprozessen, selbst bei den unbedeutsamsten, meldet sich eine Stimme in unserem Innern zu Wort, die uns dazu anhält, auf eine ganz bestimmte Weise zu handeln. Selbst bei intuitiven, unbewussten Reaktionen ruft sie uns gewissermaßen retrospektiv die Handlung in unser Bewusstsein zurück, um bewertende Maßstäbe an ihr anzulegen.
Diese Stimme unseres Selbst bezeichnet man gemeinhin als Gewissen. Was ist aber nun dieses Gewissen? Ist es wirklich nur ein persönlicher Moral-Guide, oder versteckt sich hinter seiner Wirklichkeit eine ganz andere Wirklichkeit? Alle reden von Gewissen und keiner scheint so genau zu wissen, was es ist. Zumindest gibt es äußerst vielfältige Anschauungen, die zum einen aus der nicht ganz einfachen Wortgeschichte, zum andern aber auch es den verschiedenen Perspektiven der Wissenschaften resultieren.
Theologische Ethik muss fragen, inwieweit sich das Gewissen als Instrument eines verantwortungsvollen Lebens und Handelns begreifen lässt, und zwar auf dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Gotteserfahrung und Anthropologie. Aus diesen Aspekten und Anfragen ergibt sich ein methodischer Dreischritt für diese Arbeit. Am Anfang richtet sich deshalb eine sprach- und kulturhistorische Betrachtung auf die Semantik des Gewissensbegriffs und seine Verwendung in der Sprache. Nachdem verschiedenste Erklärungsmodelle zur Entstehung des Gewissens kurz dargestellt worden sind, wird der Frage nachgegangen, ob und wie angesichts der vielfältigen Abhängigkeiten und anthropologischen Determinanten ein freies Gewissensurteil und damit autonome moralische Entscheidungskompetenz überhaupt möglich sein kann. Den Abschluss bildet ein Kapitel, dass für die theologische Ethik zentral sein muss, gleichzeitig aber den schwierigsten Zugang zur Thematik eröffnet. Es stellt sich nämlich die Frage, wie man das Phänomen des Gewissens theologisch deuten kann, ohne dabei aber zu sehr die Bodenhaftung zu verlieren, und den Gegenstand zu sehr zu spiritualisieren.
[...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Historische und linguistische Annäherung an den Gewissensbegriff
1. Etymologie und Wortgeschichte
2. Sprachgebrauch
II. Gewissen als anthropologisches Grundphänomen
1. Phänomenologie und Funktionen des Gewissens
2. Erklärungsmodelle zur Entstehung des Gewissens
2.1 Biblisch: der Sündenfall .
2.2 Christlich: Thomas von Aquin, Martin Luther, Johannes Paul II
2.3 Philosophisch: Kant, Nietzsche
2.4 Soziologisch: Spencer, Durkheim
2.5 Psychologisch: Freud, Piaget, Kohlberg .
3. Moralisches Handeln zwischen Determination und Autonomie
III. Theologische Deutung des Gewissens .
1. Der Gott mit dem Mikrofon – Probleme und Gefahren einer banalen Gewissensauffassung
2. Gewissen als Anspruch und Zuspruch Gottes
3. Die Wirklichkeit des Gewissens und die jüdisch-christliche Gottesidee
Schlusswort
Literaturverzeichnis
Einleitung
Bei allen Entscheidungsprozessen, selbst bei den unbedeutsamsten, meldet sich eine Stimme in unserem Innern zu Wort, die uns dazu anhält, auf eine ganz bestimmte Weise zu handeln. Selbst bei intuitiven, unbewussten Reaktionen ruft sie uns gewissermaßen retrospektiv die Handlung in unser Bewusstsein zurück, um bewertende Maßstäbe an ihr anzulegen.
Diese Stimme unseres Selbst bezeichnet man gemeinhin als Gewissen. Was ist aber nun dieses Gewissen? Ist es wirklich nur ein persönlicher Moral-Guide, oder versteckt sich hinter seiner Wirklichkeit eine ganz andere Wirklichkeit?
Alle reden von Gewissen und keiner scheint so genau zu wissen, was es ist. Zumindest gibt es äußerst vielfältige Anschauungen, die zum einen aus der nicht ganz einfachen Wortgeschichte, zum andern aber auch es den verschiedenen Perspektiven der Wissenschaften resultieren.
Theologische Ethik muss fragen, inwieweit sich das Gewissen als Instrument eines verantwortungsvollen Lebens und Handelns begreifen lässt, und zwar auf dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Gotteserfahrung und Anthropologie.
Aus diesen Aspekten und Anfragen ergibt sich ein methodischer Dreischritt für diese Arbeit. Am Anfang richtet sich deshalb eine sprach- und kulturhistorische Betrach-tung auf die Semantik des Gewissensbegriffs und seine Verwendung in der Sprache.
Nachdem verschiedenste Erklärungsmodelle zur Entstehung des Gewissens kurz dargestellt worden sind, wird der Frage nachgegangen, ob und wie angesichts der vielfältigen Abhängigkeiten und anthropologischen Determinanten ein freies Gewis-sensurteil und damit autonome moralische Entscheidungskompetenz überhaupt möglich sein kann.
Den Abschluss bildet ein Kapitel, dass für die theologische Ethik zentral sein muss, gleichzeitig aber den schwierigsten Zugang zur Thematik eröffnet. Es stellt sich nämlich die Frage, wie man das Phänomen des Gewissens theologisch deuten kann, ohne dabei aber zu sehr die Bodenhaftung zu verlieren, und den Gegenstand zu sehr zu spiritualisieren.
I. Historische und linguistische Annäherung an den Gewissensbegriff
1. Etymologie und Wortgeschichte
Das deutsche Lexem Gewissen ist gebildet nach dem Wortbildungsmuster „Ge + Verb/Nomen“. Die beiden wichtigsten semantischen Kategorien, die aus dieser Derivationsprozedur resultieren, sind Kollektiva[1] und Intensiva[2].
Demnach wäre Gewissen synchron zu interpretieren als Gesamtheit an Wissen bzw. Gewusstem, als umfassendes Bewusstsein. Andererseits ist aber auch eine Deutung als „intensiviertes Wissen oder Grundwissen“[3] möglich, was die menschliche Selbst-reflexion auf die eigene Lebensgestaltung bezeichnen soll.
Die diachrone Betrachtung[4] gestaltet sich etwas komplizierter. Als Notker der Deutsche vor fast tausend Jahren das lat. conscientia mit ahd. giwizzani glossierte, hatte der lateinische Begriff schon eine lange Geschichte v. a. in der Rechtssprache hinter sich. Hier bezeichnete conscientia ein nicht reflexives unbewusstes Mitwissen, aber auch die Auswirkungen des Schuldbewusstseins z.B. eines Angeklagten oder eines Zeugen vor Gericht.
Als Martin Luther die Bibel anhand des griechischen Urtextes ins Deutsche übersetzte, wurde eine enge Verbindung des deutschen Begriffs Gewissen mit dem griechischen Wort FL<,4*0F4H hergestellt.[5] Dieses ist zwar mit dem lateinischen conscientia morphologisch identisch, weist aber eine größere Bedeutungsbreite auf. Denn es bezeichnet neben dem nicht-reflexiven Mitwissen auch ein reflexives Wissen, also ein aktives Bewusstsein einer Sache, und darüber hinaus wird es sogar mit einer wertenden Instanz sowie einer anklagenden Stimme im Innern des Menschen identifiziert. So erfuhr auch der griechische Philosoph Plato das Gewissen mehr als etwas, das vom Schlechten abhält, als etwas das zum Guten anhält.[6]
Für die drei Lemmata FL<,4*0F4H, conscientia und Gewissen ergäben sich folgende vier Bedeutungskomplexe[7]:
a.) nicht-reflexiv: Mitwissen
b.) reflexiv: Wissen um etwas
c.) sittliche Instanz
d.) Eigentliches Ich
Inwieweit diese der komplexen Realität gerecht werden, bleibt zu überdenken, denn die Phänomenologie des Gewissens ist durch diese Bedeutungen lange nicht ausge-schöpft, wie sich weiter unten noch zeigen wird.
2. Sprachgebrauch
In dem Maße, in dem der Terminus Gewissen aus der wissenschaftlichen Diskussion immer mehr von Bewusstsein und Über-Ich verdrängt wurde[8], scheint er sich in den letzten Jahrzehnten in der Alltagssprache verbreitet zu haben.
Häufig hört man in der öffentlich-politischen Diskussion wie auch im privaten Bereich fast ein wenig obsolet anmutende Floskeln wie ein gutes oder schlechtes Gewissen haben, sein Gewissen erleichtern, etwas gewissenhaft tun oder gewissenlos sein, um nach einem heftigen Gewissenskonflikt, bei dem man von einem Gewissenswurm gequält wurde, sein Gewissen wieder erleichtern zu können, eventuell durch eine Beichte, aber nur, wenn man vorher eine gewissenhafte Gewissenserforschung betrieben hat. Oft hört man von Gewissensbissen und Gewissensentscheidungen, und das höchste Gut stellt immer noch die Gewissens-freiheit dar, auf welche man sich ja schließlich auch berufen kann, wenn man aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigert.
So viele Probleme und Klärungsbedarf der inflationäre Sprachgebrauch für eine gemeinsame Verständigungsbasis und den wissenschaftlichen Diskurs auch aufwirft, er macht zugleich die Bedeutsamkeit dieser anthropologischen Grundkomponente und –erfahrung deutlich.
II. Gewissen als anthropologisches Grundphänomen
Im folgenden Kapitel soll der Focus anfangs auf der menschlichen Gewissens-erfahrung liegen, bevor die wichtigsten Erklärungsmodelle zur Entstehung des Gewissens angeführt werden. Zum Abschluss wird sich die Frage stellen, wie angesichts der empirisch-materialistischen Grundgegebenheiten menschlicher Exis-tenz überhaupt Gewissensfreiheit im Sinne von autonomer verantwortlicher morali-scher Entscheidungsfähigkeit möglich sein kann.
1. Phänomenologie und Funktionen des Gewissens
Das Gewissen ist eine von Grund auf vorhandene Anlage, ein Potential im Men-schen, unbedingt das als gut Erkannte im Leben zu verwirklichen.[9] Das reicht vom konkreten Handlungsanstoß bis zur Handlungsorientierung an allgemeinen Werten und Maximen.
In diesem konkreten Handlungsanstoß erfährt der Mensch sein Gewissen als eine lebendige Stimme, eine unmittelbare höchst persönliche Anrede[10], die er nicht als eine absolute Instanz wahrnimmt, sondern als ein persönliches Du[11], das ständig sein Selbst reflektiert. Die zeitliche Dimension verliert dabei ihre Bedeutung; das Gewissen kennt keine „[...] Paragraphen, die Verjährung garantieren [...]“.[12]
Es erweist sich als unbestechlich, denn es ist der Wächter der personalen Integrität des Menschen. Es beurteilt mich nach meinem Verhalten, ja nach meinen Einstellungen, und dabei fällt es ein ganzheitliches Urteil, das mich als ganze Person trifft.[13] Dieses Urteil kann mich richten und vernichten, es kann mir das Leben zur Hölle machen, und in letzter Konsequenz bis zur Selbstdestruktion führen. Vor diesem Hintergrund sprach auch Luther von den „terrores conscientiae“.[14]
Das ist nur möglich, weil das Gewissen unbedingten Anspruch erhebt, und nur indem es diesen Absolutheitsanspruch vertritt, kann es auch glaubwürdig die personale Würde des Subjekts vertreten. Wenn ich nicht das Gute tue, also das, was ich als gut erkannt habe, dann handle ich gegen mich selbst, gegen mich als Person. Die Stimme des Gewissens erfährt der Mensch so als Stimme seines Selbst, deren Autorität er nicht zu hinterfragen wagt.[15]
Das Gewissen fungiert aber auch als langfristige, recherchierende Beratungsinstanz.
[...]
[1] Einige Beispiele wären: Gewässer, Gebirge, Gesetz, Gehör.
[2] Beispiele hierzu: Gedanke, Gewitter, Geleit.
[3] EID 1979, S. 89.
[4] vgl. MAURER/LAUBACH, S. 245f.
[5] Damit rückte das Wort Gewissen endgültig in die ethisch-religiöse Begriffssprache ein.
[6] vgl. STELZENBERGER, S. 60.
[7] MAURER/LAUBACH, S. 246.
[8] vgl. BRAUN, S. 47.
[9] vgl. SCHERER, S. 118f. Mit Scherer könnte man hier von „Urgewissen“ reden.
[10] vgl. KETTLING, S. 17.
[11] dto.
[12] ders., S. 19f.
[13] vgl. ders., S. 19.21.
[14] vgl. ders., S. 21f.
[15] vgl. ders., S. 18.
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