Nach einschneidenden Geschichtsdebatten in den 80er und 90er Jahren, die insbesondere auf den Holocaust rekurrierten, scheint sich seit Anfang des neuen Jahrtausends der Fokus der Erinnerung weg von den Deutschen als Täter, hin zu den Deutschen als Opfer zu verschieben. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat diese Entwicklung als "eine neue Welle" bezeichnet, die "mit Günter Grass und seiner Novelle über den Untergang der ‚Wilhelm Gustloff’" begonnen habe; die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann beschreibt den gegenwärtigen, öffentlichen Umgang mit der deutschen Geschichte als "Umcodierung der deutschen Erinnerungskultur – hin zur Thematisierung des eigenen Leids". Diese Ausgangsbeobachtungen werfen die Frage auf, welche qualitativen Veränderungen der deutschen Erinnerungskultur sich nachzeichnen lassen und welche spezifische Rolle Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang als literarischem Beitrag im öffentlichen Diskurs um die deutsche Vergangenheit zugewiesen werden kann.
These dieser Arbeit ist es, dass in Günter Grass’ Novelle neben ihrem eigentlichen historischen Gegenstand des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ tatsächlich diverse gedächtnistheoretische, geschichtspolitische und medientheoretische Reflexionen angelegt sind, die die Novelle im Zusammenspiel mit den diskursiven Rezeptionsmechanismen der modernen Massenmedien zu einem Katalysator für die Revitalisierung eines deutschen "Opfergedächtnisses" innerhalb der größeren Dynamiken der deutschen Erinnerungskultur gemacht haben. Die Novelle Im Krebsgang kann demnach sowohl als ein Indikator, aber auch als ein Faktor der deutschen Erinnerungskultur interpretiert werden.
Daher gilt es, die Novelle auf Prozesse der intergenerationellen Geschichts- und Gedächtnisvermittlung, die geschichtspolitischen und ereignisgeschichtlichen Umbrüche sowie den medientechnologischen Wandel hin zu analysieren und darüber hinaus den Diskurs um die Novelle und die anschließenden Publikationen in die größeren Transformationsprozesse der deutschen Erinnerungskultur einzuordnen. Vor diesem Hintergrund kann letztlich das Problemfeld angedeutet werden, inwiefern die Literatur und die Geschichtswissenschaft sich als widerstreitende Instanzen im Kampf um das kulturelle Gedächtnis gegenseitig reglementieren und ergänzen, während sie sich beide der Gefahr gegenüber sehen, dass sich die „Kriege der Erinnerung“ in einem unübersichtlichen Meer von unkritisch privatisierten und fiktionalisierten Geschichtsbildern auflösen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Bundesrepublikanische Erinnerungskultur und Geschichtsdebatten seit 1945
a. „Erinnerungskultur“ und „kulturelles Gedächtnis“
i. Nietzsche, Halbwachs, Freud – Drei Gedächtniskonzepte
ii. Jan Assmann: Das „kulturelle Gedächtnis“
b. Im „Tätergedächtnis“ der deutschen Erinnerungskultur
i. Die „Unfähigkeit zu trauern“ nach 1945
ii. Kritik der 60er Jahre
iii. Eine Frage der Erinnerung – die 80er und 90er Jahre
II. Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang als diskursiver Beitrag zu einem „Deutschen Opfergedächtnis“
a. Im Krebsgang als Indikator
i. Geschichte und Gedächtnis – Drei Generationen
ii. Geschichte und Politik – „Drittes Reich“, DDR und Bundesrepublik
iii. Geschichte und (Neue) Medien – Orale und totale Medien
b. Im Krebsgang als Faktor
i. „Befreiender Tabubruch“ – Rezeption und Zirkulation der Novelle Im Krebsgang
ii. „Das Thema war lange reif“ – Der Wiederbelebung des Diskurses um „Die Deutschen als Opfer“
III. Kampf um das Kulturelle Gedächtnis
A. „Warum erst jetzt?“ – Deutsche Erinnerungskultur im Umbruch
i. Historische Transformationsprozesse im weltpolitischen Kontext
ii. „Mediatisierung des Gedächtnisses“ – die Stunde der Zeitzeugen
B. Geschichtswissenschaft und Literatur – Fakten und Fiktionen des kollektiven Gedächtnisses
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Damit wir endlich wissen, wie sich unsere Großeltern wirklich gefühlt haben“.[1] Mit diesen Worten wurde im Frühjahr dieses Jahres im ZDF der Fernsehfilm Dresden angekündigt, der als eine Mischung aus fiktiver Liebesgeschichte und Originalaufnahmen von der Bombardierung Dresdens an zwei Abenden Anfang März von jeweils über elf Millionen Zuschauern (über 31 Prozent Marktanteil) gesehen wurde.[2] Auffallend war dieses Fernsehereignis nicht nur, weil es Wer wird Millionär, die Quotengröße des deutschen Fernsehens, in direkter Konkurrenz bei RTL weit hinter sich ließ (nur 6 Millionen Zuschauer). Bemerkenswert ist auch der Anspruch des Films, mit fiktionalem und dokumentarischem Filmmaterial die echten Erlebnisse der Bombardierung Dresdens wiedergeben zu wollen. Gleichzeitig vermitteln die hohen Zuschauerzahlen einen Eindruck des gegenwärtigen gesellschaftlichen Interesses an Ereignissen, die mehr als 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus zurückliegen. Der Film Dresden stellt einen vorläufigen Höhepunkt jener Entwicklung im öffentlichen Umgang mit der deutschen Geschichte dar, die die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bereits 2005 als „Umcodierung der deutschen Erinnerungskultur – hin zur Thematisierung des eigenen Leids“[3] bezeichnet hat und die es in dieser Arbeit zu untersuchen gilt.
Nach einschneidenden Geschichtsdebatten in den 80er und 90er Jahren[4], die insbesondere auf den Holocaust rekurrierten, scheint sich seit Anfang des neuen Jahrtausends der Fokus der Erinnerung weg von den Deutschen als Täter, hin zu den Deutschen als Opfer zu verschieben. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat dies als „eine neue Welle“ bezeichnet, die „mit Günter Grass und seiner Novelle über den Untergang der Wilhelm Gustloff“ begann.[5] Weitere Publikationen wie die Spiegel-Serie zu Vertreibungen und Jörg Friedrichs Der Brand oder Bücher über Vergewaltigungen deutscher Frauen bei Kriegsende wie Eine Frau in Berlin trugen dazu bei,[6] dass Historiker, so Wehler, ihre „enorme Scheu, sich dem Thema anzunehmen“, überwanden.[7]
Die beiden Ausgangsbeobachtungen von Aleida Assmann und Hans-Ulrich Wehler bereiten dieser Arbeit das Untersuchungsfeld, auf dem die Frage zu klären sein wird, welche qualitativen Veränderungen der deutschen Erinnerungskultur sich nachzeichnen lassen und welche spezifische Rolle Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang als literarischem Beitrag im öffentlichen Diskurs um die deutsche Vergangenheit zugewiesen werden kann. Dabei geht es nicht um Günter Grass’ Intention und Motivation, sondern um eine Analyse des Textes und dessen Einordnung in den Erinnerungsdiskurs.[8] Die These dieser Arbeit ist es, dass in Günter Grass’ Novelle neben ihrem eigentlichen historischen Gegenstand des Untergangs der Wilhelm Gustloff tatsächlich diverse gedächtnistheoretische, geschichtspolitische und medientheoretische Reflexionen angelegt sind, die die Novelle im Zusammenspiel mit den diskursiven Rezeptionsmechanismen der modernen Massenmedien zu einem Katalysator für die Revitalisierung eines deutschen „Opfergedächtnis[ses]“[9] innerhalb der größeren Dynamiken der deutschen Erinnerungskultur gemacht haben. Die Novelle Im Krebsgang kann demnach sowohl als ein Indikator, aber auch als ein Faktor der deutschen Erinnerungskultur interpretiert werden.[10]
In Kapitel I dieser Arbeit wird die begriffliche, aber auch historische Basis gelegt, auf der Günter Grass’ Novelle analysiert bzw. in den historischen Kontext eingeordnet werden kann. Somit wird in Kapitel I.A ein Spektrum von so unterschiedlichen „Gedächtnistheoretikern“ wie Friedrich Nietzsche, Maurice Halbwachs und Sigmund Freud skizziert, um zu verdeutlichen, vor welchem Hintergrund die moderne Kulturwissenschaft und insbesondere Jan und Aleida Assmann Begriffe wie „kulturelles Gedächtnis“ und „Erinnerungskultur“ entwickelt haben. In Kapitel I.B werden in groben Phasen die bestimmenden Ereignisse der bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurse und der prägenden Geschichtsdebatten nachgezeichnet. Die gedächtnistheoretischen Begriffe wie „kommunikatives Gedächtnis“ und „kulturelles Gedächtnis“ sensibilisieren für die unterschiedlichen kollektiven Erinnerungsformen, die andeuten, auf welchen Ebenen und von welchen Akteuren und Institutionen der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bestimmt wurde.[11] Für die Bundesrepublik lässt sich ein langsamer Prozess der Institutionalisierung des Gedenkens an den Holocaust identifizieren, dessen kulturelle Ausprägung Aleida Assmann als das „Tätergedächtnis“[12] der deutschen Erinnerungskultur gefasst hat und von dem sich Günter Grass und der „neue Opferdiskurs“[13] abgrenzen lässt.
In Kapitel II wird die Novelle Im Krebsgang als ein markantes Beispiel einer literarischen Vergangenheitsauseinandersetzung begriffen, indem sie aus diskursanalytischer bzw. kulturwissenschaftlicher Perspektive auf der Mikroebene des Textes als „Indikator“ und auf der Makroebene der diskursiven Auseinandersetzung um das kollektive Gedächtnis als „Faktor“ der deutschen Erinnerungskultur interpretiert wird.[14] In Kapitel II.A werden die in der Novelle angelegten Probleme der deutschen Erinnerungsgeschichte in einer genauen Textanalyse auf folgende Themenfelder untersucht: Die Zusammenhänge von Generationengedächtnissen und Geschichtsbildern, die Wirkungen von geschichtspolitischen offiziellen Memorationsformen und die medialen Einflüsse auf die gesellschaftlichen Vergangenheitsrepräsentationen. Dabei fungieren die drei Hauptfiguren der Novelle Tulla, Paul und Konrad als behelfsmäßige Kategorien, die die drei Themenfelder jeweils strukturieren.[15] Der Text kann so vor der Folie dreier Komplexe der deutschen Erinnerungsgeschichte gelesen werden, die verdeutlichen, wie problematisch die Zusammenführung von persönlicher Erfahrung der Ereignisse und dem institutionalisierten Gedenken derselben ist, wenn verschiedene Generationen bzw. Gesellschaften unterschiedliche Bezüge zu den Ereignissen halten und neue Medien einen stetig stärkeren Einfluss auf die Kohärenz bzw. Pluralität der Geschichtsbilder haben. Die vielschichtige Erzähltechnik der Novelle erlaubt es dabei auf mehreren Erzählebenen mit fiktiven Figuren und realen Personen zu spielen, die auf eine Realität jenseits der Novelle Bezug nehmen. Dadurch kann (Kapitel II.B) das durch mediale Multiplikatoren weit verbreitete Buch selbst innerhalb des öffentlichen Diskurses als ein mächtiges Gedächtnis interpretiert werden, welches das kollektive Geschichtsbild und damit den bundesdeutschen Vergangenheitsdiskurs mitbestimmt. Der Inhalt und der Verlauf der Auseinandersetzung um die Novelle Im Krebsgang erlauben Rückschlüsse auf den Stellenwert von „Flucht und Vertreibung“ in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, die die Formulierung eines „Deutschen Opfergedächtnisses“ rechtfertigen.
In Kapitel III gilt es, den Diskurs um die Novelle und die anschließenden Publikationen in die größeren Transformationsprozesse der deutschen Erinnerungskultur einzuordnen. Insbesondere bestimmte zeithistorische Ereignisse (wie der Kosovo-Krieg), der europäische Einigungsprozess oder die weltweite Durchsetzung der Katastrophen-Chiffre „Auschwitz“ haben die Eckpunkte der deutschen Erinnerungslandschaft mit verschoben, innerhalb derer ehemals tabuisierte Perspektiven auf die Vergangenheit erlaubt zu sein scheinen. Darüber hinaus hat ein schlichter Zeiteffekt – die letzten Zeitzeugen sterben – die Notwendigkeit einer Überführung der Erinnerung in dauerhafte Formen der Vergangenheitsrepräsentation und eine enorme Reflexivität der deutschen Erinnerungskultur bewirkt. Vor diesem Hintergrund kann letztlich das Problemfeld angedeutet werden, inwiefern die Literatur und die Geschichtswissenschaft sich als widerstreitende Instanzen im Kampf um das kulturelle Gedächtnis gegenseitig reglementieren und ergänzen, während sie sich beide der Gefahr gegenüber sehen, dass sich die „Kriege der Erinnerung“ in einem unübersichtlichen Meer von unkritisch privatisierten und fiktionalisierten Geschichtsbildern auflösen.
I. Bundesrepublikanische Erinnerungskultur und Geschichtsdebatten seit 1945
a. „Erinnerungskultur“ und „kulturelles Gedächtnis“
Die Begriffe „Erinnerungskultur“ und „Kulturelles Gedächtnis“, die dieser Arbeit als analytisches Instrumentarium dienen und hier vorgestellt werden sollen, sind in den 90er Jahren nachhaltig von Jan und Aleida Assmann geprägt worden.[16] Beide Begriffe sind zentrale Kategorien einer interdisziplinären Kulturwissenschaft, die seit Anfang der 80er Jahre (in Deutschland später) unter dem Sigle des „cultural turn“ firmiert.[17] Dabei stehen die Assmanns explizit in einer geistesgeschichtlichen Kontinuität, die die soziale Konstruktivität von Realität, Kultur und insbesondere des Gedächtnisses betont. All diesen Gedächtniskonzeptionen ist gemeinsam, dass sie den Erinnerungsvorgang nicht im Sinne einer individuellen Gedächtniskunst der „ars memoriae“[18] beschreiben, sondern das Gedächtnis als soziales Phänomen begreifen.
i. Nietzsche, Halbwachs, Freud – Drei Gedächtniskonzepte
Vordererst ist Friedrich Nietzsche zu nennen, der nicht nur mit seiner Kritik an der Sprache als „Meer von Metaphern“[19] die postulierte „adequatio rei“ der Zeichen und eine unmittelbare Objektivität in Frage gestellt, sondern auch in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral auf den Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Soziabilität hingewiesen hat. Für Nietzsche ist die Genealogie der Moral eine zeitgleiche Genealogie des Gedächtnisses innerhalb des Prozesses der Züchtigung des Menschen. Der Mensch, „dieses notwendig vergessliche Tier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der Gesundheit darstellt, hat sich ein Gegengewicht angezüchtet, ein Gedächtnis [...] – für die Fälle nämlich, das versprochen werden soll.“[20] Das individuelle „Ich“ wird geopfert und durch das Gedächtnis auf ein kollektives „Wir“ eingeschworen. Der Mensch wird verbindlich und zu einem berechenbaren Mitglied der Gemeinschaft. Die Erinnerung an ein Gestern verpflichtet somit auf gesellschaftliche Ansprüche, vermittelt aber auch ein Gefühl der Zugehörigkeit. Gleich der gesellschaftlichen Moral kritisiert Nietzsche diese den Einzelnen auf eine soziale Identität festlegende Form der Erinnerung. Er proklamiert den „Übermenschen“[21], der aus den Fesseln der restriktiven Mitmenschlichkeit zu einer höheren Form der Individualität befreit werden soll. Der Schmerz, beispielsweise der Initiationsriten, – „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“[22] – ist dabei das mächtigste Hilfsmittel einer Mnemotechnik der vorschreibenden, das Selbst unterdrückenden Erinnerung. Und „nicht bloß ein passivisches nicht-wieder-los-werden-können [...], sondern ein nicht-wieder-los-werden-wollen [...] ein eigentliches Gedächtnis des Willens.“[23] Dabei ist für Nietzsche diese Kultur des Erinnerns nur möglich auf der Basis des Ausgleichs durch das Vergessen – einer „strukturellen Amnesie“[24]: Nur durch die Kraft „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen“[25] wird der Mensch erst lebensfähig, also befähigt auszuwählen und zu bewerten, um nicht von einer übermächtigen Geschichte begraben zu werden.[26]
Anders wiederum der „Pionier einer Soziologie des Gedächtnisses“[27] Maurice Halbwachs, dessen Arbeiten in den späten 80er Jahren wiederentdeckt wurden. Im Gegensatz zu Nietzsche beschreibt Halbwachs das „kollektive Gedächtnis“[28] nicht als brutalen, sondern als notwendigen individuellen Vorgang der Selbsteinordnung und Selbstvergewisserung innerhalb des sozialen Kollektivs. „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren“.[29] Das Gedächtnis ist für Halbwachs nichts „aufgezwungenes“, sondern, wie Jan Assmann es in Anlehnung an die moderne Systemtheorie beschreibt, ein „autopoietisches System, dass sich im lebendigen Umgang der Menschen selbstregulierend entwickelt“[30]. Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhängigkeit von den „Rahmen“, die seine Erinnerung organisieren. Das bedeutet, dass über soziale Interaktion und Kommunikation stets eine bestimmte Vergangenheit rekonstruiert wird, deren Eigenart sich aus den wandelnden Sinnbedürfnissen, das heißt „Bezugsrahmen“ der jeweiligen fortschreitenden Gegenwarten her ergibt. Diese rekonstruierte Vergangenheit ist gruppenspezifisch in dem Sinne, dass sie nicht übertragbar ist.
Als weiterer „wichtiger Gedächtnistheoretiker“[31] setzt Sigmund Freud ähnlich wie Nietzsche auf den Zusammenhang von Erinnerung und Schuld bzw. Gewissen. In seiner Arbeit Totem und Tabu oder auch in Das Unbehagen in der Kultur beschreibt Freud die Urszene der Religions- und damit Gedächtnisformation in der Ermordung des „Urvaters“ durch seine Söhne und die Verdrängung des schlechten Gewissens in Form der Überhöhung des Ermordeten als Gott.[32] Das Schuldgefühl als die erste traumatische Erfahrung gebiert ein Gedächtnis, welches sich für Freud (in diametralen Gegensatz zu Halbwachs) biologisch von Generation zu Generation weitervererbt. Diese identitätsstiftende traumatische Erfahrung brennt sich im Unterbewussten ein, das heißt das kollektive Gedächtnis hat seinen Ort für Freud im „Es“, wobei Nietzsches und Halbwachs’ soziales Gedächtnis im Freud’schen „Über-Ich“ angesiedelt werden könnten. Wo zudem für Nietzsche der vorschreibende Charakter der Erinnerung – das „nicht-mehr-los-werden-wollen“ – dominiert, konzentriert sich Freud auf den zwanghaften Charakter – das „nicht-mehr-los-werden-können“.
ii. Jan Assmann: Das „kulturelle Gedächtnis“
Diese drei vorgestellten Gedächtniskonzepte ermöglichen drei unterschiedliche Perspektiven auf das soziale Phänomen des Gedächtnisses. Jan (und Aleida) Assmann erhalten in ihrem Gedächtniskonzept des „kulturellen Gedächtnisses“ diese Pluralität der Ansätze und differenzieren eher, anstatt zu verengen, um so verschiedene Erinnerungskulturen und Wandlungen kollektiver Identitätsbildung beschreiben zu können. Der an Nietzsche und Halbwachs anknüpfende Begriff „Erinnerungskultur“ umfasst dabei einen Vergangenheitsbezug im sozialkonstruktivistischen Sinne, dass „Vergangenheit überhaupt dadurch erst entsteht, dass man sich auf sie bezieht“[33]. Damit ist ein Raum/Zeit- bzw. Gruppenbezug gemeint, dass gewisse Gruppen ihre „Erinnerungsfiguren“ (das heißt ihre Erfahrungen und Begriffe davon) in einem „bestimmten Raum substantieren“ und in einer „bestimmter Zeit aktualisieren“.[34]
Jan Assmanns erste wichtige Unterteilung ist nun, dass er Halbwachs Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“ differenziert und Halbwachs Konzeption als „kommunikatives Gedächtnis“ ausweist, während er die zeitlich stabilen und verobjektivierten Formen der Erinnerungen als „kulturelles Gedächtnis“ begreift.[35] Das kommunikative Gedächtnis bestimmt sich durch die kommunizierten biographischen Erinnerungen seiner Mitglieder und ist dementsprechend in seiner Zeitdimension auf deren Lebensdauer von circa 80 Jahren beschränkt. Die Partizipationsstruktur dieses „Generationengedächtnisses“[36] oder auch „sozialen Gedächtnisses“[37] ist dabei diffus und wenig geformt, da das Gedächtnis von der lebendigen Erfahrung seiner Mitglieder in der alltäglichen Interaktion geprägt wird. Im Gegensatz dazu richtet sich das kulturelle Gedächtnis auf die absolute Vergangenheit aus und ist geprägt von „fundierten Erinnerungen“, das heißt im Sinne einer institutionalisierten Mnemotechnik von „festen Objektivationen sprachlicher und nichtsprachlicher Art: Tänze, Riten, [...] Kleidung, Schmuck, Tätowierungen, Landschaften [...] und Zeichensystemen aller Art.“[38] Die Träger dieses Gedächtnisses sind stets spezielle „Gedächtnisspezialisten“, da dass Gedächtnis einen hohen Grad der Geformtheit und Codierung besitzt und der Anleitung bedarf. Die Außeralltäglichkeit des kulturellen Gedächtnisses vor allem in Form des Festes gebiert eine zeremonielle Kommunikation über die Erinnerung und Identität gestiftet wird.
Graphik 1: Die Polarität kollektiver Erinnerung (horizontal) und die Polarität der Vergegenwärtigung (vertikal)[39]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
schriftlose Kultur Rituelle Kohärenz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- alltägliche Kommunikation - zeremonielle Kommunikation
(Tänze, Spiele)
Kommunikatives Kulturelles
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gedächtnis Gedächtnis
- alltägliche Kommunikation - textuelle, zerdehnte Kommunikation (Texte)
Schriftkultur Textuelle Kohärenz
Die zweite wichtige Differenzierung Assmanns ist, der Schrift eine entscheidende Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis beizumessen, für die die geistesgeschichtliche Tradition bislang blind gewesen sei. Das kulturelle Gedächtnis ist durch eine „konnektive Struktur gemeinsamen Wissens und Selbstbilds“[40] geprägt, die zum einen gerade in schriftlosen Kulturen durch die rituelle Kohärenz (Tänze, Spiele etc.) der Wiederholung Sinn, Vergangenheit und Identität vergegenwärtigt. Zum anderen hält die konnektive Struktur gerade in Schriftkulturen durch die textuelle Kohärenz der Auslegung und Interpretation identitätssichernde Erinnerungen präsent (siehe Graphik 1). Das Besondere des kulturellen Gedächtnisses ist es also, durch die Auslagerung von Erfahrungen, Erinnerungen und Wissens auf einen komplexen Überlieferungsbestand symbolischer Formen zeitliche Stabilität zu sichern. Die Veräußerung des Gedächtnisses ist ein „Akt der Semiotisierung“[41] von Artefakten wie Texten, Bildern, Skulpturen, aber auch räumlichen und zeitlichen Ordnungen wie Denkmälern und Landschaften bzw. Festen und Bräuchen. Das kulturelle Gedächtnis ist demnach keine Metapher, sondern umfasst tatsächliche „lieux de mémoire“[42]. Jan Assmann hat im Verweis auf Nietzsche vor allem die Bedeutung der Schrift hervorgehoben, die die Merkzeichen der kulturellen Mnemotechnik weg von der leidvollen Körpererfahrung hin zu symbolischen Formen der Erinnerung überführten.[43] Paradoxerweise produziert aber gerade das externe Speichermedium der Schrift eine unüberschaubare expansive Sinnfülle, die kaum mehr in toto präsent gehalten werden kann, so dass Texte eine riskante Form der Sinnweitergabe sind. Aleida Assmann hat daher zwischen „Funktions-“ und „Speichergedächtnis“ unterschieden, da Texte auch in den „unbewohnten“ Hintergrund treten und somit „Grab des Sinns“ werden können, während im vordergründigen Funktionsgedächtnis nur eine bestimmte Anzahl an Texten gelebt und „bewohnt“ werden können.[44] Schriftlichkeit stellt somit noch keine Kontinuität sicher. Diese wird laut Jan Assmann erst vollzogen in Form der textuellen Kohärenz, der „Herstellung eines Beziehungshorizontes über den der Schrift inhärenten Bruch hinweg“[45], dessen stärkste Verfestigung der Kanon ist. Denn erst die „kanonisierende Stilllegung des Traditionsstroms [aller Texte]“[46] lässt eine Anzahl an nicht zu vergessenen Klassikern entstehen, die der Deutung und Auslegung bedürfen. Diese stets neu gedeuteten, aber eben nicht fortgeschriebenen kanonischen Texte „verkörpern die normativen und formativen Werte einer Gesellschaft, die ‚Wahrheit’“[47]. Der Kanon ist daher das fundamentale
Prinzip einer kollektiven Identitätsstiftung und Stabilisierung, die zugleich Basis individueller Identität ist, als Medium einer Individuation durch Vergesellschaftung, Selbstverwirklichung durch Einfügung in ‚das normative Bewusstsein einer ganzen Bevölkerung’ (Habermas). Kanon stiftet einen Nexus zwischen Ich-Identität und kollektiver Identität. Er repräsentiert das Ganze einer Gesellschaft und zugleich ein Deutungs- und Wertsystem, im Bekenntnis zu dem sich der Einzelne der Gesellschaft eingliedert und als deren Mitglied seine Identität aufbaut.[48]
Der Kanon steht somit im Zentrum der Erinnerungskultur einer Gemeinschaft, die die Imagination einer in die Tiefe der Zeit zurückreichenden Kontinuität bedarf, um sich selbst und damit jedem einzelnen eine Identität zuzuweisen. Der Kanon wird zum Fixpunkt eines kulturellen Gedächtnisses, das in einer Erinnerungskultur Gemeinschaft stiftet.
b. Im „Tätergedächtnis“ der deutschen Erinnerungskultur
Die oben beschriebenen Perspektiven auf das soziale Phänomen des Gedächtnisses ergeben eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten für eine Darstellung des bundesrepublikanischen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit seit 1945. Gerade die bundesrepublikanische Erinnerungskultur war beispielsweise anfangs zum einen geprägt durch das von den Alliierten eingesetzte Nürnberger Kriegsverbrechertribunal, das von nicht wenigen Deutschen als „Siegerjustiz“ im Sinne Nietzsches einer vorschreibenden Erinnerung empfunden wurde. Zum anderen zeichneten sich diverse persönliche Erinnerungen und Erfahrungen gerade durch ihre Verdrängung im oben beschriebenen Sinne Freuds aus.
Bei einer historischen Darstellung der deutschen Erinnerungskultur gilt es also stets die Perspektive und analytischen Begriffe zu reflektieren. In diesem Überblick über die bundesrepublikanische Erinnerungskultur[49] wird dabei dem gedächtnistheoretischen Ansatz von Aleida Assmann gefolgt, um die verschiedenen Ebenen und Formen der deutschen Erinnerungskultur anhand der Termini „kommunikatives“ und „kulturelles Gedächtnis“ schärfer trennen zu können.[50] Bei einer solch differenzierten Betrachtung der Erinnerungsgeschichte ist jedoch laut der Historikerin Ute Frevert Vorsicht geboten, „wenn von einzelnen Ereignissen und kulturellen Erscheinungen auf allgemeine Mentalitäten und Wahrnehmungsweisen geschlossen werden soll“[51]. Genauere, methodisch kontrollierte Untersuchungen sind bisher nicht erarbeitet worden, so dass verbindliche Aussagen über die Tiefenstruktur der NS-Erinnerung schwierig seien.[52] Auf der Ebene des „Erinnerungsangebotes“ dagegen falle es leichter, „Tendenzen zu entdecken und Veränderungen zu konstatieren.“[53] In diesem Sinne soll mit dem Terminus „kommunikatives Gedächtnis“ vorsichtiger, weil subjektiver, mit dem Begriff des „politischen“ bzw. „kulturellen Gedächtnisses“ stärker, weil gesellschaftlich verobjektivierter im Folgenden die deutsche Erinnerungsgeschichte umrissen werden.[54]
Aleida Assmann teilt das „politische Gedächtnis“[55] der deutschen Erinnerungsgeschichte in groben Linien seit der Gründung des Deutschen Reichs in ein „Siegergedächtnis“ ab 1871, ein „Verlierergedächtnis“ ab 1918, und ein „Tätergedächtnis“ seit 1945 ein.[56] Der folgende Überblick wird dabei (detaillierter als Aleida Assmann[57] ) den Fokus auf die einzelnen Meilensteine der deutschen Erinnerungsgeschichte seit 1945 legen, um zu unterstreichen, wie sukzessive die deutsche Erinnerungskultur bis in die 90er Jahre immer stärker durch die mahnende Erinnerung an „Auschwitz“ dominiert wurde. Vor diesem „Tätergedächtnis“ kann der um die Jahrtausendwende spezifisch neu angeregte Diskurs um die Deutschen als Opfer abgegrenzt werden.
Als roter Faden durch die deutsche Erinnerungsgeschichte wird nicht nur der politisch-institutionalisierte sowie der private Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und deren kulturellen Ausprägungen leiten, sondern gerade auch öffentlichkeitswirksame Geschichtsdebatten bzw. das bewusste politische Instrumentalisieren der nationalsozialistischen Vergangenheit[58]. Diese Auseinandersetzungen zeigen in symptomatischer Weise den Umgang mit der Vergangenheit an und bestimmten gleichzeitig die diskursiven Geschichtsbilder ihrer Zeit mit. Im Sinne Jan Assmanns werden dabei die materialisierten Formen der Erinnerung – Texte, Symbole, Orte, Rituale – betrachtet, die durch die widerstreitenden, zur Erinnerung anleitenden „Gedächtnisspezialisten“ (oder in anderen Worten Diskursteilnehmer) Einlass in das kulturelle Gedächtnis fanden. Schließlich lässt sich Geschichtspolitik „mithin auch definieren als Kampf um das richtige Gedächtnis“[59]. Damit wird bereits für den dritten Teil dieser Arbeit das Feld historisch ausgeleuchtet, auf dem sich die Geschichtswissenschaft mit anderen Deutungsinstanzen über die Geschichte – wie Günter Grass als Literat – auseinandersetzen muss, wenn sie „kein Monopol auf die Geschichte besitzt“[60].
i. Die „Unfähigkeit zu trauern“ nach 1945
Der Alltag in der unmittelbaren Nachkriegszeit war geprägt von den Folgen des Krieges. Die Wohnungsnot in vielen zerstörten Städten, der Hunger, die schwierige Aufnahme der Flüchtlinge bzw. Vertriebenen, die heimkehrenden und vermissten Soldaten, die sexuelle Gewalt gegenüber Frauen – all diese Erlebnisse verstärkten den Eindruck vom „Kriegsende auf Raten“[61] und bildeten die erfahrungsgeschichtliche Grundlage vieler Deutschen für ihre Wahrnehmung: konzentriert auf die eigenen Leiden und Verluste, gepaart mit dem Stolz, diesen getrotzt zu haben. Im kommunikativen Gedächtnis dieser Zeit kann von einem pauschalen Schweigen daher keine Rede sein – der Krieg und seine Folgen waren allgegenwärtig.[62] Ebenso auffällig ist, dass in der alltäglichen Kommunikation die Erinnerung an die Deutschen als Opfer die Erinnerung an die Opfer der Deutschen überlagerte. Die oft zitierte, amerikanische Journalistin Martha Gellhorn reflektierte ihre Gespräche mit Deutschen im April 1945:
Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht im nächsten Dorf ein paar Nazis gegeben [...] Um die Wahrheit zu sagen, [...] es hat hier eine Menge Kommunisten gegeben. Wir waren immer als Rote verschrien. Oh, die Juden? [...] gab in der Gegend nicht viele Juden. [...] Ich habe sechs Wochen lang einen Juden versteckt. [...] Die Nazis sind Schweinehunde. [...] Ach, was haben wir gelitten.[63]
Die alliierten Besatzungsmächte versuchten gegen diese Form der selektiven Erinnerung eine Vergegenwärtigung der deutschen Verbrechen in der breiten Öffentlichkeit zu institutionalisieren. Nicht nur in der internationalen Presse, sondern vor allem in den von den Alliierten eingesetzten Presseinstitutionen in den Besatzungszonen wurden Berichte über die deutschen Konzentrationslager platziert. Den Deutschen sollte die Herrschafts- und Vernichtungspraxis vor Augen geführt und eine erneute Chance des Wegschauens genommen werden, um eine Umerziehung auszulösen.[64] Auf öffentlichen Plätzen prangerten große Plakate mit Bildern von KZ-Leichenbergen den Betrachter mit „Diese Schandtaten: Eure Schuld!“ an. Zudem wurden diverse Broschüren wie KZ – Bericht aus fünf Konzentrationslager erstellt, verschiedene Filme wie Die Knochenmühle gedreht und in einzelnen Fällen wurde die in der Nähe des Lagers wohnende Bevölkerung gezwungen, sich selbst ein Bild von den Verhältnissen in den Terrorstätten zu machen, neben denen sie jahrelang angeblich ahnungslos gelebt hatte.[65] Diese Verbildlichungen der moralischen Schuld bewirkten bei vielen kein persönliches Schuldereingeständnis, sondern provozierten einen Abwehrreflex: Man tat die Filme als „Greuelpropaganda“ ab.[66] Auch die Plakate schienen die Verbrechen nur in abstrakter Form darzustellen und die Schuld an den Toten einzelnen SS-Gruppen zuzuweisen, mit denen der „normale Deutsche“ nichts zu tun gehabt habe. Die radikale Konfrontation mit den Verbrechen verschmolz mit der eigenen Erfahrung der täglichen Not in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit zur Vorstellung einer bundesdeutschen Opfergemeinschaft. Diese konstruierte Erinnerungsgemeinschaft kannte keine scharfe Trennlinie zwischen Täter, Mitläufer und Opfer: Alle hatten gelitten! Somit rückten diejenigen ins verdächtige Abseits, die angeblich keinerlei Entbehrungen hinzunehmen gehabt hatten. Im öffentlichen Diskurs wurden die anklagenden Exilanten kritisiert, „von den Logen und Parterreplätzen des Auslands aus, dem deutschen Unglück“[67] zugeschaut zu haben. Dieser Vorwurf von Walter von Molo an Thomas Mann stellte den Gipfel eines vielschichtigen Diskurses um „Exil“ und „Innere Emigration“ dar.[68] Wenn Karl Jaspers in seiner Schrift Die Schuldfrage zwischen vier Schuldbegriffen – der kriminellen, politischen, moralischen und metaphysischen Schuld – zu differenzieren versuchte, um jedem Einzelnen jenseits des pauschalen Vorwurfs der Kollektivschuld eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu ermöglichen,[69] dann verhallte diese ethische Intervention im Schatten von Stellvertreterdebatten um Aufrechnungs- und Parallelisierungsfragen der deutschen Opfer und der Schuldzuweisung an das Ausland. An vorderster Front in diesem „Opferdiskurs“ standen die diversen Soldatenverbände und Interessenverbände der Kriegsbetroffenen. Allen voran vertraten der „Zentralverband der vertriebenen Deutschen“ (ZvD) und der „Verband der Landsmannschaften“ (VdL) mit lauter Stimme ihre zahlreichen Mitglieder.[70] Die zentrale Frage nach dem Ursprung der NS-Herrschaft und nach der Schuld an den Verbrechen fand nur selten Eingang in das kommunikative Gedächtnis des Alltags und die symbolische Vermittlungsfunktion der alliierten Aufklärungsarbeit prallte an der deutschen „Opfergemeinschaft“ ab.
Die alliierten Versuche mit Hilfe der sogenannten „Denazifizierung“ eine Art politisch gewolltes Gedächtnis einzurichten, blieben in ihrer Wirkung gleichsam von zweifelhaftem Erfolg gekrönt.[71] Zum einen war es Ziel, prominente Nationalsozialisten in den Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen für ihre „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und den deutschen „Angriffskrieg“ zu bestrafen. Zum anderen sollten politisch belastete Personen aus ihren wichtigen Ämtern entlassen werden. Gerade die Kriegsverbrecherprozesse ließen bei vielen Deutschen den Eindruck zurück, dass die verantwortlichen Täter abgeurteilt waren und eine klare Trennung zwischen Volk und Regime gezogen wurde. Da die Schuldfrage damit hinlänglich geklärt zu sein schien, galt es für zahlreiche Bundesbürger nun den Blick nach vorne zu richten. Zum Ende der Besatzungszeit 1949 führte das erste „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit“ für eine weitreichende Amnestie und das Interesse der nunmehr deutschen Justizbeamten lies merklich nach, NS-Straftäter zu verfolgen.[72] Somit kann die Entnazifizierung im Rückblick als „Strohfeuer“ gesehen werden, „über das ab den späten 40er Jahren die Wellen der Rehabilitierung hinweggingen. Einen weit reichenden Austausch der Funktionseliten hat es in Westdeutschland nicht gegeben.“[73] Für den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer war dieses Defizit vor dem Hintergrund der notwendigen Reintegration ehemaliger NS-Funktionsträger in die bundesrepublikanische Gesellschaft der Preis, der für den Aufbau einer stabilen Demokratie zu zahlen war.[74] Die Integrationsleistungen der frühen Bundesrepublik stellten so aus konservativer Perspektive ein Friedensmittel der strapazierten Gesellschaft dar und erzeugten „eine allgemeine Exkulpationssolidarität, die die Deutschen miteinander verband“.[75]
Generell war nicht nur bei Konrad Adenauer, sondern bei allen großen Parteien, den Kirchen und Universitäten in den Besatzungszonen die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eher notgedrungen widerwillig bis vorsichtig oberflächlich.[76] Eine „Wahrnehmungsverweigerung“ fand zwar nicht statt – Gleichwohl war die Wahrnehmung „partiell und selektiv, zudem deutlich von je personal- und klientelspezifischen Interessen geleitet.“[77] Die Parteien waren in erster Linie mit der Reorganisation des öffentlichen Lebens beschäftigt und konzentrierten sich auf die Lösung von Gegenwartsaufgaben. Die ersten Erklärungsversuche des nationalsozialistischen Zivilisationsbruches stammten zum größten Teil von Exilanten oder verliefen in den ideologischen Mustern der Partei. Im Umfeld der SPD lieferte die Faschismustheorie mit ihrer starken Fokussierung auf die kapitalistische Vorkriegsgesellschaft, der deutsche Militarismus und das obrigkeitsstaatliche Denken erste Hinweise auf mögliche Ursachen des Zusammenbruchs der Weimarer Republik und des Aufstiegs des Nationalsozialismus. Von konservativer Seite wurde zumeist der moderne Säkularisierungsprozess und der Materialismus als ursächlich identifiziert. Durchweg „dominant war die Feststellung der eigenen Schuldlosigkeit und meist auch die der Klientel.“[78] Die Thematisierung des Holocausts und der alltäglichen Diskriminierung der Juden im „Drittes Reich“ fand außer durch einzelne Personen wie Kurt Schumacher und Theodor Heuss nicht statt.[79] Vielmehr standen auch in öffentlichen Reden die metaphysischen Schicksals- und Katastrophenbestimmungen, dass das deutsche Volk das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei, im Mittelpunkt und erfuhren durch den wiedereingeführten Volkstrauertrag ihre rituelle Vergegenwärtigung im kulturellen Gedächtnis.
Seit Anfang der 50er Jahre wurde die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus das bestimmende Thema für die Bundesrepublik, welches sich im Wettbewerb zwischen der inzwischen gegründeten DDR und der Bundesrepublik um das geschichtspolitische Legitimationsarsenal widerspiegelte.[80] In der Bundesrepublik verlagerten vor allem argumentative Muster um „Parlamentarismus“, die „Verwestlichung“ und die „Totalitarismustheorie“[81] den Fokus weg von der eigenen selbstreflexiven Schulddebatte hin zum Abgrenzungs- und Stabilisierungsdiskurs des eigenen Selbstbildes. Das neue Feindbild des Kommunismus bewirkte im Zuge der Politik Adenauers ab Anfang der 50er Jahre eine Ablösung vom so empfundenen Vorwurf der Kollektivschuld. Die Bundesrepublik wurde zum „Vorposten der Freiheit“ und zum „Bollwerk gegen den Kommunismus“ stilisiert; die Währungsreform und der Marshall-Plan wurden als Beginn des „Wirtschaftswunders“ überhöht. Die Luftbrücke nach West-Berlin während der Berlin-Blockade 1948/49 wurde schließlich für die folgenden Jahrzehnte zum Symbol, Berlin nicht dem Kommunismus preis zu geben.[82] Die „Trümmerfrauen“ wurden in diesem Kontext zum zukunftsweisenden Symbol des Wiederaufbaus und der Leistungsbereitschaft eines neuen Deutschlands. So trat die unmittelbare Nachkriegszeit in den bekannten Fotografien mit den „Trümmerfrauen“ oder den von Kindern erwarteten „Rosinenbomber“ als Ikonen eines neuaufgebauten Weststaates ins kulturelle Gedächtnis ein.[83] Die Trümmerlandschaften der zerbombten Städte wichen einer neuen funktionalen Architektur und somit metaphorisch auch einer Erinnerungskultur, die sich auf der persönlichen Ebene des kommunikativen Gedächtnisses durch „kommunikatives Beschweigen“ (Hermann Lübbe) und auf institutionalisierter Ebene des politischen bzw. kulturellen Gedächtnisses durch die „Vergangenheitspolitik“ der Integration und Amnestie auszeichnete.
Als wichtige Gedächtnisorte dominierten die Kriegsgräber und Soldatendenkmäler das Gedenken an die eigenen Opfer gegenüber den Mahnmalen des Holocausts und den vernachlässigten, ehemaligen Konzentrationslagern.[84] Zwar fanden kulturelle Erinnerungs- und Problematisierungsrelikte der NS-Vergangenheit wie Bücher (bspw. Das Tagebuch der Anne Frank von 1950) oder Filme (bspw. Die Mörder sind unter uns von 1946)[85] ein breites Publikum, aber den öffentlichen Erinnerungsdiskurs prägten sie kaum.[86] Generell war die deutschsprachige Literaturrezeption nach 1945 – von Ausnahmen wie z.B. Wolfgang Koeppens Der Tod in Rom (1954) abgesehen – sehr stark fixiert auf die restaurative Kontinuität ehemals nationalsozialistischer Autoren und die der „inneren Immigration“[87]. In der deutschen Filmkultur dominierten die Heimat-, Musik-, Schlagerfilme, in denen die unmittelbare Vergangenheit meist ausgeblendet wurde.[88] Wenn überhaupt, fand die Vergangenheit in Form von rituellen Vergegenwärtigungen des für die Deutschen leidvollen Krieges durch den Volkstrauertag ihren Gedächtnisort im kulturellen Gedächtnis. Der Abwehrreflex einer moralischen Schuld durch „kollektives Beschweigen“ und die Konzentration auf die eigenen Opfer und die Projektion auf das neue Feindbild des Kommunismus bestimmten bis in die späten 50er Jahre das „Tätergedächtnis“[89] der Deutschen, die – wie es die Mitscherlichs so pointiert formulierten – die „Unfähigkeit zu trauern“[90] nicht überwinden konnten.
ii. Kritik der 60er Jahre
Alexander und Margarete Mitscherlich hatten der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft 1967 den Befund eine „Unfähigkeit zu trauern“ zu besitzen vorgelegt. Sie attestierten der deutschen Nachkriegsgesellschaft eine idealisierende Fixierung auf Adolf Hitler, die durch den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ jäh erstarrt und durch Abwehrreflexe wie Verleugnung und Verschweigen kompensiert worden sei. Dem Sturz des großen „Ich-Ideals“ und den damit einhergehenden Gefühlen des Selbsthasses und völligen Unwertes seien mit einer Flucht in den wirtschaftlichen Wiederaufbau und Konsum begegnet worden, die jegliche Erinnerung an vergangenes Unrecht und damit verbundene Schuld sowie ein Mitfühlen mit den bzw. Trauern um die Opfer des Nationalsozialismus unmöglich gemacht habe.[91] Man muss kein überzeugter Anhänger der Psychoanalyse sein, um den Kern ihrer Beobachtung, wenn auch nicht deren psychoanalytische Deutung, zu würdigen. In anderen Worten waren durch „die Verbrechens- und Kriegspolitik des „Dritten Reiches“, durch totale Niederlage, durch Souveränitätsverlust und Besatzungszeit [...] der seit 1871 bestehende Nationalstaat zerbrochen und mit ihm seine Leit- und Geschichtsbilder.“[92] Die Fallhöhe aus der allumfassenden, rassenideologisch selbstgewissen NS-Ideologie schien für das Generationengedächtnis der vor 1938 Geborenen zu groß gewesen zu sein, als dass es sich sofort ehrlich und selbstkritisch hätte wiederaufrichten können. Genau diese Forderung bestimmte jedoch ab Mitte der 60er Jahre den öffentlichen Diskurs um die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die „68er-Generation“, also die Generation, die das NS-Regime nur als Kind oder nicht in vollem Bewusstsein miterlebt hatte, ging hart mit ihrer „Väter = Tätergeneration“ ins moralischgeschichtliche Gericht.[93]
Bereits Ende der 50er Jahre hatten sich die Zeichen für eine grundlegende Veränderung der bundesdeutschen Erinnerungskultur hin zu einem dominanten Tätergedächtnis gemehrt.[94] Im Jahr 1958 tauchten im gesamten Bundesgebiet Hakenkreuzschmierereien auf, die als Ausdruck der defizitären Vergangenheitspolitik interpretiert wurden und 1960 neue Richtlinien der Kultusminister für den Geschichtsunterricht zur Folge hatten.[95] Gleichzeitig zogen verschiedene juristische Verfahren die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in einem neuen, stärkeren Maße auf die Vergangenheit des Holocausts. Den Anfang bildeten der Schörner-Prozess (Herbst 1957) und der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1958), in dessen Folge das Problem der Verjährungsfrist von NS-Verbrechen offenbar wurde und in den sogenannten „Sternstunden des bundesrepublikanischen Parlamentarismus“ erregt diskutiert wurde.[96] Als weitere Folge auf das Desinteresse, zuweilen auf die gar offene Ablehnung der Justizbehörden wurde die „Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg 1958 eingerichtet, um eine erneute, aber systematischere Untersuchung der NS-Verbrechen einzuleiten, als sie noch zu Zeiten der Entnazifizierung unter alliierter Kontrolle stattgefunden hatte.[97] Ungeahnte und dann von der CDU-Regierung gefürchtete Aufmerksamkeit erhielt im Jahr 1961/62 der Eichmann-Prozess, den bisweilen 85 Prozent der Deutschen in der Presse mitverfolgten (Adenauer bedauerte in einer Fernsehansprache, der Prozess werde „die ganzen Abscheulichkeiten des Hitlerregimes wieder aufwühlen“)[98]. Die deutsche Erinnerungskultur des Konsens, die NS-Täter stillschweigend zu integrieren, der so sorgfältig von der Adenauer-Regierung gepflegt worden war, schien sich langsam aufzulösen. Ebenso trug der stetig und sorgfältig von der Presse dokumentierte Auschwitz-Prozess 1963–65 in der öffentlichen Diskussion dazu bei, dass eine stärker normative Abgrenzung vom Nationalsozialismus und eine Auseinandersetzung mit deren Verbrechen möglich wurde. Wichtig war außerdem, dass das bisherige den Diskurs bestimmende Argument, die Verbrechen seien durch Einzeltäter verübt worden, erstmals durch die Befragung des Auschwitz-Lagerpersonals in Frage gestellt wurde. „Ganz normale Männer“[99] standen zur Anklage und verwiesen schmerzlich, im Gegensatz zur Dämonisierung der Einzeltäter um Hitler in den 50er Jahren, auf die Massen an Funktionseliten und die anscheinend potentielle Disposition der gemeinen Bevölkerung, wenn nicht an der Ermoderung beteiligt, so doch bei der Enteignung und Verschleppung der Juden schweigend dabei gewesen zu sein. Gleichwohl oder gerade deswegen fielen die Abwehrreflexe der Schuldzuweisung und die Diskrepanzen in der Erinnerung sehr stark aus: Nachfolgende Prozesse beispielsweise um die SS-Männer des Vernichtungslagers Treblinka blieben in der medialen Berichterstattung fast unbemerkt.[100] Es lässt sich bereits an dem Ereignis des Auschwitz-Prozesses, der erstmalig von einer massenmedialen Öffentlichkeit (Presse, Radio, TV) begleitet wurde, aufzeigen, wie stark der Lichtkegel der öffentlichen Aufmerksamkeit durch die Medien gesteuert und dadurch die Erinnerungskultur beeinflusst (worden) ist. Spätere Debatten wie beispielsweise die „Goldhagen-Debatte“ sollten noch in viel stärkerem Maße diesen Medienmechanismus veranschaulichen.
Wichtige Erinnerungsträger, die die Veränderung der bundesdeutschen Erinnerungskultur in den 60er Jahren forcierten, waren literarische Texte, die durch ihre kontroverse Rezeption zunehmend kanonisierenden Status (im Sinne Assmanns) innerhalb des kulturellen Gedächtnisses erlangten. 1959 veröffentlichte Günter Grass seinen ersten Roman Die Blechtrommel, der den Aufstieg, Fall und die Folgen des „Dritten Reiches“ aus der sarkastischen Schelmensicht Oskar Mazeraths begleitete. Fiktive Texte wie Die Blechtrommel, die späteren Teile der Danziger Trilogie Katz und Maus und Hundejahre, oder auch Romane anderer Schriftsteller wie Heinrich Bölls Billard um halb 10 illustrierten aus quasi alltaggeschichtlicher Perspektive den Mikrokosmos der Bevölkerung während des „Dritten Reiches“. Gerade Grass’ Figuren – der Kolonialwarenhändler Mazerath mit seinem Freund und Nebenbuhler, dem polnischen Postbeamten Jan Bronski aus Die Blechtrommel, der strebsame Schüler und ehrgeizige Panzerfahrer Joachim Mahlke aus Katz und Maus oder das erst KP-, dann SA-Mitglied, der später Heidegger-raunende Flakausbilder beim KZ Stutthof Walter Matern mit seinem jüdischen, vogelscheuchenbauenden Freund Eddi Anselm aus Hundejahre – sie alle gingen als paradigmatische Lebensentwürfe mit den paradoxen Entwicklungen und alltäglichen Verstrickungen unter dem NS-Regime in das kulturelle Gedächtnis der 60er Jahre ein. Grass’ und Bölls Romane (wie auch Ansichten eines Clowns) kritisierten zudem hart die Nachkriegsgesellschaft in ihrer Wirtschaftswunderanpassung und verlogenen Vergangenheitsauseinandersetzung. Diese fiktiven Texte erregten eine kontroverse Diskussion, fanden ein breites Publikum und lieferten so nicht nur einen aktiven Beitrag zum Schulddiskurs, sondern schliffen auch auf subtile Weise das NS-Geschichtsbild der deutschen Gesellschaft.[101] Aber nicht nur Texte – wie das Aufklärungstheater der Parabelstücke von Bertolt Brecht und Max Frisch[102] – auch Filme wie Wolfgang Staudtes Rosen für den Staatsanwalt (1959) stellten, wenn auch noch ironisierend die opportunistische Nonchalance, mit der geflissentlich die eigene NS-Vergangenheit übersehen wurde, an den Pranger und riefen bei einem Millionenpublikum zwiespältige Erinnerungen wach.[103]
Neben dem literarischen Widerstand gegen die Erinnerungskultur der 50er Jahre formierten sich aber auch die wissenschaftlichen Kapazitäten neu. 1951 eröffneten die aus den USA zurückgekehrten Exilanten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer wieder das „Institut für Sozialforschung“ in Frankfurt am Main, das zum Zentrum der sogenannten „Kritischen Theorie“, der „Frankfurter Schule“ wurde.[104] 1957 wurde Adorno ordentlicher Professor für Soziologie, übernahm ein Jahr später die Institutsleitung von Horkheimer und trat nunmehr stärker in der Öffentlichkeit für seine empirische Sozialwissenschaft als Steuerungsregulative und „Frühwarnsystem der jungen Demokratie“ ein.[105] So hielt Adorno 1959 den viel beachteten Radiovortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“, in dem er das „leere und kalte Vergessen“ der westdeutschen Gesellschaft beschrieb, die auf eine bewusste „Tilgung des Vergessens“ aus sei, und betonte, dass die Demokratie nicht durch ein „machtpolitisches System des Vergessens“ im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs stabil gehalten werden könne.[106] Es waren nicht zuletzt diese „engagierten Demokraten“[107] wie Theodor Adorno, die nachhaltig die Studentenbewegung der „Achtundsechziger“ beeinflussten oder wie sein Schüler Jürgen Habermas mit ihnen kontrovers diskutierten.
Im Mai des Jahres 1968 waren die Studentendemonstrationen auf ihrem Höhepunkt angelangt. Die Kontroverse um die „Springer-Presse“, der Schah-Besuch, der Tod Benno Ohnesorgs, die Notstandsgesetze der großen Koalition, der von den USA geführte Vietnamkrieg – all diese Ereignisse hatten kumulativ zu einer Zuspitzung des „außerparlamentarischen“ bzw. öffentlichen Protestes geführt.[108] Ein besonderer Diskussionsgegenstand bei vielen Veranstaltungen – ob „Teach-Inns“ oder „Podiumsdiskussion“ – war stets die nationalsozialistische Vergangenheit und die fehlende öffetnliche Auseinandersetzung. Die Gerichtsprozesse Anfang der 60er Jahre waren erste Vorboten dieser Veränderung gewesen. Für den liberalen Publizisten Ralf Dahrendorf war nun mit dem zeitlichen Abstand zu den Verbrechen eine neue Generation herangewachsen, die „Fragen stellen kann, ohne Gefahr laufen zu müssen, durch die Antworten selber getroffen zu werden“[109]. Die Töchter und Söhne konfrontierten ihre Väter (und Mütter) mit einem harten „moralische[n] Rigorismus“[110]. Exemplarisch für den Generationenkonflikt der „Achtundsechziger“ ging der 1977 posthum veröffentlichte „Romanessay“Die Reise von Bernhard Vesper gleichsam als „Nachlass einer ganzen Generation“[111] in das kulturelle Gedächtnis ein.[112] Bernward Vesper, Sohn des seinerzeit prominenten NS-Schriftstellers Will Vesper und Ex-Verlobter der späteren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, hatte durch LSD-unterstütztes Schreiben versucht, seine NS-Kindheit aufzuarbeiten und sich gleichsam vom Vater zu lösen. Am Ende gaben die im Text festgehaltenen Positionen von Sohn und Vater repräsentativ die diskursiven Argumentationsmuster der 68er-Generation wieder: Während der Vater Will Vesper ähnlichen diskursiven Entschuldigungsstrategien nachhing, mit denen bereits die Angeklagten der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg ihre Taten marginalisiert und idealisiert hatten, übernahm der Sohn Bernward Vesper typisch für die „Achtundsechziger“ die von der sozialistischen Geschichtspolitik kultivierte marxistische Dimitroff-These, die die bürgerliche Bundesrepublik als restaurativ-faschistisch diffamierte. Vespers Biographie war sicherlich ungewöhnlich und sein Hass auf die Eltern wurde nur von einer Minderheit geteilt, doch gleichwohl war die Instrumentalisierung des allgegenwärtigen Schlagwortes „Auschwitz“ für eine pauschale Delegitimierung des „Systems“ und eine eigene Immunisierung gegen Kritik typisch für die späten 60er Jahre. Auch Vespers groteske Identifikationsbereitschaft mit den nationalsozialistischen Opfern war kennzeichnend für eine gefährliche Blindheit, die als „Selbstermächtigungsgesetz der 68er“[113] im Terrorismus der RAF ihren Ausdruck fand. Doch es war der Mehrheit der Studenten zu verdanken, dass die Erinnerungskultur der Bundesrepublik in selbstkritischer Weise dem Holocaust und den persönlichen Erfahrungen der Familien zugewandt wurde. Das kommunikative Gedächtnis wurde wiederbelebt, auch auf die Gefahr hin, dass so manche Familie über die gegenseitigen Vorwürfe zerbrach.
Die kritische Rückschau der „Achtundsechziger“ brachte zudem nicht nur moralische Verdammungsurteile und pauschale Kapitalismus-Faschismus-Gleichsetzungen hervor, sondern erzeugte gerade in den Universitäten eine Neugier, die sich sowohl auf die eigenen Professoren, als auch auf die Geschichte des Nationalsozialismus bezog. Erstens mussten sich nun einige Professoren der „braunen Universität“ ihre Versuche, die Wissenschaft auf ideologische Parteilinie zu bringen, nachweisen lassen[114]. Diese hatten in der Nachkriegszeit unter dem Deckmantel der apolitischen Wissenschaft einfach weitergeforscht, die Genese des Nationalsozialismus mit kulturpessimistischen Erklärungen schnell abgetan und zu ihrer eigenen NS-Vergangenheit komplett geschwiegen.[115] Eine „Stunde Null“ hatte, wenn überhaupt, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ganz gewiss nicht unter den Professoren geschlagen.[116] Zweitens entwickelte sich in den 60er Jahren ein starker Zweig in der zeitgeschichtlichen Forschung, der sich der Themen „Holocaust“ und „Nationalsozialismus“ annahm. Es war zwar bereits 1950 das „Institut für Zeitgeschichte“ (IfZ) in München gegründet worden, doch bis zum Ende der 50er Jahre forschte die westdeutsche Geschichtswissenschaft „nicht bevorzugt“ über den Holocaust.[117] Hatte Ende der 50er Jahre noch der Althistoriker Alfred Heuß die Historikerzunft unter dem Stichwort „Geschichtsverlust“ vor der Abnahme der gesellschaftlichen Relevanz und des Einflusses gewarnt,[118] so traten beispielsweise bei den Auschwitz-Prozessen 1964 Zeitgeschichtlicher des IfZ als Sachverständige auf und jüngere Akademiker an den Universitäten fingen an, den Nationalsozialismus unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven zu untersuchen.[119] In der Geschichtswissenschaft leitete die „Fischer-Kontroverse“ einen Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Historiker von ihrem gesellschaftlichen Auftrag ein und die Zeitgeschichte rückte neue Forschungsgegenstände und -ansätze in den Mittelpunkt der Betrachtung. „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“, der NS-Staat in der Provinz, die strukturellen Voraussetzungen und die historische Pfadabhängigkeit der „deutschen Katastrophe“ wurden mit dem Anspruch einer „kritischen Aufarbeitung“ der eigenen Nationalgeschichte durch die Verschmelzung von „kritischer Theorie“ und „Modernisierungstheorie“ verbunden.[120] Mit der „Fischer-Debatte“ kann die erste große, emotional geführte Kontroverse zum Kampf um die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte festgemacht werden, die nicht allein in Fachkreisen, sondern in hohem Maße in der Öffentlichkeit auch von Nicht-Historikern geführt wurde. Sie illustriert die Polarisierungskraft und das identitätsstiftende Potential von Geschichtsbildern des kulturellen Gedächtnisses.
Der „dynamische Aufbruch“ in die 70er Jahre war verknüpft mit dem „Machtwechsel“ in der Bundeshauptstadt Bonn. In den „Wendejahren“ der Bonner Republik, als die Große Koalition eine Modernisierung der bundesdeutschen Gesellschaft einleiten sollte, die nach der Bildung der sozial-liberalen Koalition in eine Art „Modernisierungseuphorie“ umschlug, erfuhr auch das politische Gedächtnis der Bundesrepublik neue Impulse.[121] Insbesondere Willy Brandt, der gleich nach seinem Antritt von sich nicht „als Kanzler eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschlands“[122] sprach, und „Gustav Heinemanns Geschichtsoffensive“[123] standen für ein neues politisches Bewusstsein („Mehr Demokratie wagen“). In Folge der entspannungspolitischen Euphorie setzte es für eine bundesdeutsche Identität neben dem antitotalitären Konsens und der Wirtschaftswunder-Verbindlichkeit der 50er Jahre neue Orientierungspunkte. Mit seinem Kniefall von Warschau gelang Brandt 1970 das Kunststück großer symbolischer Politik, die durch die Photographie zum bleibenden Ausdruck eines neuen Gedenkens der NS-Verbrechen und der Aussöhnung mit dem Osten wurde. Gleichzeitig standen Brandt und Heinemann für eine „zweite formative Periode“ (Richard Löwenthal) der bundesrepublikanischen Geschichte, die sich auf die freiheitlich-demokratischen Traditionen in der eigenen Vergangenheit konzentrierte und so einen Verfassungspatriotismus „avant la lettre“ beförderte, der 1974 in den Feiern zum 25jährigen Bestehen des Grundgesetzes seinen rituellen Vergegenwärtigungsakt im kulturellen Gedächtnis fand.[124]
Mitte der 70er Jahre hingegen folgte die Erkaltung der visionären Kraft dieses Politikentwurfs: „Auf die Ära der großen Erwartungen folgt die Zeit der großen Ernüchterung und schließlich der Einbruch eines neuen Krisendenkens.“[125] Die Rahmenbedingungen der Republik schienen sich zu ändern (Umweltkrisen, stagnierender europäischer Integrations- und Deutsch-Deutscher-Entspannungsprozess, innenpolitische Krisen um den oben bereits angedeuteten RAF-Terrorismus, Debatten um die innere Sicherheit, etc.) und der von den Konservativen beförderte Diskurs um deutsche „Identität“ kündigte einen Themenwechsel an.[126] Auf den Geist der „Achtundsechziger“ und den sozialliberalen Freiheits- und Veränderungsdiskurs Brandts antworteten nun konservative Politiker und Intellektuelle mit dem Gegenidealen des „Bewahrens“. Sie forderten insbesondere von der historischen Wissenschaft ein „einheitliches Geschichtsbild“[127] der deutschen Geschichte, das eine Aufarbeitung der Vergangenheit möglich mache. Mit dieser „Tendenzwende“ und dem darauffolgenden Streit um ein einheitlich-affirmatives Geschichtsbild oder ein demokratisch-kritisches Geschichtsbewusstsein, war die Arena abgesteckt, in der ein Jahrzehnt später der „Historikerstreit“ um das kulturelle Gedächtnis des deutschen Selbstverständnisses und -bewusstseins ausgetragen werden sollte.
Hatten die 60er Jahre also zum einen eine Diskussion der Primärerfahrungen des kommunikativen Gedächtnisses provoziert und analog auf politisch-justizieller Ebene sich den NS-Verbrechen offensiver zugewandt, so kündigten die 70er Jahre bereits den polarisierenden Streit um die richtigen Formen der Erinnerung an, die den Perspektivenwechsel in den 80er Jahren bestimmen sollten.
[...]
[1] Werbe-Trailer im ZDF vom 18.2.2006.
[2] Angaben zur Einschaltquote in Spiegel Online: „Feuersturm mit Millionenpublikum“, 7.3.2006.
[3] A. Assmann: „Die Nazi-Zeit fasziniert noch immer“, in: taz, 19.2.2005.
[4] Zu nennen wären hier bspw. die „Weizsäcker-Rede“ oder der „Historikerstreit“ (Vgl. Wolfrum: Geschichte als Waffe) bzw. die „Goldhagen-Debatte“ oder der Streit um das „Holocaust-Mahnmal“ (vgl. Klundt: Geschichtspolitik).
[5] Wehler: „Vergleichen – nicht moralisieren“, in: Spiegel Special, Nr.1, 2003. Gleichzeitig können sicherlich Diskursbeiträgen wie W.G. Sebalds Thesen zu „Luftkrieg und Literatur“ ähnlicher Status zugeschrieben werden.
[6] Friedrich: Der Brand; Anonyma: Eine Frau in Berlin.
[7] Wehler: „Vergleichen – nicht moralisieren“, in: Spiegel Special, Nr.1, 2003.
[8] Diese Unterscheidung ist insbesondere für die Textanalyse wichtig, bei der der Text unabhängig von jeglicher vermeintlicher Autorintention auf verschiedenste Erinnerungskomplexe überprüft werden soll. Gleichwohl Grass als Autor der Novelle die Figur „des Alten“ eingefügt hat, die spielerisch immer wieder Parallelen zu Grass selbst aufweist, soll Grass als Person erst bei der Einordnung der Novelle in den Diskurs als Einflussfaktor untersucht werden.
[9] Zur Unterscheidung von „Täter-“ und „Opfergedächtnis“ siehe A. Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 44f. und in Kapitel I.B dieser Arbeit.
[10] Die Begriffe „Indikator“ und „Faktor“ sind dem Sinn nach der historisch-linguistischen Begriffsanalyse von Reinhart Koselleck entnommen. Er beschreibt Begriffe (wie beispielsweise „Faschismus“) als Indikatoren, die Einblicke sowohl in den ideengeschichtlichen als auch gesellschaftlichen Kontext seiner Entstehung und Entwicklung eröffnen, zugleich aber auch als Faktoren, die im diskursiven Gebrauch außersprachliche Veränderungen bewirken, in dem Sinne wie sie „besetzt“ werden (siehe Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 28f.).
[11] Gerade TV-Filme wie Holocaust, die Diskussion um den „8. Mai 1945“ oder die „Goldhagen-Debatte“ verdeutlichen die für die deutsche Erinnerungsgeschichte problematische Zusammenführung von persönlicher Erfahrung der Ereignisse und institutionalisiertem Gedenken derselben, wenn verschiedene Generationen unterschiedliche Bezüge zu den Ereignissen halten, unterschiedliche politische und gesellschaftliche Rahmendeutungen gestellt werden und die schnelllebige Öffentlichkeit der Massenmedien einfach, jedoch damit vereinfachend Geschichtsbilder formt, die den fachakademischen Diskurs an Suggestionskraft mühelos aussticht.
[12] Zur Unterscheidung von „Täter-“ und „Opfergedächtnis“ siehe A. Assmann: Geschichtsvergessenheit, 44f. und in Kapitel I.B dieser Arbeit.
[13] Welzer: Das ist unser Familienerbe. In: taz, 22.1.2005.
[14] Zur diskursanalytischen Verwendung der Begriffe „Faktor“ und „Indikator“ vgl. Fußnote 9.
[15] Diese Kategorisierung ist bisweilen stark schematisch und erhebt keinen Anspruch auf unbedingte Repräsentativität (beispielsweise in der Frage der Generationen). Die Figurentrias ermöglicht es jedoch, hilfreiche analytische Schneisen durch die in der Novelle angelegten Themen zu schlagen.
[16] Insbesondere J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis; A. Assmann: Erinnerungsräume. Für weitere Arbeiten siehe die Referenzen im Folgenden.
[17] Für eine Diskussion zur Frage nach einem Paradigmenwechsel in der Geisteswissenschaft siehe die Beiträge in Jenkins: The postmodern history reader; vgl. zum kulturwissenschaftlichen Ansatz A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 12f.
[18] So die bei Cicero erzählte Urszene der Gedächtniskunst des griechischen Dichters Simonides, der die Toten nach einem Festhalleneinsturz nach ihrem vorherigen Sitzplatz identifizierte und somit ein individuelles Gedächtnis über eine räumliche Struktur erlernte. Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 29f. und 215f.
[19] Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, S. 546.
[20] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 292.
[21] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 300.
[22] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 304.
[23] Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, S. 302.
[24] J. Assmann: „Erinnern, um dazuzugehören“, S. 59.
[25] Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie,
[26] Vgl. zur Unterscheidung „antiquarische“, „monumentalische“ und „Kritische Historie“, Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie, S. 37f.
[27] A. Assmann: Wie wahr sind Erinnerungen, S. 119.
[28] Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Für einen Überblick über Halbwachs Schriften, siehe J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 34–48.
[29] Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 121.
[30] J. Assmann: Erinnern, um dazuzugehören, S.55f.
[31] J. Assmann: Erinnern, um dazuzugehören, S. 62.
[32] Vgl. Freud: Totem und Tabu, S. 142f.; Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 135.
[33] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 31.
[34] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 38f.
[35] Hier bezieht sich J. Assmann zudem auf die Arbeiten von Aby Warburg über kulturelle Objektivationen, vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 137f.; J. Assmann: Erinnern, um dazuzugehören, S. 60f.
[36] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 50.; A. Assmann/Frevert: Geschichtsvergessenheit, S. 38.
[37] A. Assmann: Four Formats of Memory, S. 21.
[38] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 52.
[39] Graphik auf Grundlage der Assmann’schen Ausführungen (Das kulturelle Gedächtnis, S. 38–46) selber erstellt.
[40] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 16.
[41] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 77.
[42] Nora: Zwischen Gedächtnis und Geschichte, S. 32f.; Zu verschiedenen „Erinnerungsorten“ vgl. auch A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 298f.
[43] J. Assmann: Erinnern, um dazuzugehören, S. 56f.
[44] A. Assmann: Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis, S. 182f.; vgl. A. Assmann: Erinnerungsräume, S. 130f.
[45] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 101.
[46] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 93.
[47] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 94. (Normativ im Sinne „Was sollen wir tun bzw. nicht vergessen?“, formativ im Sinne „Wer sind wir?“)
[48] J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 127.
[49] Auf die Ost/West-deutschen Unterschiede wird anhand Grass’ Novelle eingegangen (Siehe Kapitel II.A.ii Geschichte und Politik).
[50] A. Assmann: Geschichtsvergessenheit.
[51] Frevert: Geschichtsvergessenheit, S. 221.
[52] Empirische Untersuchungen zu privaten Familienerinnerungen, die Frevelt 1999 noch vermisst, sind in zwischen zum Beispiel von Welzer (Das soziale Gedächtnis) und Jensen (Geschichte machen) angestoßen worden.
[53] Ebd.
[54] An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass viele geschichtskulturelle Darstellungen der Gedächtnisgeschichte bzw. der Geschichtspolitik mit ganz unterschiedlichen Begriffen vom „kulturellen“, „kollektiven“, „politischen“ oder „sozialen“ Gedächtnis arbeiten. Vgl. z.B. Assmann: Geschichtsvergessenheit; Frei: Vergangenheitspolitik; Niethammer: Diesseits der „Floating Gap“; Welzer: Das Soziale Gedächtnis; Winckler: Griff nach der Deutungsmacht; Wolfrum: Geschichte als Waffe; Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik. Insbesondere historiographische Arbeiten sind geprägt von einem sehr diffusen Begriff vom kulturellen Gedächtnis, vgl. z.B. Simon: Historiographie.
[55] A. Assmann differenziert nochmals zwischen dem kommunikativen Gedächtnis der Generation (im Sinne J. Assmanns), dem „kollektiven Gedächtnis“ im Sinne eines politischen Gedächtnisses und dem kulturellen Gedächtnis. Das politische Gedächtnis ist bereits ein „soziales Langzeitgedächtnis“ im Gegensatz zum generationengebundenen kommunikativen Gedächtnis. Jedoch wird es in seiner zeitlichen Stabilität von radikaler Vereinheitlichung, starker Affektivität und politischer Instrumentalisierung gestützt, was es vom kulturellen Gedächtnis in seiner Symbolhaftigkeit und damit einhergehenden Deutungsnotwendigkeit und -offenheit abgrenzt (A. Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 35–52). In dieser Arbeit werden „politisches“ und „kulturelles Gedächtnis“ als nahverwandt gebraucht.
[56] Neigen laut Assmann das Siegergedächtnis in seiner heroischen Selbststilisierung (Berliner Siegessäule und jährliche Sedan-Feiertage) und das Verlierergedächtnis in seinem revanchistischen Kern („Schmach von Versailles“) zu einer starken affektiven Besetzung von Geschichtsdaten und Immunisierung gegen alternative Wahrnehmung von Geschichte, ist das Tätergedächtnis nicht von Stabilisierung, sonder von einer affektiven, massiven Abwehr von Geschichte geprägt. Der Drang zu vergessen und die Sehnsucht nach einem „Schlussstrich“ „verfestigt sich von innen durch einen kollektiven Habitus des Beschweigens, der auch die nachfolgenden Generationen in seinen Bann zieht, und von außen durch die Mahnung der Opfer“ (A. Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 46f.).
[57] Aleida Assmann untersucht im Verlauf ihrer Arbeit die Besetzung und Verwendung von Begriffen wie „Schlussstrich“, „Normalisierung“ oder „positiver/negativer Nationalismus“, die das politische Gedächtnis im Sinne eines politischen Diskurses seit 1945 bestimmten.
[58] Für geschichtspolitische Debatten im Kaiserreich oder der Weimarer Republik oder um die um die zeitgeschichtlichen Deutungskämpfe um die Bedeutung z.B. der 1848er-Revolution oder auch die Fischer-Kontroverse, siehe jeweils Fröhlich/Heinrich: Geschichtspolitik; Winkler: Griff nach der Deutungsmacht; Wolfrum: Geschichte als Waffe.
[59] Winkler: Griff nach der Deutungsmacht, S. 7.
[60] Wolfrum: Geschichte als Waffe, S. 5.
[61] Echternkamp: Nach dem Krieg, S. 8.
[62] Vgl. die Zeitzeugenberichte in Enzensberger: Europa in Trümmern. Ebenso Moeller: War Stories.
[63] Enzensberger: Europa in Trümmern, S. 32.
[64] Für die diversen visuellen Strategien der Alliierten siehe Brink: Ikonen der Vernichtung, insbesondere S. 36f.
[65] Vgl. z.B. für die Vorstellung in Dachau Steinbacher: Die Verbrechen von Dachau in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
[66] Vgl. die Aussagen über die Wirkungen der Bilder in Brink: Ikonen der Vernichtung, S. 84f.
[67] So Walter von Molo in einem Brief an Thomas Mann, zitiert nach Echternkamp: Nach dem Krieg, S.202.
[68] Das wohl populärste Opfer des Diskriminierungsdiskurses gegenüber Exilanten war der spätere Bundeskanzler Willy Brandt, der auf Grund seines Aufenthalts im norwegischen Exil wiederholt mit dem Vorwurf des Vaterlandsverrates Verunglimpfungsversuchen ausgesetzt war. Vgl. zum Exilantendiskurs Krohn / von zur Mühlen: Rückkehr und Aufbau nach 1945.
[69] Japsers: Die Schuldfrage.
[70] Zu den einzelnen Verbänden siehe Jolles: Zur Soziologie der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge.
[71] Für die Kontroverse siehe Wolfrum: Geschichte als Waffe, S. 58f. Kielmansegg: Lange Schatten.
[72] Vgl. über die Kriegsverbrecherprozesse Echternkamp: Nach dem Krieg, S. 167f.
[73] Echternkamp: Nach dem Krieg, S. 165.
[74] Zu Adenauers Politik siehe Wolfrum: Geschichte als Waffe, S. 106f.
[75] Kielmansegg, Lange Schatten, S. 22.
[76] Vgl. Wolgast: Die unmittelbare Nachkriegszeit.
[77] Ebd., S. 331.
[78] Ebd., S. 336.
[79] Ebenfalls die Kirchen schwiegen sich zum Thema des Holocausts, allenfalls das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ des EKD versuchte sich (wenn auch gegenüber einem metaphysischen Adressaten und nicht den eigentlichen Opfern) mit der eigenen Verantwortung auseinander zu setzen. Von der katholischen Kirche wurde nichts vergleichbares geäußert, vgl. Wolgast: Die unmittelbare Nachkriegszeit, S. 179f.
[80] Vgl. Meuschel: Legitimationsstrategien in der DDR und in der Bundesrepublik. Detaillierter zur Geschichtspolitik der DDR und der Bundesrepublik siehe Abschnitt II.A.ii.
[81] Diese Muster wurden vor allem durch Politiker wie Konrad Adenauer, aber auch Wissenschaftler wie Hans Rothfels getragen, vgl. Wolfrum: Geschichte als Waffe, S. 79.
[82] Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik, S. 148f.
[83] Vgl. Echternkamp, Nach dem Krieg, S. 224f.
[84] Zu den verschiedenen Formen der Gedächtnisorte in der frühen Bundesrepublik insbesondere für die Kriegsopfer, vgl. Reichel: Politik mit der Erinnerung, S.79f, zu den Konzentrationslagern S. 99f.
[85] Interessanterweise wird auch in diesem Film der Holocaust verdrängt: Zwar greift der Film die Verbrechen der Wehrmachtsoffiziere auf, führt jedoch die KZ- und Pogrom-Erfahrung einzelner Figuren eher alibihaft am Anfang auf, um sie dann nicht wieder aufzugreifen (vielmehr richtet die aus dem KZ heimkehrende Susanne gut gelaunt ihr altes Heim wieder her und der Uhrmacher Mondschein hofft geduldig auf seinen Sohn).
[86] Im Vergleich sei auf die spätere Wirkungsmächtigkeit von Büchern wie Die Blechtrommel oder Fernsehfilme wie Holocaust verwiesen. Erst mit dem Wandel der Erinnerungskultur wurde Das Tagebuch der Anne Frank zum kanonischen Text des kulturellen Gedächtnisses.
[87] So das Urteil von Günter Häntzschel (Literatur und Buchkultur in den 50er Jahren). Andere Darstellungen beziehen sich durchaus auf die politische und vergangenheitskritische Literatur der „Gruppe 47“ um Hans Werner Richter und deren kanonischer Wirkung von Autoren wie Grass, Walser, Enzensberger, Böll u.a., vgl. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur nach 1945, S. 79f. Diese „Außenseiter der Außenseiter der Gruppe 47“ (so Häntzschel, S. 227) bestimmten jedoch erst viel später den literarischen Diskurs.
[88] Uka: Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration?.
[89] Vgl. A. Assmann: Geschichtsvergessenheit, S. 67f.
[90] Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 30ff.
[91] Ebd., S.14f. bzw. 57f.
[92] Wolfrum: Geschichte als Waffe, S. 58.
[93] Für eine Darstellung der wichtigsten Themen und Bewegungen, die unter dem Sigle „1968“ subsummiert werden, siehe Kraushaar: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur.
[94] Assmann (Geschichtsvergessenheit) und Wolfrum (Geschichte als Waffe) grenzen mit den Jahren 1958/1960 die erste Phase der deutschen Erinnerungsgeschichte ab. Für eine andere Unterteilung siehe Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik.
[95] Vgl. Frevert: Geschichtsvergessenheit, S. 225.
[96] Zu den Debatten um die Verjährungsfrist und spektakulären Auftritten, siehe Wolfrum: Geschichte als Waffe, S 112.
[97] Zur Diskussion um die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in den 60er Jahren und deren Folgen, siehe Miquel: Aufklärung, Distanzierung, Apologie.
[98] Umfragezahlen und Adenauer-Zitat zitiert in Miquel: Aufklärung, Distanzierung, Apologie, S. 56.
[99] So der Titel des Buches von Christopher Browning aus dem Jahr 1993. Der bezieht sich jedoch mit seiner Arbeit auf ein Hamburger Polizei-Battaillon, das im besetzten Polen Massenerschießungen durchführte.
[100] Vgl. Miquel: Aufklärung, Distanzierung, Apologie, S. 57.
[101] Für die Literatur der 60er Jahre siehe des Weiteren Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 119f.
[102] Insbesondere Andorra von Max Frisch, siehe Schilling: Die Gegenwart der Vergangenheit auf dem Theater.
[103] Für die Filmkultur der beginnenden 60er Jahre siehe Uka: Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration?.
[104] Zur „Frankfurter Schule“ vgl. Nünning: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie.
[105] Adorno zitiert nach Bonacker: Theodor Adorno, S. 172. Siehe Bonacker (Theodor Adorno) auch für weiteres zur Person Adornos und seinem öffentlichen Wirken.
[106] Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. Zitate in der Reihenfolge S. 139, 129.
[107] So der Buchtitel einer Portraitsammlung diverser kritischer Politiker, Künstler, Journalisten und Wissenschaftler von Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck.
[108] Zum Ablauf des Jahres vgl. Kraushaar: 1968 – Das Jahr, das alles veränderte.
[109] Darendorf zitiert in Miquel: Aufklärung, Distanzierung, Apologie, S. 64.
[110] Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, S. 179.
[111] Die Schweizer Wochenzeitung zitiert in Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, S. 13.
[112] Zu dieser Nachkriegsgeneration von Autoren wie Peter Henisch, Elisabeth Plessen, Hermann Kinder oder eben Bernward Vesper siehe Schlant: Die Sprache des Schweigens, S. 106–127.
[113] Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, S. 183.
[114] Vgl. Seeliger: Braune Universität, Band 1.
[115] Vgl. Wolgast: Die unmittelbare Nachkriegszeit, S. 185f.
[116] Zu den einzelnen Fällen vgl. Weisbrod: Akademische Vergangenheitspolitik. Merkwürdigerweise sollten gerade in der Geschichtswissenschaft erst wesentlich später die Befragungen durch die Schüler der Schüler fragwürdiger Historiker wie Theodor Schieder und Werner Conze Mitte der 90er Jahre erfolgen (vgl. Schulze: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus).
[117] Herbert: Der Holocaust in der Geschichtsschreibung, S. 34f.
[118] Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik, S. 222f.
[119] Herbert: Der Holocaust in der Geschichtsschreibung, S. 36f.
[120] Vgl. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 56f.
[121] Vgl. Schönhoven: Wendejahre.
[122] Brandt zitiert nach Wolfrum: Geschichte als Waffe, S. 113.
[123] Zu Heinemann und u.a. der Rastatter Erinnerungsstätte vgl. Frevelt: Geschichtsvergessenheit, S. 235f.
[124] Siehe Fußnote 109.
[125] Bracher: Politik und Zeitgeist, S. 286.
[126] Zu „Tendenzwende“ und der ersten prominenten Verbindung von „Identität“ und deutscher Geschichte durch Hermann Lübbe 1976 siehe Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik, S. 303f.
[127] So der Historiker Helmut Diwald 1967 auf dem Historikertag in Mannheim, zitiert nach ebd., S. 308.
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