Ziel der Arbeit ist es, in Kafkas Romanfragment Der Verschollene, die Geschlechterrollen und Präsentation von Sexualität allgemein zu untersuchen. Während ein Schwerpunkt dabei zwar auf der Frauenfigur Brunelda liegt und auch Johanna Brummer und Klara miteinbezogen werden sollen, beschäftigt sich der erste Teil mit den homoerotischen Tendenzen, die sich innerhalb einiger Männerverbindungen, dem male bonding , zwischen jeweils zwei männlichen Romanfiguren ergeben. In beiden Fällen stehen dabei jedes Mal die Rückschlüsse auf den Romanhelden Karl Roßmann und dessen Verkörperung (oder Nicht-Verkörperung) von Männlichkeit im Mittelpunkt . Ausgehend von Karl und dessen Kontakte mit den anderen Figuren des Romans, stellt sich also die Frage, inwiefern Kafka typische Geschlechterrollenbilder seiner Zeit bestätigt, unterläuft oder sogar umkehrt. Leitfaden soll die Annahme sein, dass Kafkas „Amerika“-Roman „ ‚antipatriarchale‘ dekonstruktive“ (Hochreiter 80) Elemente beinhaltet: seine Figuren sind im Stande, die Grenzen damaliger Geschlechterstereotypen zu verwischen und zu verwirren.
Wie es Susanne Hochreiter treffend formuliert, „ist [es] an der Zeit, die Analyse ausgehend von der [festgestellten] Durchlässigkeit und Brüchigkeit der Geschlechterkonzeptionen auf die männlichen Figuren auszudehnen und noch konsequenter abseits von psychologisch-biographischen Bezügen vom Autor zu entwickeln (Hochreiter 167). Aus diesem Grund ist diese Arbeit bewusst rein textanalytisch angelegt und beschäftigt sich auch ausgiebig mit der in der Sekundärliteratur oft ausgesparten männlichen Homoerotik.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Homoerotik und male bonding
2.1 Der Heizer
2.2 Herr Pollunder und der Onkel
3. Dualität der weiblichen Geschlechterrollen
3.1 Verführung und Kampf (Johanna, Klara)
3.2 Die Brunelda-Episode
4. Schlussfolgerung
5. Bibliographie
1. Einleitung
Betrachtet man die unzähligen Interpretationen die bereits zu Kafkas Werk erschienen sind, so entsteht der Eindruck, dass kaum ein kultureller, geschichtlicher oder biographischer Aspekt diesbezüglich noch nicht beleuchtet und ausgiebig analysiert wurde. Doch noch 1987 findet Reiner Stach einen „geradezu . . . blinden Fleck der Kafka-Rezeption“. Er stellt fest, dass „die Aufmerksamkeit, die bislang den Frauenfiguren Kafkas und deren Präsentation von Weiblichkeit zuteil wurde,“ in einem „auffallenden Mißverhältnis zur weiblichen Präsenz im Werk“ steht (Stach 11). Da kaum ein Autor widerstehen konnte, seine Interpretationen auch rückschließend auf das Leben Kafkas zu beziehen, hielt sich lange das Vorurteil, dass Frauen in seinem Werk und Leben lediglich „Nebensache“ gewesen wären, wie Simela Delianidou Politzer aus dem Jahre 1965 zitiert (Delianidou 11).
Im Folgenden sollen die Frauenfiguren aber nicht separat auf ihre Präsentation von Weiblichkeit des frühen 20. Jahrhunderts untersucht werden. Ziel der Arbeit ist es, in Kafkas Romanfragment Der Verschollene, die Geschlechterrollen und Präsentation von Sexualität allgemein zu untersuchen. Während ein Schwerpunkt dabei zwar auf der Frauenfigur Brunelda liegt und auch Johanna Brummer und Klara miteinbezogen werden sollen, beschäftigt sich der erste Teil mit den homoerotischen Tendenzen, die sich innerhalb einiger Männerverbindungen, dem male bonding[1], zwischen jeweils zwei männlichen Romanfiguren ergeben. In beiden Fällen stehen dabei jedes Mal die Rückschlüsse auf den Romanhelden Karl Roßmann und dessen Verkörperung (oder Nicht-Verkörperung) von Männlichkeit im Mittelpunkt[2]. Ausgehend von Karl und dessen Kontakte mit den anderen Figuren des Romans, stellt sich also die Frage, inwiefern Kafka typische Geschlechterrollenbilder seiner Zeit bestätigt, unterläuft oder sogar umkehrt. Leitfaden soll die Annahme sein, dass Kafkas „Amerika“-Roman[3] „ ‚antipatriarchale‘ dekonstruktive“ (Hochreiter 80) Elemente beinhaltet: seine Figuren sind im Stande, die Grenzen damaliger Geschlechterstereotypen zu verwischen und zu verwirren.
Wie es Susanne Hochreiter treffend formuliert, „ist [es] an der Zeit, die Analyse ausgehend von der [festgestellten] Durchlässigkeit und Brüchigkeit der Geschlechterkonzeptionen auf die männlichen Figuren auszudehnen und noch konsequenter abseits von psychologisch-biographischen Bezügen vom Autor zu entwickeln (Hochreiter 167). Aus diesem Grund ist diese Arbeit bewusst rein textanalytisch angelegt und beschäftigt sich auch ausgiebig mit der in der Sekundärliteratur oft ausgesparten männlichen Homoerotik.
2. Homoerotik und male bonding
2.1 Der Heizer
Literatur spiegelt zu einem gewissen Grad auch immer das kulturelle Zeitbild der Gesellschaft wieder. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert, war diese, was aktives öffentliches Leben betrifft, klar patriarchalisch dominiert. Dementsprechend behandeln auch die Romane der meist männlichen Autoren die Geschichte eines männlichen Protagonisten und präsentieren sowohl Handlung als auch weitere Figuren (einschließlich der weiblichen) aus einer männlichen Perspektive. Interessanter Weise führt diese zunächst einseitig erscheinende und männlich überladene Ausgangssituation jedoch nicht zwangsweise auch zu Darstellungen prototypischer und heldenhafter Männlichkeit. Es führt im Gegenteil sogar zur Beschreibung von unterschwellig homoerotische Beziehungen und diese sind meist als äußerst „unmännlich“ und „verweichlicht“ konnotiert. Genau dies ist in der „Heizer“-Episode der Fall.
Der Heizer ist die erste Person, der Karl seit Romanbeginn eher zufällig auf dem Schiff begegnet. Auffallend ist zunächst Karls misstrauische und zurückhaltende Art, während der „riesige[r] Mann“ ihn nicht nur rasch in die Kabine schiebt (8), sondern auch, aus Platzmangel, „gerade zu rauh“ und „gegen die Brust“ in sein Bett stößt (9). Obwohl ein Bett durchaus eine Sitzgelegenheit sein kann und das ultimative (nächtliche) Ruhemöbel ist, so steht es doch auch für Intimität und ist ein Ort der Sexualität, was der Szene von Anfang an einen leichten homo-erotischen Beigeschmack gibt. Im jeden Fall steht das Bett für etwas privates Eigenes, das man nur besonderen Menschen zugänglich macht. Die ganze Beschreibung der Kabine und vor allem des Bettes, kreiert ein intensives Gefühl von Enge und Nähe- als der Heizer seine Beine streckt, muss Karl bereits „mehr an die Wand rücken“ (10)- was die beiden Männer nicht nur räumlich, sondern auch geistig und körperlich zu verbinden scheint.
Erstaunlich schnell sprechen die beiden Männer über ihre Sorgen und Probleme, ohne überhaupt jemals ihre Namen bekannt zu geben. Gegenseitige Identifikation- Karls „Jetzt könnte ich auch Heizer werden“ (10) und „Dann sind Sie mein Mann“ (11) aus dem Munde des Heizers- scheinen diesen Platz einzunehmen und bewunderungsvolle Respektzollung auszudrücken. Sogleich fühlt sich Karl auf dem Bett „heimisch“ (12), und „von allen Sorgen . . . befreit[en]“. Von dem Heizer scheint diese Geborgenheit auszugehen; immerhin lässt er Karl in seine persönlichste Sphäre eindringen. Die außerordentliche Wertschätzung zeigt sich ebenfalls an Karls Bedauern seine Veroneser Salami nicht zur Hand zu haben, „um sie dem Heizer zu verehren“ (13). Er ist also bereit, „die Extragabe“ (13) der Mutter nicht nur zu teilen, sondern sogar ganz abzugeben. Hier offenbart sich insgesamt das Phänomen des male bondings: beide Männer haben sich im privaten Raum ihre Schwächen und Sorgen anvertraut, sie fühlen sich dadurch verbunden und „verbrüdert“. Es entsteht ein Band der Männerfreundschaft, in dem Frauen nicht benötigt werden, bzw. gerade durch die Abwesenheit von weiblichen Figuren überhaupt erst entstehen kann.
In diesem ersten Abschnitt, der sich in der Kabine des Heizers abspielt, nimmt Karl eindeutig die Rolle des schutzbeholfenen Jünglings ein. Der Heizer hingegen bietet genau diesen Schutz, sowie vertraute Nähe und Wärme bietet, die eine „ideale Vaterfigur“ (Tröndle 89) ausmacht. Trotz allem ist es wichtig zu bemerken, dass sich Karl dennoch dem Heizer übergeordnet zu fühlen scheint, da er ihn mit den „niedrigeren Angestellten“ des Vaters assoziiert und gedanklich „solche[n] Leute[n]“ (13) zuordnet. Diese Hierarchie setzt sich im Verlauf des Kapitels fort, als die beiden die Kabine verlassen und im Büro des Kapitäns vorstellig werden. Hier kehrt sich nicht nur das Verhältnis zwischen Schützling/Schutz-Bietender um, sondern die homoerotische Komponente der Beziehung wird zudem stärker sichtbar. Beides spiegelt sich einleitend im Blick des Heizers wieder, der Karl ansieht „als sei dieser sein Herz, dem er stumm seinen Jammer klagte“ (17). Diese Augensprache hat große Ähnlichkeit mit einem hilflosen Kind, das Beistand und Rat beim Vater sucht. Genauso agiert Karl dann auch im folgenden Streitgespräch mit dem Kapitän. Darüber hinaus schwingen bei dem Wort „Herz“, als Symbol der Liebe oder Kosenamen für eine geliebte Person, zum anderen aber auch besondere und innige Gefühle mit. Delianidou, auf Claudia Liebrand verweisend, erkennt gleichwohl „daß Karl mit dem Heizer ‚keine Männerfreundschaft‘, sondern ein ‚echtes und heftiges Gefühl: Liebe‘ verbinde“, räumt aber ein, dass diese ihres Erachtens „an dieser Stelle [aber] nicht homosexueller Natur, sondern die zwischen Vater und Sohn [sei]“ (Delianidou 182). Dem kann entgegengesetzt werden, dass homoerotisch natürlich nicht gleich homosexuell bedeuten muss und ersteres in Sätzen wie „[u]nd er ging langsam zum Heizer, zog dessen rechte Hand aus dem Gürtel und hielt sie spielend in der seinen“ (36) stärker repräsentiert ist, als die übertragene Liebkosung eines Vaters zu seinem Sohn.
[...]
[1] Ich habe bewusst den englischen Begriff gewählt, da das deutsche „Männerbund“ m.E. irreführend ist. Male bonding hingegen steht im Zusammenhang mit Eve Sedgewicks Theorie der Homoziologie, die „ein Kontinuum sozialer und sexueller Beziehungen zwischen Personen gleiche Geschlechts umschreibt“ („Eve Sedgewick“ Metzler Gender Studies. 2002 ed. S.354) und „strukturelle Verbindungen und Beziehungen (persönlicher, geschäftlicher oder ideologischer Art)“ („Männerbünde“ Metzler Gender Studies. 2002 ed. S.247 ) betrifft. Es geht also rein um die soziale Komponente dieses Begriffs.
[2] Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass „männlich“ und „weiblich“ als stereotype Bezeichnungen nur deswegen plakativ benutzt werden, um auf die damaligen, mehr als heute festgelegten, Geschlechterrollenbildern zu rekurrieren.
[3] Im Folgenden soll nur noch Der Verschollene als Titel benutzt werden und nicht Brods Ersatzname „Amerika“. Desweiteren werden Zitate aus der Primärquelle lediglich durch die Seitenzahl und ohne Angabe des Autors angegeben.
- Arbeit zitieren
- Alexandra Oswald (Autor:in), 2007, Duale Geschlechterrollen und Homoerotik in Franz Kafkas Romanfragment "Der Verschollene", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/84552
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