Unter differentiellem Lernen versteht man einen Ansatz im Bewegungslernen, der im Gegensatz zur methodischen Übungsreihe steht. Beim Ansatz des differentiellen Lernens und Lehrens (differential learning approach) wird die Offenheit, Dynamik und Komplexität des Systems Mensch für das erlernen von Bewegungsmustern genutzt, um durch eine Vielzahl von Übungsdifferenzen einen selbstorganisierenden Prozess auszulösen und das finden des eigenen Bewegungsoptimum zu ermöglichen, ohne ein fremdes Vorbild kopieren zu müssen (Birklbauer 2006).
Viele Studien belegen die Überlegenheit des differentiellen Ansatzes im vergleich zum klassischen Trainingsansatz (Römer & Schöllhorn 2003; Schöllhorn, Röber, Jaitner, Hellstern & Käubler 2001; Beckmann & Schöllhorn 2003; Sechelmann & Schöllhorn 2003; Schöllhorn, Sechelmann, Trockel, Westers 2004). Ziel der Arbeit ist es dem Leser die aktuellsten Untersuchungen zum differentiellen Lernen im Fußball näher zu bringen und ein grundlegendes Wissen über die Modelle der Bewegungsteuerung und des motorischen Lernens zu vermitteln.
Inhaltsverzeichnis
1 Differentielles Training: Modeerscheinung oder Notwendigkeit?
2 Systemdynamische Modelle (action approaches)
2.1 Der Ansatz von Bernstein
2.1.1 Die Bernsteinsche Koordinationshypothese: „from freezing to freeing"
2.1.2 Der ganzheitliche Charakter der Bewegung
2.2 Der ökologische Ansatz nach Gibson (ecological approach)
2.2.1 Time to contact Hypothese
2.2.2 Affordanzen
2.2.3 Kritikpunkte am ökologischen Ansatz
2.3 Synergetik - Die Lehre vom Zusammenwirken
2.3.1 Grundbegriffe der Synergetik
2.3.2 Die Selbstorganisation des Lasers
2.3.3 Das Haken-Kelso-Bunz-Modell für gekoppelte Fingerbewegungen
3 Differentielles Lernen nach Schöllhorn
3.1 Traditionelles und differentielles Verständnis von Variation
3.2 Variationsmöglickeiten
3.3 Kritik an den klassischen Lernmethoden
3.4 Andere Konzepte des variablen Übens
4 Ausgewählte Studien zum differentiellem lernen
4.1 Differenzielles Lernen im Kugelstoßen
4.2 Differentielles Training der Sprungkraft im Nachwuchshandball
4.3 Differentielles Training des Fußballtorschusses
4.4 Differentielles Training des Fußballpassspieles
5 Zusammenfassung
6 Literaturverzeichnis/ Abbildungsverzeichnis
1 Differentielles Training: Modeerscheinung oder Notwendigkeit?
Immer wieder wird die österreichische Form, Fußball zu spielen, mit der brasilianischen verglichen. Auf der einen Seite werden mehr mannschaftsdienliche, strukturierte und kämpferische Betonungen vermutet und auf der anderen Seite eher zusammengewürfelte Individualisten mit eher künstlerischem, kreativem Charakter entdeckt. Unter allen Anforderungen, die der moderne Fußball heutzutage an den Spieler stellt, ist die Beherrschung des Balles unter Raum, Zeit und Gegnerdruck eine der wesentlichsten, wenn nicht sogar die Wesentlichste. Individuallisten wie Christiano Ronaldo, Thierry Henry, Lionel Messi, Ronaldinho oder Kaka, um nur die aktuellsten zu nennen, die durch ihre individuelle Technik und Kreativität die Massen begeistern können, sind im Fußball das Salz in der Suppe und oft der Schlüssel zum Erfolg ihrer Teams. Betrachtet man die Mannschaften in Österreich und auch das österreichische Nationalteam unter diesem Aspekt, so fehlen oft solche Individualisten.
Ein übergeordnetes Ziel in der Ausbildung von Fußballspielern muss es daher sein, die Individualität eines Spielers zu fördern und nicht jeden Spieler in das gleiche technisch, taktische Konzept zu pressen, wie es in den letzten Jahren, vor allem im deutschsprachigen Raum der Fall war.
In unmittelbarer Verbindung hierzu sind die südamerikanische und österreichische Form der Fußballdarbietung wohl als Resultat unterschiedlicher Ausbildungssysteme zu betrachten. Bei den einen spielerisches Lernen am Strand, in Hinterhöfen, auf Straßen, zum Teil barfuss und auf schlechten Rasenplätzen in Verbindung mit scheinbar unkontrolliert zusammengewürfelten Mannschaften, bei den anderen systematisches Training auf englischem Rasen und in gebohnerten Hallen, gepaart mit strukturierter Planung und Organisation von frühester Kindheit an (Schöllhorn, 2004). Beide Ausbildungssysteme verfolgen das gleiche Ziel, nämlich am Ende der Ausbildungsschiene Spieler ausgebildet zu haben, die unter höchster Spielgeschwindigkeit und unter Gegnerdruck sich der jeweiligen Situation anpassen und die bestmögliche Lösungsmöglichkeit finden.
Da die Spieler sich in immer kürzeren Zeiten an neue Situationen anpassen müssen, sollte der Spieler von Beginn an resistent gegen Störungen der unterschiedlichsten Art gemacht werden. „Betrachten wir die Vielzahl an Störungen die während einer Aktion im modernen Fußball durch Ball, Gegner, Rasen und eigene Bewegungen auftreten können, so wird deutlich, dass eine identische Situation nahezu unmöglich ein zweites mal auftreten wird“ (Schöllhorn, 2004).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb1.: Störungen im Fußball bei groß und klein (Ball, Gegner, eigene Bewegungen).
Daher wird das Ziel des Einschleifens von Bewegungsabläufen (Martin/Carl/Lehnertz 1991; Bisanz 2000) grundlegend in Frage gestellt.
Das klassische Training verfolgt den Gedanken eine vordefinierte idealisierte Zielbewegung einzuschleifen. Diese Bewegung soll auch unter veränderten Bedingungen stabil reproduziert werden (Sechelmann 2002). Außerdem wird versucht mittels Lern- und Korrekturhilfen Fehler in den Bewegungsabläufen zu vermeiden (Bisanz 2000).
„Trotz des Wissens um die Individualität und Nichtwiederholbarkeit von Bewegungen wird allzu häufig an traditionellen, vorbildorientierten Ansätzen, mit der Forderung Bewegungen einzuschleifen, festgehalten. Variabilität und Kreativität erhält im Training leider nur sporadisch ergänzenden Charakter. Ein neuer Ansatz, der beide Problembereiche nicht nur theoretisch erkennt, sondern in der Praxis aufgreift, ist das differentielle Lernen und Lehren (Schöllhorn 2004).“
Unter differentiellem lernen versteht man daher einen Ansatz im Bewegungslernen, der im Gegensatz zur methodischen Übungsreihe steht. Beim Ansatz des differentiellen Lernens und Lehrens (differential learning approach) wird die Offenheit, Dynamik und Komplexität des Systems Mensch für das erlernen von Bewegungsmustern genutzt, um durch eine Vielzahl von Übungsdifferenzen einen selbstorganisierenden Prozess auszulösen und das finden des eigenen Bewegungsoptimum zu ermöglichen, ohne ein fremdes Vorbild kopieren zu müssen (Birklbauer 2006).
Viele Studien belegen die Überlegenheit des differentiellen Ansatzes im vergleich zum klassischen Trainingsansatz (Römer & Schöllhorn 2003; Schöllhorn, Röber, Jaitner, Hellstern & Käubler 2001; Beckmann & Schöllhorn 2003; Sechelmann & Schöllhorn 2003; Schöllhorn, Sechelmann, Trockel, Westers 2004). Ziel der Arbeit ist es dem Leser die aktuellsten Untersuchungen zum differentiellen Lernen im Fußball näher zu bringen und ein grundlegendes Wissen über die Modelle der Bewegungsteuerung und des motorischen Lernens zu vermitteln
Auf den folgenden Seiten werden im Hauptteil die Modelle des systemdynamischen Ansatzes beschrieben, um den Ansatz des differentiellen Lernens, der genauer beleuchtet wird, besser beurteilen zu können. Im Anschluss daran werden Trainingstudien vorgestellt, die den klassischen Trainingsansatz mit dem differentiellem vergleichen (allgemein und Fußballspezifisch), um neue Anregungen für die Trainingspraxis zu geben.
2 Systemdynamische Modelle (action approaches)
Die Bewegungswissenschaft umfasst also zwei große Teilbereiche, die sich in ihrer Theoriebildung zwingend ergänzen. Ihre zentralen Fragestellungen lauten:
- Wie werden Bewegungen kontrolliert und gesteuert?
- Wie werden Bewegungen gelernt?
Ohne die Kenntnis über die Bewegungssteuerung kann motorisches Lernen nicht begriffen werden, denn motorisches Lernen ist nichts anderes als die erfahrungsbedingte Veränderung der Bewegungssteuerung im Lauf der Übungszeit (Birklbauer 2006).
„… only by employing both, „information process“ and „movement process“ approaches, we are going to be able to gain fuller insights into the many parts of human behaviour” (Kelso 1982)
Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen wird auf den folgenden Seiten nur der systemdynamische Ansatz dargestellt. Andere Modelle der Informationsverarbeitung (Open-Loop, Closed-Loop, Mixed approaches, GMP Theorie) liefern wertvolles Wissen über die Bewegungsteuerung und Bewegungskontrolle, werden aber in dieser Arbeit nicht genauer erläutert.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die oben genannten Modelle deutliche Schwächen aufweisen, wenn es um die Frage der motorischen Variabilität und Flexibilität geht. Ein Ansatz der versucht Informationsverarbeitung aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten ist der systemdynamische Ansatz der im nächsten Kapitel besprochen wird.
Der Grundgedanke des systemdynamischen Ansatzes besteht in der Betrachtung von Verhalten und dessen zeitlicher Veränderung als emergente Prozesse. Von Interesse sind Aspekte des Verhaltens die auf die Interaktion vieler Systemkomponenten basieren und dadurch eine Qualität besitzen die in den einzelnen Komponenten nicht enthalten ist, sonders sich erst aus der Komplexität des Ganzen ergibt. (Willimczik, 1999).
Während die Modelle der Informationsverarbeitung z.B. einen heran fliegenden Fußball als visuelle Information ansehen und danach frage, wie dies vom Spieler aufgenommen wird, ob in Abhängigkeit von der Ballgeschwindigkeit unterschiedliche motorische Programme initiiert werde, ob bei der Bewegungsausführung noch Feedbackmechanismen regulativ wirksam werden können, betrachten die systemdynamischen Modelle hingegen den korrekt ausgeführten Schuss und Fragen auf Grund welcher allgemeiner Prinzipien es dem Sportler gelingt, die korrekte Position zur richtigen Zeit einzunehmen. (Birklbauer, 2006)
Das Prinzip der Systemdynamischen Modelle nimmt sich den Anspruch auf Generalität heraus, man versucht also Phänomene aus ganz unterschiedlichen Bereichen beschreiben zu können.
Die Ursprünge aller Konzepte die unter der Bezeichnung systemdynamischer Ansatz in der Motorikforschung Einzug gehalten haben sind zu suchen in der:
- Gestaltpsychologie
- Wahrnehmungspsychologie
- Konnektionismus
- Synergetik
- Chaostheorie
Psychologische Ursprünge sind in der Gestaltpsychologie und der ökologischen Wahrnehmungspsychologie nach Gibson, naturwissenschaftliche in der Chaostheorie, Synergetik und dem Konnektionismus zu sehen.
In der vorliegenden Arbeit wird besonders auf die Ansätze von Bernstein und Gibson (Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie) eingegangen, die als Wegbereiter der Modernen Modelle angesehen werden. Außerdem auf die Theorie der Synergetik, die in den 80er und 90er Jahren Einzug in die Bewegungswissenschaft genommen hat, und zurzeit die umfassendste Theorie liefert.
Der russische Neurophysiologe und Biomechaniker Nikolai A. Bernstein sowie der Begründer der ökologischen Wahrnehmungspsychologie, James J. Gibson, gelten als Urväter der Selbstorganisationskonzepte in der Motorik. Als Leitgedanke dient das von Bernstein (1975) formulierte Problem der Freiheitsgrade (degrees of freedom problem). Die Bewältigung einer motorischen Aufgabe macht es notwendig, aus einer Vielzahl an Lösungsmöglichkeiten, die unserem motorischen System zur Verfügung stehen, auszuwählen bzw. die überflüssigen Freiheitsgrade des Bewegungsapparates zu koordinieren. In diesem Sinne versteht Bernstein die Kontrolle und Steuerung von Bewegungen ganzheitlich als das Überwinden der überflüssigen Freiheitsgrade des sich bewegenden Organs. (Birklbauer, 2006)
2.1 Der Ansatz von Bernstein
Bernstein (1896-1966) gilt als Begründer der Selbstorganisation in der Motorik. Seine Veröffentlichungen wurden aufgrund der damals vorherrschenden Reiz-Reaktions-Theorie Pawlows erst mit jahrzehntelanger Verzögerung übersetzt und international anerkannt.
Bernstein begründete als erster das Problem der Freiheitsgrade. Die Freiheitsgrade eines dynamischen Systems entsprechen „der Gesamtzahl der alternativen Zustände, die die einzelnen Systemteile im Rahmen des Gesamtsystems prinzipiell einnehmen können.“ (Nitsch & Munzert, 1997) Allgemein sind Freiheitsgrade die Vielzahl von Entfaltungsmöglichkeiten eines Systems, wobei kinematische (abhängig von der Vielgliedrigkeit der kinematischen Ketten) und elastische Freiheitsgrade (bedingt durch die Elastizität der bewegenden Muskeln und demzufolge durch das Fehlen von eindeutigen Beziehungen zwischen dem Maß der Aktivität der Muskeln, ihrer Spannung, Länge und der Geschwindigkeit ihrer Längenänderung) zu unterscheiden sind (Bernstein, 1975)
Laut Kelso (1997) enthält der menschliche Körper einerseits „roughly 10^2 joints, 10^3 muscles, 10^3 cell types and 10^14 neurons an neuronal connections“ ist andererseits „multifunctional and behaviorally complex.“ Nach Schätzungen von Stelmach und Diggles (1982) hat das menschliche Motoriksystem 2117 Kombinationsmöglichkeiten.
Gröben (2000) geht davon aus, dass 792 Freiheitsgrade der kinematischen Endglieder eines zwischen aktiven und passiven Kräften wechselwirkenden Bewegungsapparates koordiniert werden müssen.
Das bis heute nicht vollständig geklärte, als zentrales Problem der Bewegungskoordination geltende Degrees-of-freedom-Problem, auch als Redundanz- oder Bernstein-Problem bekannt, bezeichnet die Schwierigkeit der Kontrolle bzw. Überwindung überflüssiger Freiheitsgrade. Bernstein erkannte, dass der menschliche Bewegungsapparat über mehr Körpergelenke und Muskeln verfügt, als für die Lösung einer speziellen motorischen Aufgabe notwendig sind.
Nach Berstein besteht aufgrund der enormen Anzahl von Freiheitsgrade und der Gegenwart reaktiver Kräfte und Gegenkräfte kein eindeutiger Zusammenhang zwischen zentralem Impuls (dem Innervationsmuster) und der resultierenden Bewegung. Das heißt dieselbe Reihenfolge von Kräften kann bei Wiederholungen zu verschiedenen Bewegungen führen. Die Abhängigkeit ist umso geringer, je komplexer die Bewegung gesetzte kinematische Kette ist. Bewegungen sind nur dann möglich, wenn eine subtile, kontinuierliche, zuvor nicht vorhersehbare Abstimmung der zentralen Impulse mit den Erscheinungen in der Körperperipherie, dem äußeren Kraftfeld, stattfindet.
Bernstein geht davon aus, dass der Bewegungskoordination allgemeine Repräsentationen zugrunde liegen. Die äußerlich erscheinenden Bewegungen werden nicht allein durch motorische Programme, sondern auch an der Peripherie reguliert. Somit bezeichnet die Koordination einer Bewegung die Kontrolle peripherer Freiheitsgrade in Beziehung zur zentralen Steuerung. Je uneindeutiger der Zusammenhang zwischen Zentrum und Peripherie, je komplizierter und inkonstanter sich die tatsächliche Abhängigkeit zwischen Impuls und Bewegung erweist und je größer die Anzahl der Freiheitsgrade der Peripherie bezüglich des zentralen Effektors ist, umso komplizierter und subtiler ist die Organisation der Steuerung, die Bewegungskoordination.
Im Weiteren formulierte Bernstein seine Koordinationshypothese: „From freezing to freeing.“
2.1.1 Die Bernsteinsche Koordinationshypothese: „from freezing to freeing"
Nach Bernstein ist die Koordination die Organisation der Steuerbarkeit des Bewegungsapparates. (Bernstein, 1975)
Bernstein nahm an, dass das motorische Lernen, das in der allmählichen Beherrschung der Freiheitsgrade besteht, in drei Stadien erfolgt, der Verminderung, der Exploration und der Ausnutzung der Freiheitsgrade. (Pesce, 2003)
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- Quote paper
- Bacc. Manuel Pircher (Author), 2007, Der systemdynamische Ansatz. Differntielles Lernen im Fußball., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85535
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