„Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft...“

Die Dramentheorie von Jakob Michael Reinhold Lenz - mit Bezug auf „Der neue Menoza“ und „Der Engländer“)


Examensarbeit, 2005

78 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Aristoteles: Poetik
2.1 Die Entstehungszeit der Poetik
2.2 Dichtung als Nachahmung
2.3 Die Tragödientheorie
2.4 Die Komödientheorie

3. Allgemeine Strömungen im Sturm und Drang
3.1 Dichtung des Sturm und Drang
3.2 Geniekult und das Vorbild Shakespeares
3.2.1 Der Shakespeare-Aufsatz Herders
3.2.2 Goethe: Zum Schäkespears Tag
3.2.3 Lenz: Über die Veränderung des Theaters im Shakespear
3.3 Die Dramentheorie Gotthold Ephraim Lessings
3.3.1 Die Hamburgische Dramaturigie Gotthold Ephraim Lessings

4. Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater
4.1 Die Entstehung der Anmerkungen übers Theater
4.2 Die Form der Anmerkungen übers Theater
4.3 Der Aufbau der Anmerkungen übers Theater
4.4 Das Wesen der Poesie
4.5 Zum Gegenstand der Nachahmung
4.6 Die drei Einheiten
4.7 Das französische Theater und Shakespeare
4.8 Lenz und Aristoteles
4.9 Die Dramentheorie
4.9.1 Die Tragödientheorie
4.9.2 Die Komödientheorie und Mischung der Gattungen
4.10 Lenz´ Notiz Für Wagnern (Theorie der Dramata)

5. Jakob Michael Reinhold Lenz: Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi
5.1 Entstehung- und Textgeschichte des neuen Menoza
5.2 Analyse des Stücks Der neue Menoza
5.2.1 Die Handlungsstruktur im neuen Menoza
5.2.2 Zeit und Raum
5.2.2.1 Zum Umgang mit der Zeit
5.2.2.2 Zum Umgang mit dem Raum
5.2.3 Das dramatische Personal
5.2.4 Das Prinzip des Zufalls
5.2.5 Die Schlussszenen
5.3 Gattungstheoretische Einordnung des neuen Menoza

6. Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Engländer
6.1 Entstehungs- und Textgeschichte des Engländer
6.2 Analyse des Engländer
6.2.1 Handlungsstruktur
6.2.2 Umgang mit den drei Einheiten
6.2.2.1 Einheit des Ortes
6.2.2.2 Einheit der Zeit
6.2.2.3 Einheit der Handlung
6.2.3 Das dramatische Personal
6.3 Gattungstheoretische Einordnung des Engländer

7. Schluss

Literaturverzeichnis

„Doch ich bitte Sie sehr zu bedenken, gnädige Frau! daß mein Publikum das ganze Volk ist...“

Brief an Sophie La Roche. Aus: Lenz, Jacob Michael Reinhold: Werke und Schriften in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München 1987. Siehe Briefe 1, S. 115

1. Einleitung

„Die Anmerkungen übers Theater (...) sind wohl die eigenartigste und eigenwilligste Schrift, die sich in der deutschen Literatur mit der Theorie der Dichtung und mit der ästhetischen Reflexion einer Gattung, des Dramas, beschäftigt. (...) Sie sind der Versuch der ersten poetologischen Begründung einer neuen Form des Dramas, die für die Folgezeit bis in die jüngste Gegenwart hinein ungemein fruchtbar wurde“[1].

Dies schrieb Martini bereits 1970 und er hat bis in die Gegenwart hinein nichts an Aktualität verloren. Die Anmerkungen sind ohne Zweifel eine der wichtigsten dramentheoretischsten Schriften des Sturm und Drang. Hierin soll auch die Motivation dieser Arbeit liegen. Lenzens Dramentheorie wird zwar seit einiger Zeit mit entsprechender Schätzung bewertet, doch wurde sein Werk bis in 1960er Jahre hinein entweder ganz aus der Literaturgeschichte ausgeblendet oder abgewertet. Ob das angestiegene Interesse der Literaturwissenschaft an Lenz von Dauer sein wird, ist noch nicht klar.

Diese Arbeit versteht sich als Versuch, das neu entdeckte Interesse an Lenz zu unterstützen und die Wichtigkeit seiner dramentheoretischen Äußerungen nicht nur für die Sturm-und-Drang-Zeit, sondern auch bis in die zeitgenössische Gegenwart hinein hervorzuheben. Die Anmerkungen übers Theater signalisieren zwar eine deutliche Kritik an der bestehenden Praxis, deuten aber Lenzens eigene Alternative nur an. Da die Annmerkungen vor der Vollendung seiner meisten Dramen formuliert wurden, sind sie nur im Zusammenhang mit seinen späteren dramentheoretischen Äußerungen und seiner Dramen zu interpretieren. Eben dies will ich im Rahmen dieser Arbeit versuchen. Beginnen werde ich mit einer Einführung in die Poetik des Aristoteles, da eben diese die Grundlage der Lenzschen Kritik an den zeitgenössischen Gattungskonventionen darstellt. Um einen Einblick in Lenzens literarische Gegenwart zu bekommen, folgt darauf eine Übersicht zu allgemeinen Strömungen im Sturm und Drang, wobei nicht nur die Literatur, sondern auch der Geniekult und das Vorbild Shakespeares eine Rolle spielen soll. Auch Lessings Dramentheorie wird an dieser Stelle Beachtung finden, da er es ist, auf den sich Lenz unausgesprochen in den Anmerkungen übers Theater bezieht, wenn die aristotelische Regelpoetik kritisiert wird. Der Fokus dieser Arbeit soll auf den nun folgenden Teilen liegen. Es wird sich dabei um eine genaue Analyse der Anmerkungen übers Theater sowie anderen dramentheoretischen Äußerungen Lenzens handeln. Ob Lenz seine Forderungen an das neue Theater in die literarische Praxis umsetzen kann, zeigen die darauf folgenden Teile, die sich mit der Analyse zwei seiner Dramen beschäftigen werden. Den neuen Menoza bezeichnete Lenz nach einigem Wanken als Komödie, den Engländer hingegen als dramatisches Phantasei. Jeweils am Ende einer Dramenanalyse soll eine dramentheoretische Einordnung des Stücks in Lenzens theoretische Forderungen folgen.

Abschließend wird geprüft, ob die Ziele dieser Arbeit erreicht wurden und inwiefern von einer „ungemein fruchtbar[en]“[2] Schrift gesprochen werden kann.

2. Aristoteles: Poetik

Lenz´ Dramentheorie beruht in vielfacher Weise auf der Kritik der aristotelischen Gattungspoetik. Um diese Kritik nachvollziehbar gestalten zu können, ist es notwendig, sich zunächst mit der Poetik des Aristoteles zu beschäftigen.

Aristoteles´ Werk über die Theorie der Gattungen ist recht umfangreich. Deshalb soll sich im Folgenden nur auf die für Lenzens Kritik wesentlichen Teile beschränkt werden, in denen die Nachahmung als Wesen der Poetik, sowie das Tragödien- und Komödienverständnis behandelt wird.

2.1 Die Entstehungszeit der Poetik

So wie Lenz mit seiner Gattungstheorie etwas Neues aufgestellt hat, betrat auch Aristoteles mit dem Verfassen der Poetik durchaus Neuland. Es gab zwar Ansätze, Dichtung in unterschiedlichster Art zu bewerten, doch existierte – das hat die Forschung gezeigt – keine eigenständige Schrift über die Grundlagen der Dichtung. Es waren somit auch keine vorausgegangenen Werke, anhand derer man den Entstehungszeitpunkt der Poetik hätte bestimmen können, vorhanden. Da dieser jedoch nicht unwesentlich für die Rezeptionsgeschichte der aristotelischen Regelpoetik ist, kann versucht werden, die Poetik anhand von Wahrscheinlichkeitsschlüssen in das Leben und die Werke des Aristoteles einzuordnen. Aristoteles, 384 v. Chr. geboren, ging mit 17 Jahren nach Athen. Dort wurde er Mitglied in der Schule Platons, einige Zeit später Platons Gehilfe. Nach dem Tode seines Lehrers verließ er kurz Athen, kehrte jedoch einige Jahre später zurück und gründete selbst eine Schule – Lykeion oder Peripatos genannt. Es wird vermutet, dass Aristoteles in dieser Zeit die meisten seiner Schriften – so auch die Poetik – verfasste. Athen war Schöpferstadt des klassischen Dramas. Komödie und Tragödie hatten hier ihren Ursprung gefunden, zudem einen festen institutionellen Rahmen in alljährlich wiederkehrenden Wettbewerben. Athen als Zentrum dramatischer Kunst – ideal für Aristoteles´ Ausführungen.

Wenn Aristoteles also die Schrift in Athen verfasst hat, bleibt die Frage, ob dies vor oder nach dem Tode Platons geschah. Da die Poetik die platonische Verurteilung der Kunst zu widerlegen versucht[3], muss sich Aristoteles in Besitz einer anderen – wie er glaubt, richtigeren – Ontologie und Ethik als Platon gewusst haben. Es wird an vielerlei Stellen des Werkes deutlich, dass die Poetik die Kritik an der platonischen Ideenlehre[4] und an der platonischen, gänzlich negativen Bewertung der Affekte voraussetzt. Aristoteles hatte also die Auseinandersetzung mit der Philosophie Platons im Wesentlichen abgeschlossen - und dies kann nur nach Platons Tode der Fall gewesen sein. Der Einfluss seines Lehrers ist in mehrerer Hinsicht erkennbar. Platon selbst hatte zwar keine systematische Lehre zur Poetik geschaffen, dennoch bilden seine Gedanken eine wichtige Grundlage für Aristoteles´ Überlegungen. So war Platons Auffassung vom Nachahmen des Wirklichen ein wichtiger Ansatzpunkt in der aristotelischen Poetikanalyse.

Doch nicht nur der Umgang mit Platon, auch Fragen und Problemstellungen außerhalb der Akademie beeinflussten Aristoteles´ Werk. Besonders drei bekannte Themen waren Grundlage der älteren Tradition. Zum einen pflegte man gründlich über das Wesen und die Quellen dichterischer Erfindung nachzudenken, um Bezug zur homerischen Inspiration und Dichtung zu finden, zum anderen wurde der Wirklichkeitsbezug gern diskutiert und problematisiert. Außerdem standen Wirkung und Wirkungszwecke der Dichtkunst im Gespräch. Diese drei Themen bildeten eine solide Grundlage, bildeten jedoch nicht das Hauptfundament der Poetik, das an späterer Stelle noch intensive Betrachtung verdienen wird.

Ein wichtiger Punkt bleibt noch zu erwähnen: Lenz, mit dem sich in dieser Arbeit noch intensiv auseinandergesetzt wird, schreibt in den Anmerkungen übers Theater: „Aristoteles konnte nichts anders lehren, nach den Mustern, die er vor sich hatte, und deren Entstehungsart ich unten aus den Religionsmeinungen klar machen will“.[5] Was Lenz hier meint, ist der für die Dichter der damaligen Zeit wichtiger Götterglaube, der sich auch in der Poetik widerspiegelt[6]. Aristoteles spricht vom göttlichen Ursprung der Dichtung, der seiner Dichtkunst bei der Veröffentlichung hinderlich war, denn die eigentlichen Grundlagen bilden sich aus dem Enthusiasmus, dichterischer Inspiration und allgemeingültigen Regeln heraus. Noch manch anderes Mal wird der Einfluss des Götterglaubens in der Poetik deutlich. Dies wird wohl auch Lenz erkannt haben, wenn er schreibt:

„Da nun fatum bei ihnen alles war, so glaubten sie eine Ruchlosigkeit zu begehen, wenn sie Begebenheiten aus den Charakteren berechneten, sie bebten vor dem Gedanken zurück. Es war Gottesdienst, die furchtbare Gewalt des Schicksals anzuerkennen, vor seinem blinden Despotismus hinzuzittern. [...] Die Hauptempfindung, welche erregt werden sollte, war nicht Hochachtung für den Helden, sondern blinde und knechtische Furcht vor den Göttern“.[7]

2.2 Dichtung als Nachahmung

Die Poetik des Aristoteles beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Dichtung. So ist „Dichtung“ auch der allgemeine Begriff, unter den die Gattungen Tragödie, Komödie, Epos, Dithryambendichtung etc. fallen. Das Wort „Dichtung“ also hat viele Gesichter. Deshalb ist es von Bedeutung zu erfahren, was all diesen Formen von Dichtung gemein ist.

Aristoteles schreibt im 1. Buch der Poetik: „Die Epik und die tragische Dichtung, ferne die Komödie und die Dithryambendichtung, sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen“[8]. Dichtung ist also Nachahmung. Wichtig hierbei ist zu verstehen, was Aristoteles mit dieser Form der Nachahmung (griech.:mimesis) meint. Keineswegs muss Dichtung etwas nachbilden, was tatsächlich so geschehen ist. Im Gegenteil betont Aristoteles, dass auch – oder gerade – solche Dinge nachgeahmt werden, die nicht so geschehen sind wie sie dargestellt werden, sondern lediglich in dieser Art möglich wären: „Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“[9]. Dieses „Mögliche“ bezieht sich in der Regel auf allgemeine Sachverhalte und Kausalverknüpfungen, wobei nicht eine konkrete, sondern eine in bestimmter Art beschaffene Person wahrscheinlich oder gar notwendig in einer bestimmten Weise reden oder handeln wird. „Die Dichtkunst soll bestimmte Wirkungen erzielen, und dies vermag sie nur, wenn sie das Allgemeine aufsucht, wenn sie Modellcharakter hat; folglich ist ihr gerade die wirklichste Wirklichkeit, die Historie, fremd“[10]. Entscheidend bei Aristoteles ist, dass der Dichter die Handlungen so verknüpft und gestaltet, dass der Zuschauer darin allgemeine Konstellationen erkennen kann, die sich auch jederzeit in den Handlungen wirklicher Personen wiederholen könnten.

Doch wie funktioniert nun diese Nachahmung? Da es neben der Dichtung auch noch andere mimetische Künste gibt, wie die Malerei oder Bildhauerei, reicht es nicht aus, Dichtung allein durch das Merkmal der Nachahmung zu kennzeichnen. Denn „sie unterscheiden sich (...) in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen“[11]. Während nun etwa die Malerei Farben und Formen als mimetisches Mittel beansprucht, zeichnet sich Dichtung durch Sprache, genauer: durch Rhythmus, Wort und Harmonie aus. Die Gegenstände, die dabei nachgebildet werden, stellen stets handelnde Menschen dar, die „notwendigerweise entweder gut oder schlecht“[12] sind. Dabei beschäftigt sich die Tragödie mit Menschen, die besser bzw. edler sind, als sie im normalen Leben vorkommen – die Komödie mit schlechteren Menschen, wobei „schlecht“ in dem Sinne zu verstehen ist, dass die Figuren einen Fehler aufweisen und dadurch lächerlich wirken. Das Thema der Tragödie soll jedoch an späterer Stelle ausführlicher dargestellt werden.

Die Art der Nachahmung kann nun entweder berichtet oder agierend sein. Letzteres ist für die Gattungen Tragödie und Komödie typisch, weil in diesen Formen die dargestellte Figur selbst nachgeahmt- und nicht nur über sie berichtet – wird. Für Aristoteles stellt dies zweifellos die bevorzugte Art dichterischer Mimesis dar. Über die anderen Gattungen der Dichtkunst soll hier nicht näher eingegangen werden, da auch Lenz sich nicht weiter mit diesen Formen der Dichtkunst auseinander setzt.

Diese doch recht ausführliche Behandlung des Mimesisbegriffes in Aristoteles´ Werk ist auch unter dem Aspekt der platonischen Beeinflussung interessant, auf den nur kurz eingegangen werden soll. Platon schreibt im zehnten Buch des Staates, dass Dichtung keineswegs an der Kenntnis der Wahrheit orientiert sei, sondern lediglich an der Nachahmung an sich. Daher, so argumentiert Platon, spreche Dichtung auch nicht den oberen, auf Erkenntnis zielenden Seelenteil an, sondern nur das Luststreben, was einen recht ungünstigen Einfluss auf die Seele des Empfängers habe. Aristoteles hingegen bewertet das Nachahmen als unbedingt positiv – es ist für ihn in der Natur des Menschen verwurzelt[13].

2.3 Die Tragödientheorie

Die Theorie der Tragödie stellt den Schwerpunkt der aristotelischen Poetik dar. Da auch Lenz einen Schwerpunkt in den Anmerkungen übers Theater auf die Kritik der aristotelischen Komödien- und Tragödiendefinition legt, soll diese Theorie hier ausführlich behandelt werden.

Aristoteles schreibt im 6. Kapitel der Poetik: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache(...)“[14]. „Anziehend geformt“ heißt hier, mit Melodie und Rhythmus ausgestattet. Weiter soll die Tragödie eine Nachahmung von Handelnden als solchen darstellen, darf keinen Bericht enthalten und bestimmte Affekte – im Griechischen mit „eleos“ und „phobos“ beschrieben – hervorrufen, die eine Reinigung (katharsis) von eben solchen Erregungszuständen bewirken soll.

Es wird schnell deutlich, dass die Tragödiendefinition recht umfangreich zu sein scheint und strukturierendes Herangehen erforderlich macht. Es soll sich zunächst einmal mit dem ersten Satz des Aristoteles beschäftigt werden: „Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung“. Bei der Nachahmung der Handlung liegt die Betonung nicht auf den Charakteren. Sie werden im Gegenteil lediglich der Handlung willen einbezogen. Die Tragödie ist „nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen und von Lebenswirklichkeiten sowie von Glück und Unglück“[15]. Die Tragödie zeigt also den Menschen in seinem Handeln unter der Macht von Glück und Unglück. Nicht der Menschen ist hier das bestimmende Element, sondern eine „ihn umgreifende Macht“[16], die auch nur durch das Handeln des Menschen hervortritt. In der tragischen Darstellung nun gewinnt die Macht des Unglücks. Der Inhalt der Tragödie ist so kein Handeln an sich, sondern eine Handlung, wobei Handlung nicht als Darstellung menschlichen Handelns zu verstehen ist, sondern als des Verhältnisses menschlichen Handelns zu Glück und Unglück. Dass der Mensch nun mit den Mächten des Glücks und des Unglücks verbunden ist, gehört zu seiner Grundbeschaffenheit. Durch die tragische Handlung nimmt der Dichter diese Beschaffenheit aus dem realen Leben heraus und bringt sie deutlicher als im Alltag im Drama zur Anschauung. Die Handlung soll zeigen, dass der Mensch eben immer unter diesen Mächten des Glücks und des Unglücks steht. Darum, so Aristoteles, sei die Tragödie auch besser als die Geschichte:

„Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt (...). Sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirkliche Geschehen mitteilt, der andere, was geschehen könnte“[17].

Denn das, was geschehen könnte, kann sich immer wieder ereignen und ist daher lehrreicher als die Historie. Mann schreibt: „Damit ist Handlung in diesem Sinne auch der einzige Inhalt aller Tragödien“[18]. Die tragischen Möglichkeiten können ja nie aufhören, da sie in der Verfassung des Menschen und der ihn umgebenden Wirklichkeit begründet sind. Der Mensch kann sich nur vormachen, der Tragik entronnen zu sein. Weiter kann diese tragische Möglichkeit sich nicht ändern, da die Grundbeschaffenheit der Wirklichkeit sich auch nicht ändern lässt. Das bedeutet, wichtig für Aristoteles, dass der tragische Dichter auch den Inhalt seiner Tragödie nicht ändern kann, ohne hierdurch die Tragödie preiszugeben. Es wäre dann keine Tragödie mehr.

Handlung ist also – noch einmal zusammengefasst – der Mittelpunkt dramatischer Dichtung.

Um derart Modellhaftes aber überhaupt entfalten zu können, müssen die darzustellenden Handlungen eine sinnvolle Struktur haben, die Handlungen müssen zu einem sinnvollen Ende gebracht werden. Die dichterische Handlung soll deshalb ein begrenztes Ganzes sein[19], das sich von einem Anfang über eine Mitte bis zu einem Ende hin erstreckt. Der Begriff, den Aristoteles für ein derart organisiertes Geschehen benutzt, lautet Mythos. In guten Darstellungen eines Mythos´ sind alle Handlungen obligatorisch. Es darf nichts fehlen und nichts Überflüssiges vorhanden sein[20]. Über die Dauer eines Dramas hat Aristoteles recht genaue Vorstellungen: „Die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen“[21]. Des Weiteren soll die Abfolge der Teile so beschaffen sein, dass die Reihung der einzelnen Phasen einen Umschwung vom Glück ins Unglück mit sich bringt. Die später bekannt gewordene Einheit des Ortes wird von Aristoteles so nicht formuliert, ergibt sich aber zwangsläufig aus den anderen beiden Einheiten: Der Chor steht stets unbeweglich am selben Fleck, die Scena (die Bühne) kann nicht ausgetauscht werden.

Die Struktur der Tragödie fordert zudem einen Helden, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt[22], sondern wegen eines Fehlers. Zentrales und viel diskutiertes Element der aristotelischen Tragödientheorie ist die Idee der Katharsis, einer Reinigung des Zuschauers durch das in der Tragödie dargestellte Schicksal: Danach soll die Tragödie Jammer (eleos) und Schaudern (phobos)[23] im Betrachter hervorrufen, um die Katharsis zu provozieren:

„Die Nachahmung hat nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles. Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen“[24].

Die Katharsistheorie soll an dieser Stelle aber nur erwähnt werden, da sie keine größere Bedeutung für Lenz´ Theorie und Dramen hat.

2.4 Die Komödientheorie

Die aristotelische Poetik kündet zu Beginn des 6. Kapitels an: „Von derjenigen Kunst, die in Hexametern nachahmt, und von der Komödie wollen wir später reden“[25]. Auch die aristotelische Rhetorik[26] beruft sich zweimal auf die Poetik: Dort finde man eine besondere Untersuchung des Lächerlichen. Die aus diesen Hinweisen erschließbare Theorie der Komödie und ihrer Behandlung des Lächerlichen ist nicht erhalten – sie war höchstwahrscheinlich Hauptgegenstand des verlorengegangenen zweiten Buches. Das erste Buch bringt nur ein paar grundsätzliche Bemerkungen, die schon weiter oben genannt wurden.

So sind die Informationen, die über Aristoteles´ Komödientheorie vorhanden sind, recht dürftig. Das 1. Kapitel der Poetik nennt die Komödie nach Epos und Tragödie als dritte Gattung der Dichtung. Weiterhin wird geschrieben, dass die Komödie dieselben Mittel der Nachahmung verwendet wie die Tragödie. Dagegen unterscheiden sich die beiden Gattungen hinsichtlich ihres Gegenstandes: die Tragödie[27] bilde die Menschen besser, die Komödie schlechter ab, als sie in Wirklichkeit seien. Was letztlich die Art und Weise der Nachahmung angeht, so kommen Tragödie und Komödie wieder gleich: Sie ahmen beide nach, indem sie etwas unmittelbar zur Schau stellen (3. Kapitel der Poetik).

Sicherlich wurde in diesem Teil der Arbeit nicht alles über die aristotelische Poetik gesagt – das sollte auch nicht Sinn des Teils sein. Es wurden die Grundzüge und – in Sicht auf Lenz – wichtigsten Teile der Poetik geschildert und erklärt, so dass später deutlich sein sollte, was Lenz an der aristotelischen Gattungsdefinition kritisiert.

3. Allgemeine Strömungen im Sturm und Drang

In diesem Kapitel soll Lenzens literarische Gegenwart anhand einzelner Aspekte verdeutlicht werden.

3.1 Dichtung des Sturm und Drang

Es ist schwer, gerade im Sturm und Drang so etwas wie eine gerade Linie, eine einheitliche Dramentheorie zu finden. Die Sturm-und-Drang-Bewegung stellte keineswegs eine Einheit dar. Erst recht nicht, als zu ihren Grundimpulsen das Hervorheben, das Finden des Individuellen, die Hochwertung des Subjektiven gehörte, woraus sich später der sogenannte Geniekult ergab, auf den an späterer Stelle noch einzugehen ist. Die Stürmer und Dränger teilten sich zwar diese Grundimpulse, verwirklichten sie aber auf ihre jeweils eigene und individuelle Art. Dennoch ist es wichtig, hier eine kurze Einführung in die Dichtung des Sturm und Drang zu geben, um Lenzens Schaffen entsprechend einordnen zu können.

Die Dichtung des Sturm und Drang also: Obwohl jeder Dichter andere und eigene Ideen besaß, lassen sich trotzdem Gemeinsamkeiten festhalten, die allen zugrunde lagen. Martini stellt fest, dass die Poetik des Dramas im Sturm und Drang die Ästhetik und Poetik des Dramas im gesamten 18. Jahrhundert voraussetzt[28]. So ist die Abwertung des französischen klassizistischen Dramas ebenso bereits im 18. Jahrhundert vorbereitet worden wie auch die Schätzung Shakespeares und die Ablösung von der steifen Regelpoetik durch eine innere Gesetzlichkeit und Einheit der Formen. Ablösung von der Regelpoetik bedeutet allerdings nicht, dass Regeln schlechthin abgelehnt werden. Die Kampfansage der Stürmer und Dränger gilt nur den alten, inhaltsleer gewordenen Regeln. Diese werden jedoch durch neue ersetzt, zum Beispiel durch Regeln der Natürlichkeit, des Interesses, der Leidenschaft usw. Auch der Begriff des Genies und die Aufwertung der Natur und allem Naturhaften können als Basis der Sturm-und-Drang-Poetik angesehen werden.

Es kann jedoch auch nicht mehr als eine gemeinsame Basis erwartet werden. Das Genie, das sich durch Individualität, Schöpfertum, Originalität auszeichnet, folgte zwar gewissen Gesetzen – diese lagen allerdings mehr in der jeweiligen schöpferischen Persönlichkeit, in deren Beziehung zur Natur und Wahrheit. Der geniale Dichter formulierte seine Poetik nicht – er verwirklichte sie im Werk. Diese Dichter kritisierten nicht nur die „alte“ Poetik, sie entwarfen auch eine neue, individuelle Dichtung. Die Sprache ist hier ein beliebtes Mittel, um den Bruch mit der alten Ästhetik und Poetik zu unterstreichen. So sind neben Lenz´ Anmerkungen übers Theater auch Herders Shakespeare-Aufsatz und Goethes Shakespeare-Rede von einer sprachlich besonderen Note geprägt. Einen guten Einblick in die Stimmung des Sturm und Drang gibt auch Lenzens Text Über Götz von Berlichingen[29]. Die genaue Entstehungszeit des Textes ist nicht bekannt, doch muss er um 1774 entstanden sein. Lenz beabsichtigte, den Götz von Berlichingen mit Mitgliedern der Straßburger Deutschen Gesellschaft aufzuführen. Doch der Text weist weit über seinen eigentlichen Anlass hinaus. Hier wird erstmals auf den Punkt gebracht, was Sturm und Drang in der Literatur und im Leben Lenzens bedeutet. Es geht in dieser Rede um die Schlagwörter Selbstbestimmung, Individualität und Autonomie. Die Kernaussage dieses Textes ist: Handeln ist die Seele der Welt. Nur durch Handeln, so Lenz, erlangt der Mensch Gottähnlichkeit. Auf die Geniekonzeption übertragen bedeutet dies, ein Genie muss handeln, will es seinem Anspruch als Prometheus, als zweiten Schöpfer neben Gott gerecht werden. Im Anschluss daran fordert Lenz für den Geist – die handelnde Kraft im Menschen – einen Freiraum, den er individuelle Freiheit nennt. Ein Schauspiel solle in diesem Sinne nach seiner Wirkung beurteilt werden. Doch auf diesen Punkt wird an andere Stelle noch näher eingegangen werden.

Will man Lenzens Schaffen im Sturm und Drang richtig interpretieren, muss auf das besondere Verhältnis der Stürmer und Dränger zum Genie im Allgemeinen und zu Shakespeare im Besonderen eingegangen werden, da auch Lenz sich intensiv mit dieser Thematik auseinander gesetzt haben muss[30].

3.2 Geniekult und das Vorbild Shakespeares

Die Diskussion rund um den Geniebegriff trat nicht erst im Sturm und Drang auf. Schon früher wurde er diskutiert. In der Regel ging es dabei um die Frage, inwiefern der Dichter, von dem man die Nachahmung der Natur verlangte, noch in der Lage war, eigenständige Kunstwerke hervorzubringen. Der Sturm und Drang aber – und hier liegt das Besondere – entfachte ein ganz neue Debatte. Durch die Hervorhebung des Individuellen, der Forderung nach uneingeschränkter Entfaltung der Persönlichkeit, beanspruchten die Autoren ein Selbstverständnis, das weit über die Vorstellungskraft des Vorangegangenen hinausging[31].

Es ist jedoch nicht möglich, von einem einheitlichen Geniebegriff des Sturm und Drangs zu sprechen. Es existieren mindestens ebenso viele Geniebegriffe, wie es – nach ihrem Selbstverständnis – dichtende Genies gab. So unterscheidet sich Lenz´ Geniebegriff durchaus von dem anderer Autoren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Geniedefinition Lavaters, der einen Höhepunkt der Diskussion und zugleich deren Ende bildet[32]. Das Genie wird dort „zum Phantasma des schlechthin anderen, bekommt in seinem profan-religiösen Verständnis eine Erlöserrolle, die als Wunschbild begreiflich, in der historischen Lebenswirklichkeit hingegen nicht vorhanden war“[33]. Lavater unterscheidet so z.B. zwischen Genie haben und Genie sein. Genie hat derjenige, der nur als Sprachrohr Gottes fungiert. Genie sein dagegen bedeutet, selbst Sprachrohr zu sein. Genie ist somit gottgleich[34]. Gerade durch Lavater erfährt die Definition vom Wesen und der Natur eines Genies einen bedeutenden Aufschwung. Es scheint, als hätte er die Stimmung im Sturm und Drang aufgenommen und wiederverarbeitet.

Natürlich hat sich nicht nur Lavater mit dem Begriff des Genies auseinander gesetzt. Auf speziell Herders und Goethes Geniekonzeption wird später noch eingegangen. Doch zunächst soll betrachtet werden, was den Geniekonzeptionen gemein war – was das Wesen des Genies ausmacht. Das Genie, so Huyssen, „wurde zum Garanten der angestrebten Authentizität von Leben und Kunst; im Genie verkörpert sich das Ideal einer Einheit von Leben und Kunst, das der Nachahmungsästhetik fremd gewesen war“[35]. Dies ist ein Punkt, der erst im Sturm und Drang seine Verwirklichung fand. Die alte Nachahmungsästhetik wird gesprengt. Das Genie schafft neu. Es ahmt nicht mehr die Natur nach, sondern ist selbst naturhafte Kraft. Das Genie kritisiert zudem Normen und die alten Gattungsregeln – verwirft diese in geradezu radikaler Weise. Es sucht statt dessen ästhetische Gesetzmäßigkeiten, die den Platz der alten normativen Poetik einnehmen. „Genies (...) sind Ebenbilder der Gottheit an Ordnung, Schöne und unsichtbaren Schöpferkräften, Schätze ihres Zeitalters, Sterne im Dunkeln, die durch ihr Wesen erleuchten und scheinen, soviel es die Finsterniß aufnimmt“[36], schreibt Herder und zeigt hiermit exemplarisch einen Ausdruck der Verehrung des Genies im Sturm und Drang.

Das größte Genie der Literatur war im Einverständnis der Sturm-und-Drang-Autoren in Shakespeare zu finden. Shakespeare, der keinen Regeln zu kennen schien – mit ihm galt es zu wetteifern. Die Begeisterung für Shakespeare war im Straßburger Kreis besonders deutlich. Goethe spricht im 11. Buch von Dichtung und Wahrheit davon, dass Shakespeare erst heimlich und mäßig, dann aber immer offenbarer und gewaltiger den Einzug in die Dichterschaft fand. Shakespeare war derjenige, der keine Regeln kannte, jeglichem Regelzwang trotzte. Zwei der wichtigsten Shakespeare-Rezensionen stammen von Goethe und Herder. Da auch Lenz diese Texte gekannt und sich mit ihnen beschäftigt haben muss, sollen sie im Folgenden kurz dargestellt werden.

3.2.1 Der Shakespeare-Aufsatz Herders

In den drei Fassungen dieser kleiner Arbeit (von 1771,1772 und 1773) lässt sich gut verfolgen, wie sich Herders Einstellung zu den Regeln der Tragödie festigt[37]. Die erste Fassung ist im Großen und Ganzen eine Lobrede auf Shakespeare. Shakespeare, so Herders Empfinden, sei ein genialer Dichter, der Natur und Geschichte ohne die Verzerrung durch künstlerische Regeln unmittelbar darstelle. Neu ist am Ende der zweiten Fassung Herders Diskussion über den Unterschied zwischen Shakespeare und den alten Griechen. Er fragt sich hier nach den Vor- und Nachteilen beider Dramenauffassungen. Die letzte Fassung beginnt mit allgemeinen Betrachtungen über das Wesen der Tragödie und ihre sich in der Geschichte wandelnde Gestalt. Dadurch wirkt der Aufsatz nicht länger wie eine bloße Lobrede auf Shakespeare, sondern stellt eine durchaus eindringliche Untersuchung über die Genesis der dramatischen Form dar. Im Laufe dieses Aufsatzes gelangt Herder zu dem Schluss, dass das Drama Shakespeares und das der Griechen einen völlig unterschiedlichen Ursprung und Charakter hat. Im Rahmen dieser Arbeit soll nicht der gesamte Aufsatz ausführlich wiedergegeben werden, jedoch sollen einige interessante Aspekte berücksichtigt werden: So erkennt Herder, dass die Tragödie der Griechen ein natürliches Produkt ihrer Zeit war, ihrer Religion und ihrer kultischen Bräuche. Als sich die Natur änderte, so Herder, musste sich auch die Tragödie ändern. So müsse jeder Versuch, die griechische Tragödie nachzuahmen, fehlschlagen. In Hinblick darauf verhöhnt Herder das gesamte klassizistische Drama der Franzosen (wie auch viele andere Vertreter der Sturm und Drang-Epoche).

Natürlich setzt sich Herder auch mit Shakespeare auseinander. Shakespeare, so Herder, habe sich – dem Zug seiner Zeit folgend – nicht im Geringsten um den griechischen Begriff der Handlung gekümmert. Vielmehr baue er seine Stücke äußerst kompliziert um ein großes Ereignis. Alle Schichten der Gesellschaft konzentrieren sich nun um diesen einen großen Mittelpunkt. Herder betont, dass sich der bis dahin nie angezweifelte Grundsatz von der Einheit der Handlung beim elisabethanischen Drama[38] nicht aufrecht erhalten lasse, da er im Gesamtcharakter des elisabethanischen Englands und seiner dramatischen Tradition nicht begründet sei. Den Regeln von der Einheit der Ortes und der Zeit misst Herder ebenso wenig wie Shakespeare eine Bedeutung bei. Denn „wenn Shakespeare eine Vielzahl von einzelnen Szenen auf die Bühne bringen musste, dann konnte er nichts anderes tun, als sie in ihre besondere Zeit und ihren besonderen Ort hineinzustellen“[39].

Pascalbemerkt, dass der Aufsatz zwar einige Schwächen habe, dennoch den Anfang der modernen Dramenkritik darstelle[40]. Herders Aufsatz kann allerdings nicht „zur Grundlage einer Dramaturgie des Sturm und Drang erhoben werden“, da „er (..) [abbricht], als sich die Frage nach der Poetik des shakespearschen Dramas einstellt“[41].

Es kann als relativ gesichert gelten, dass Herder zu dieser Zeit auch Kontakt mit Goethe hatte. Was genau zwischen Herder und Goethe über Shakespeare zur Sprache gekommen war, ist nicht sicher. Herders Arbeit hingegen konnte als die umfangreichste Arbeit gelten, die es zu dieser Zeit in Deutschland gab[42]. Goethes Rede nun bezieht sich ebenfalls auf die Verehrung Shakespeares.

3.2.2 Goethe: Zum Schäkespears Tag

Auch Goethe verfasste nun 1771 einen kleinen Text aus Anlass der Shakespeare-Feiern am 14. Oktober in Straßburg und im elterlichen Haus in Frankfurt. Der Text wurde war zwar als Rede konzipiert, jedoch nie von ihm selbst in der Straßburger Gesellschaft vorgetragen.

Goethe räumt gleich zu Beginn des Textes ein, dass er bislang eher wenig über Shakespeare nachgedacht habe. Ahnung und Empfindung sind die Worte, mit denen er seine Annäherung an Shakespeare beschreibt[43]. Luserke sieht die Begegnung Goethes mit Shakespeare fast schon als Epiphanie an[44]. Aus dem Text geht jedoch recht klar hervor, dass Shakespeare eine Erscheinung für ihn darstellt, die ihn zeitlebens prägen würde. Goethe erkennt zudem die poetologische Bedeutung der Shakespeareschen Dramen, die schon Martin Wieland übersetzte und als „Züricher Ausgabe“ dem Publikum zugänglich machte. Wieland selbst gehörte ebenfalls zu den euphorischsten Shakespeare-Anhängern.

Goethe nun greift in seinem Aufsatz die aristotelische Einheit der drei Regeln an, indem er schreibt: „Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheit der Handlung und die Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft“[45]. Man kann Goethes Erklärung als regelrechte Fehde mit den Vertretern der drei Einheiten ansehen. Wie auch Herder sieht Goethe einen qualitativen Unterschied zwischen der klassischen griechischen Tragödie und deren französischen Nachbildungen. Anders als Herder aber, der Sophokles als Shakespeares Bruder gelten lässt und die historische Bedeutung der aristotelischen Poetik explizit anspricht, bezieht Goethe die alten Griechen kaum in seine Gedankengänge mit ein. Goethes persönliche und unmittelbare Begegnung mit Shakespeare tritt ganz in den Vordergrund.

Weiter sieht Goethe in den Shakespeareschen Dramen, was er gerade bei den Franzosen so sehr vermisst, nämlich die Natur. Dem verleiht er Ausdruck, wenn er schreibt: „Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen“[46]. Nachdem er das Wort „Natur“ ausgesprochen hat, verlangt es Goethe plötzlich nach Luft, damit er reden kann. Er fährt fort:

„Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe; darin liegt´s, daß wir unsre Brüder verkennen; und dann belebte er sie alle mit dem Hauch seines Geistes, er redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandtschaft“[47]. Goethe weist hier also auf die scheinbar riesenhafte Größe Shakespeares hin.

[...]


[1] Martini, Fritz: Die Einheit der Konzeption in J.M.R. Lenz´ „Anmerkungen übers Theater“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 14 (1970), S. 159

[2] ebd., S. 159

[3] vgl. Fuhrmann, Manfred: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973, S. 86ff.

[4] Vgl. hierzu auch Platon: Der Staat. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Darmstadt 1971

[5] Damm, Sigrid (Hg.): J.M.R. Lenz: Werke und Briefe in 3 Bänden. Hg. und mit einem Essay von Sigrid Damm. Leipzig 1987. Band 2. S. 651

[6] vgl. auch Fuhrmann (1973)

[7] Damm (1987), S. 666f.

[8] Aristoteles: Poetik. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. München 1976, S.37

[9] Aristoteles (1976),S. 58

[10] Fuhrmann (1973), S. 26

[11] ebd., S. 37

[12] ebd., S. 40

[13] vgl. auch Garbe, Burckhard: Die Komposition der aristotelischen “Poetik” und der Begriff der “Katharsis”. In: Die aristotelische Katharsis. Dokumente ihrer Deutung im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Matthias Luserke. Hildesheim (u.a.) 1991.

Garbe deutet die Aussage „Alle Gattungen der Dichtkunst sind darstellende Nachahmungen“ als Kernsatz der Poetik. Er fasst Aristoteles Beweisführung in drei Schritten zusammen:

Nachahmen in die Natur des Menschen. Alles, was der Mensch hervorbringt, ist Nachahmung.

Die Dichtung ist vom Menschen geschaffen und entwickelt worden.

Somit ist Dichtung gleichzeitig Nachahmung.

[14] Aristoteles (1976), S. 50

[15] ebd., S. 52

[16] Mann, Otto: Poetik der Tragödie. Bern 1958, S. 12

[17] Aristoteles (1976), S. 58

[18] Mann (1958), S. 13

[19] Diese Forderung wurde auch als das Gesetz der “Einheit der Handlung” bekannt.

[20] vgl. Aristoteles (1976), S. 58

[21] ebd., S. 49

[22] Aristoteles schreibt: “Die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie besser Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen” (S. 41). Die Tragödie wählt also stets einen edlen Charakter als Helden. Unter Einbeziehung der Ständeklausel muss dies zwangsweise ein Held aus dem Adel oder reichem Bürgertum sein.

[23] Über die Übersetzungen der Worte eleos und phobos wurde und wird noch immer viel diskutiert. Ich berufe mich hier auf die Übersetzung Manfred Fuhrmanns, der eleos mit Jammer, phobos mit Schaudern übersetzt hat. Seit Lessing ist die Übersetzung der Begriffe als Furcht und Mitleid gängig. Diese Übersetzung ist aber recht schlecht und irreführend.

[24] Aristoteles (1976), S. 61

[25] ebd., S. 50

[26] Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Stuttgart 1999

[27] vgl. das zweite Kapitel der Poetik

[28] Martini,Fritz: Die Poetik des Sturm und Drang. Versuch einer Zusammenfassung. In: Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zu Gattungstheorie und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute. Herausgegeben von Fritz Martini. Stuttgart 1984, S.2

[29] vgl. auch J.M.R.Lenz: Werke. Herausgegeben von Friedrich Voit. Stuttgart 1992, S. 403-409.

[30] In dem Vorwort zu den Anmerkungen übers Theater heißt es: „Diese Schrift ward zwei Jahre vor Erscheinung der Deutschen Art und Kunst und des Götz von Berlichingen in einer Gesellschaft guter Freunde vorgelesen“ (Damm 1987), Band 2, S. 641. In dieser Schrift, die Lenz anspricht, wird sich mit Shakespeare auseinandergesetzt.

[31] vgl. auch Sauder, Gerhard: Die deutsche Literatur des Sturm und Drang. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 12:Europäische Aufklärung. Wiesbaden 1984. S. 327-378

[32] zu finden im 1.Band der Physiognomischen Fragmente: Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. In: Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte. Herausgegeben von Heinz Nicolai. München 1971, S. 331-355

[33] Luserke, Matthias: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 1997. S. 70

[34] vgl. Johann Caspar Lavater (1971), S. 331-355

[35] Huyssen, Andreas: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche. München 1980, S. 59

[36] Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan. Band 5. Berlin 1877-1913, S. 604

[37] Herder, Werke V, S. 208-253

[38] dessen Hauptvertreter in Shakespeare zu finden war. Das elisabethanische Drama zeichnet sich durch eine offene Form aus: Verzicht auf die drei Einheiten und auf die Ständeklausel, sowie lockere, rasche und abwechslungsreiche Szenenfolge.

[39] Pascal, Ray: Der Sturm und Drang. Stuttgart 1963, S. 309

[40] vgl. Pascal (1963)

[41] Martini (1984), S. 13

[42] vgl. auch Goethe: Zum Shakespears-Tag 1771. Mit einem Essay von Klaus Schröter. Hamburg 1992, S. 24

[43] ebd., S. 8

[44] Luserke (1997), S. 77

[45] Goethe (1992), S. 9

[46] ebd., S. 11

[47] ebd., S. 11

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
„Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft...“
Untertitel
Die Dramentheorie von Jakob Michael Reinhold Lenz - mit Bezug auf „Der neue Menoza“ und „Der Engländer“)
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,2
Autor
Jahr
2005
Seiten
78
Katalognummer
V85758
ISBN (eBook)
9783638900638
Dateigröße
772 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gemälde, Gesellschaft
Arbeit zitieren
Stephanie Pick (Autor:in), 2005, „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft...“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85758

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft...“



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden