Kunst verändert Wirklichkeit

Die sozialkritische Fotografie von Jacob August Riis und Lewis Wickes Hine


Hausarbeit, 2007

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Kunst verändert Wirklichkeit – die sozialkritische Fotografie von Jacob August Riis und Lewis Wickes Hine
2.1. Überblick über Jacob A. Riis’ Werdegang und Wirken
2.2. How the Other Half Lives
2.3. Riis als Inspiration und Vorbild: Das Beispiel Lewis Wickes Hine
2.4. Erfolge der frühen sozialkritischen Dokumentarfotografie

3. Zusammenfassung

4. Bibliography

5. Anhang

„Ich will die Dinge zeigen,

welche man unbedingt verbessern muß;

ich will aber auch die Dinge zeigen,

welche schätzenswert sind.“

(Lewis W. Hine)

1. Einleitung

In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts begeisterte eine neue Erfindung den Menschen: Daguerreotypie, benannt nach dessen Erfinder Louis Jacques Mandé Daguerre (Doty 1982: 10). Eine mit Silber beschichtete Kupferplatte, durch gasförmiges Jod sensibilisiert für Licht, erzeugte nach deren Belichtung und anschließender chemischer Behandlung ein realistisch erscheinendes Abbild des Abgelichteten (ibid). Durch das Einsetzen in eine Camera Obscura konnte diese Platte kontrolliert dem Licht ausgesetzt werden – der Grundstein der Fotografie war gelegt (ibid). Zum ersten Mal ermöglichte ein Medium, die objektive, visuelle Wirklichkeit unmittelbar darzustellen (ibid). Die wichtigste Medienrevolution seit dem Übergang von mündlicher zu schriftlicher Überlieferung war eingeleitet. Fotografie galt fortan als das authentischste Zeugnis von Existenz und Realität und besaß nicht hinterfragte Autorität (ibid: 11-12).

Bis zum Ende des Jahrhunderts verbesserten sich die mechanischen und chemischen Techniken des Fotografierens. Die Entwicklungen von Trockenplatte, Rollfilm und Handkamera ermöglichten Mobilität und eine finanzielle Zugänglichkeit für Amateure (ibid: 12-13). Während viele Nutzer die Kamera verwendeten, um Erinnerungen an Familienmomente zu sichern, entdeckten Experimentierfreudigere die Möglichkeit, Ideen, Konzepte und Weltanschauungen zu visualisieren – unter ihnen der Däne Jacob August Riis (ibid:13). Er gilt als einer der bedeutendsten Dokumentaristen sozialer Missstände (Doherty 1974: 9). Der Engländer John Thomson, der in Street Life in London (1877) schriftlich als auch erstmals fotografisch über das Alltagsleben der englischen Arbeiterklasse informierte, gilt als Begründer der sozialkritischen Dokumentarfotografie (Doherty 1974: 9; Doty 1982: 13). Riis nutzte die Kamera als Instrument für soziales Engagement ebenso, jedoch mit gezielterem Einsatz und mit größerem Erfolg und brachte somit die Sozialdokumentation zu ihrem Höhepunkt (Doherty 1974: 9; Doty 1982: 13). Wie der Däne erkannte, waren Lichtbilder eine stärkere Waffe für die überzeugende Verbreitung von Meinungen, als das geschriebene oder gesprochene Wort (Doty 1982: 13). Um die elenden Zustände seiner eigenen Lebenswirklichkeit der Öffentlichkeit bewusst zu machen, schuf der Riis zwischen 1887 und 1892, während des amerikanischen „Gilded Age“, eine Fotoserie über den Slum in New York (ibid). Diese nutzte er als Illustration für seine sozialdokumentarischen Vorträge und Bücher, hiervon besonders sein Werk How the Half Lives[1] (‚Wie die andere Hälfte lebt’, 1890) zu erwähnen.

Viele folgten Riis’ Beispiel, wie der Amerikaner Lewis Wickes Hine, der sich besonders auf die Kritik der ökonomischen Ausbeutung von Kindern spezialisierte. Allerdings, im Gegensatz zu Riis, erschien ihm neben einer Botschaft an die Gesellschaft auch die Ästhetik seines fotografischen Schaffens wichtig (Doty 1982: 13). Mit ihren informierenden Aufnahmen reihen sich Riis und Hine ein in eine Tradition von Dokumentarfotografen. Hierzu zählen Roger Fenton, der als einer der ersten Kriegsberichterstatter über den Krimkrieg berichtete, und Mathew B. Brady als auch Timothy H. O'Sullivan, die die harte Realität des amerikanischen Bürgerkrieges aufzeigten.

Das Besondere an den Bemühungen von Jacob Riis und Lewis Hine ist jedoch, dass ihre Werke die Lebensbedingungen ihrer Motive positiv veränderten. Dieses war möglich, weil es den beiden Sozialaktivisten durch ihre Werke gelang, die öffentliche Gleichgültigkeit in ein Bewusstsein für gesellschaftliche Verantwortung zu verändern. Die Fotografien dieser Engagierten sind damit ein Beweis, dass Kunst die Wirklichkeit beeinflussen kann. Im Folgenden möchte ich erläutern, welche doch unterschiedlichen Schwerpunkte Riis und Hine bei ihren Arbeiten verfolgten und welchen konkreten Erfolg sie damit erzielten.

2. Kunst verändert Wirklichkeit – die sozialkritische Fotografie von Jacob August Riis und Lewis Wickes Hine

2.1. Überblick über Jacob A. Riis’ Werdegang und Wirken

Erfüllt von romantischer Hoffnung auf ein besseres Leben, jedoch auch geleitet von Fehlinformationen über das Leben in Amerika, erreicht der 21jährige Däne Jacob August Riis im Jahr 1870 nach langer Überfahrt sein Ziel: die Einwanderungsstelle „Castle Garden“ im New Yorker Stadtteil Lower Manhattan (Riis 1904: 35-36; Riis 1957: viii; Hassner 1971: 1). In den Einwandererslum auf Lower Manhattan erlebt der gelernte Tischlermeister aus Ribe, geboren am 3. Mai 1849 als Sohn eines gymnasialen Oberlehrers, als mittelloser Emigrant jene Wirklichkeit, welche in den in Europa verbreiteten Erzählungen und Gerüchten über das „gelobte Land“ keine Erwähnung findet (Hassner 1971: 1). Die Einwanderer aus der vom Pauperismus entkräfteten „alten Welt“ sind zahlreich – Mietskasernen sind dementsprechend übervölkert und Hinterhöfe verbaut mit provisorischen Holzbaracken und Buden (Fischer 1982; Hassner 1971: 1). Dennoch sind Tausende von Menschen ohne Obdach – die ersehnte Verbesserung der Lebensqualität für sie nach wie vor eine Illusion (Fischer 1982; Hassner 1971: 1).

Riis verbrachte selbst einige Zeit in den primitiven, teils unterirdischen und überteuerten Asylen (ibid). In den ersten Jahren nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten, verdiente der anfangs an der Armutsgrenze lebende Däne seinen Unterhalt unter anderem als Tischler, Eisenbahnbauer, Pelzjäger und fahrender Händler (ibid: 2; Riis 1957: viii). Schließlich allerdings orientierte er sich zum Journalismus (Hassner 1971: 2). Nach kurzen Anstellungen in einem Nachrichtenbüro und einer kleinen Lokalzeitung, bekam Riis 1878 einen Posten bei der New York Tribune – mit Zuständigkeit für Kriminalberichterstattung in einem Büro in der Mulberry Street (ibid). Er beschränkte sich in der Folgezeit indes nicht auf Reportagen über Verbrechen und Strafen (ibid). Getrieben von seinen Erfahrungen als mittelloser Emigrant, widmete er seine Arbeit zunehmend der Kommunalpolitik und der Sozialarbeit, griff in seinen Artikeln handlungsunwillige sowie korrupte Politiker und Beamte an (ibid). Der Kriminalreporter war überzeugt, dass der Slum die Ursache für Verbrechen sei und belegte eigene Reformvorschläge mit Fällen aus Polizeiberichten (ibid:2; Riis 1957: 186). Riis verglich das Umkommen von Menschen in gesundheitsschädlichen Wohnungen mit deren Tötung durch Dynamit – beides seiner Ansicht nach kriminell (Hassner 1971: 2). Die Dramatik der zu jener Zeit herrschenden Situation wird deutlich anhand von Riis’ Erläuterungen. So wies er darauf hin, dass mehr als 300 unterirdische Herbergen bei einer Kontrolle der Wohnungsverhältnisse in den Vierteln der Lower East Side gefunden wurden und in den Mietkasernen nahe der Mulberry Bend mehr Mieter wohnten als es behördlich weder geplant noch gestattet war (ibid). Stellenweise hausten dort mehrere Familien nur durch Tücher voneinander abgegrenzt auf weniger als 20m3 – ohne Licht, ohne Belüftung oder Heizung, dafür gemeinsam mit ihren Haustieren (ibid). Als Urheber jenes Pauperismus machte Riis öffentliche Lethargie und sowohl gierige Landbesitzer als auch „Sweatshop“[2] -Besitzer verantwortlich, jene, die den Slum geschaffen hatten und aus ihm profitierten (ibid; Gandal 1997: 62). Die Obdachlosen und Armen New Yorks waren für den fortschrittlich denkenden Sozialaktivisten, insofern sie der christlichen Moral folgten und arbeitswillig waren, Opfer der Gesellschaft. Sie waren nicht die bösartigen, auf Faulheit begründeten Gestalter ihrer eigenen Existenzen, wie bereits seit der frühen Neuzeit die verbreitete Ansicht über Mittellose gewesen ist (Fischer 1982: 33). „[The tough is] weak rather than vicious.“ (Riis, wie zitiert in Gandal 1997: 71) „After all, he [the tough] is not so very different from the rest of us.“ (Riis, wie zitiert in Gandal 1997: 71) Riis glaubte daran, dass Unterstützung den Bedürftigen helfen könne, sie aus ihrem Elend zu befreien, was in der Schlussfolgerung zu einer Verminderung der Kriminalität führen würde (Riis 1957: 3-4, 184).

Ende der 80er Jahre wechselte Riis zu einer lukrativeren Anstellung bei der New York Su n und schrieb zudem als freier Mitarbeiter für die Evening Sun (Hassner 1971: 2). 1890 erschien sein erstes sozialkritisches Buch über die Zustände in den Slum How the Other Half Lives, an dem er neben der Zeitungsjournalistik gearbeitet hatte (ibid). Zu jener Zeit erkannte Riis, dass die Fotografie, deren mobiler Gebrauch sich seit den Tagen von Roger Fenton und Matthew Brady entschieden verbessert hatte, als glaubwürdiges und aussagekräftiges Beweismaterial genutzt werden konnte. Während viele Fotografen damals bemüht waren, die Portraitmalerei des 18./19. Jahrhunderts oder Landschaftsmalerei zu imitieren und die künstlerische Verwendung der Fotografie zu erforschen, nutzte Riis die Kamera als reines Werkzeug für sein soziales Engagement (ibid:3). „Ich hatte Nutzen von der Fotografie; mehr bedeutete sie mir nie“, liest sich in seiner Selbstbiografie The Making of an American (Riis, wie zitiert in Hassner 1971: 3; Riis 1904: 264-266). Dennoch spiegeln Riis’ Ablichtungen sein spontan ästhetisches Empfinden wieder (Doherty 1974: 13). Die Entwicklung eines neuen Blitzlichtpulvers ermöglichte dem Dänen, den Fotoapparat auch an lichtfernen Plätzen und bei Nacht zu gebrauchen – unentbehrlich, um die den Wohlständigen unbekannte Zustände in den finsteren Keller- und Hinterhofherbergen zu dokumentieren (Hassner 1971: 3; Riis 1904: 267-268). Der Journalist begann, mit Hilfe von Amateurfotografen in der Lower East Side Momentaufnahmen von den dortigen Verhältnissen zu sammeln – kein risikofreies Vorhaben, denn die Mittellosen und Lasterbehafteten empfanden seine Tätigkeit als ungebetenes Eindringen in ihre Privatsphäre (Doherty 1974: 12; Hassner 1971: 3; Riis 1904: 268). Da sich jedoch sowohl Amateur- als auch Berufsfotografen für ihn zunehmend als unzuverlässig erwiesen, griff der Journalist selbst zum fotografischen Apparat (Hassner 1971: 3; Riis 1904: 268-270).

Seine sozialkritischen Fotografien veröffentlichte Riis erstmals 1888 als Illustrationen zu eigenen Vorträgen über die Armenviertel New Yorks (Hassner 1971: 3-4). Die Nutzung der Fotografie als visuelle Informationsverbreitung war am ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr revolutionär – die strategische Zusammenführung von Kameraarbeit und geschriebenem Wort im Kampf gegen soziale Missstände machten den Dänen jedoch zum sozialdokumentarischen Pionier (ibid: 4). Fotos oder Holzstiche selbiger veranschaulichten fortan Riis’ Bücher und Artikel (ibid). So informierte er durch eine Lichtbildserie die Akademie der Wissenschaft über Typhusherde in Mietskasernen (ibid). Weiterhin dokumentierte er Kinderarbeit, deckte Lebensmittelschwindel sowie hygienische Unzulänglichkeiten in Fabriken auf und wies auf in Trinkwasser mündende Abwasserreservoirs hin (ibid). Seine fotografischen Dokumente, demonstriert auf Reisen innerhalb der Vereinigten Staaten, gewannen zudem an Aussagekraft durch deren Projektion mittels der Laterna Magica (ibid). Beträchtliche Spendengelder konnte Riis auf diese Weise erwirtschaften (ibid). In der Folge inspirierte das Wirken des Dänen viele Fotografen, die ähnliche Motive publizierten, woraufhin sich dessen eigene Kameraarbeit verringerte (ibid). Jacob August Riis starb am 26. Mai 1914 in seinem Landhaus in Barre, Massachussets (ibid: 6).

2.2. How the Other Half Lives

In seinem ersten Buch beschreibt Jacob Riis nicht nur die Lebensumstände in den New Yorker Slum, sondern auch die extremen Arbeitsbedingungen in den dortigen Sweatshops und das Ausmaß der Kinderarbeit. Um die Mittel- und Oberschicht über die Situationen der Hilfsbedürftigen aufzuklären, integrierte er in sein Werk neben Grafiken, Statistiken und auf Aufnahmen basierenden Zeichnungen (43 an der Zahl) auch 15 Fotografien von den Slum. Alexander Alland führt an, dass How the Other Half Lives: Studies Among the Tenements of New York für die Fotografie einen Meilenstein darstelle: „…the first account of social conditions to be documented with action pictures” (Alland, zitiert in Gandal 1997: 64, 174) – ‚die erste Beschreibung von sozialen Umständen, die bezeugt wurde durch Momentaufnahmen’. Bis in die 1880er veröffentlichten Zeitungen keine Fotos, und auch anschließend verwendete die Presse bis zur Veröffentlichung von Riis’ Buch Aufnahmen nur unregelmäßig (ibid). Die Ursachen dieses Phänomens waren zum einen technische Komplikationen beim Druck von Lichtbildern, zum anderen die journalistische Voreingenommenheit des 19. Jahrhunderts, dass Fotografien Verschwendung von Platz seien (ibid). Jacob Riis belehrte eines Besseren.

[...]


[1] Die Harvard-Universität bietet im Internet (http://ocp.hul.harvard.edu/immigration/people_riis.html) einen freien Zugang zu Riis’ Büchern – vollkommen digitalisiert.

Weiterhin ist auf der Homepage der Yale-Universität (http://www.cis.yale.edu/amstud/inforev/

riis/title.html) eine ebenso kostenlose Hypertext-Edition von How the Other Half Lives zu finden. (Stand: April 2007)

[2] Als Sweatshops werden Fabriken bzw. Manufakturen bezeichnet, in denen Menschen zu extremen Niedriglöhnen Konsumgüter wie Bekleidung oder Spielzeug anfertigen (Hassener 1971: 5).

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Kunst verändert Wirklichkeit
Untertitel
Die sozialkritische Fotografie von Jacob August Riis und Lewis Wickes Hine
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Englisches Institut)
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
18
Katalognummer
V83251
ISBN (eBook)
9783638899093
Dateigröße
2710 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Als "exzellent" befunden
Schlagworte
Kunst, Wirklichkeit
Arbeit zitieren
Gunnar Linning (Autor:in), 2007, Kunst verändert Wirklichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/83251

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