Leseprobe
Befreiung durch Fußball
Der herausragendste Tag im Leben des elfjährigen Pastorensohns, der in dem kleinen hessischen Dörfchen Wehrda aufwächst, beginnt wie jeder andere Sonntag: Scheinbar ewig andauernde fünfzehn Minuten läuten die Glocken der Kirche, die direkt neben dem Pfarrhaus steht, prügeln den Jungen an dem freien Tag unsanft aus dem Bett, dringen gleichzeitig massiv in seine Privatsphäre ein. Er versucht noch vergeblich, die schönen Träume aus der vergangenen Nacht festzuhalten und fort zu spinnen, doch musste sich letztendlich der forcierten Eindringlichkeit der akustischen Prügel geschlagen geben.
Der Rezipient bemitleidet den Protagonisten aus Friedrich Christian Delius’ Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“, das 1996 erstmalig erschienen ist. Sie handelt von dem Sonntag, an dem die besiegte Nation Deutschland zum ersten Mal nach dem Krieg neues Selbstbewusstsein erlangt: dem 4. Juli 1954, an dem das Finale der Weltmeisterschaft stattfindet. Erst bei genauerer Untersuchung fällt auf, dass das Werk autobiografisch ist und somit das autoritäre Klima Delius’ Kindheit in der rationalen, regelstrotzenden Zeit der Fünfziger beschreibt.
Der Tag des Pfarrersohnes wird minutiös verfolgt. Das allmorgendliche Frühstück, das am höchsten christlichen Feiertag der Woche ohne die Schule etwas stressfreier ist, besteht wie alles andere aus religiösen Dogmen und Vorgaben. Das heilige Brot, die Ermahnungen der Mutter, sparsam mit den Lebensmitteln umzugehen und nicht zu schnell zu essen, und das wenige Reden aus Angst, von ihm ginge eine Gefahr aus und das Essen brauche eine innere Andacht, lassen den Jungen träumen „von Mahlzeiten mit lauter Lebensmitteln, die nicht von Gottes Gnade vergiftet“ sind.
Im Hause der Eltern ist alles von Gott gegeben: An den Allmächtigen zu denken und ihm zu danken, muss in allen Handlungen erkennbar sein. Hier wird der Terror der sanften Erziehung deutlich, wobei Delius es aber schafft, eine kunstvolle Spannung zwischen dieser omnipräsenten Macht und Geborgenheit aufzubauen. Denn durch religiöse Bilder und Begriffe drückt der Autor geschickt die Zweifel des Jungen an sich selbst und seinem Glauben aus. Dieser leidet bereits sein Leben lang an Schuppenflechte und Nasenbluten, zudem stottert er stark. Diese Symptome können seiner Meinung nach nur eine Bestrafung Gottes sein, allerdings fragt er sich, wofür. Er nimmt die unterdrückende Religion als Angelhaken wahr, der sich ins Fleisch bohrt und ihn nicht loslässt, aber ihn gleichzeitig droht zu ersticken. Aus diesem Grund nutzt er seinen Sprachfehler von Zeit zu Zeit absichtlich aus, um nicht richtig zu funktionieren und so eine stille Verweigerung auszuüben.
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- Arbeit zitieren
- Bachelor of Arts Isabelle Strohkamp (Autor), 2006, Rezension zu Friedrich Christian Delius "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde.", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85488
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