Gesellschaftskritik in der Fernsehserie „Tatort“ zwischen 1970 und 2000

Anhand ausgewählter Beispiele


Magisterarbeit, 2006

85 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Krimi – ein Fernsehformat zwischen Unterhaltung und Anspruch
2.1 „Gesellschaftsauftrag“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen
2.2 Krimi-Elemente in Literatur und Film
2.3 Krimi im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

3 Krimiserie Tatort
3.1 Die Entstehungsgeschichte
3.1.1 Zwei Krimiserien im Kontrast: Tatort versus Derrick
3.1.2 Die Genreentwicklung
3.2 Die Entwicklung der Kommissarfigur
3.3 Narration
3.3.1 Lokalkolorit im Tatort als Spiegelung der Gesellschaft
3.3.2 Realismus und Aktualität
3.3.3 Erzählweise im Tatort

4 Tatort -Folgen (ausgewählte Beispiele)
4.1 Reifezeugnis (1977)
4.1.1 Handlung
4.1.2 Hintergründe und Darstellungsweise
4.1.3 Charakterkonstruktion
4.2 Der Pott (1989)
4.2.1 Handlung
4.2.2 Hintergründe und Darstellungsweise
4.2.3 Charakterkonstruktion
4.3 Kinder der Gewalt (1999)
4.3.1 Handlung
4.3.2 Hintergründe und Darstellungsweise
4.3.3 Charakterkonstruktion
4.3.3.1 Hauptfiguren
4.3.3.2 Nebenfiguren
4.4 Filmische Darstellung der Städte
4.5 Zwischenfazit

5 Gesellschaftskritik
5.1 Artikulation und Manifestation der Gesellschaftskritik
5.2 Identifikation – Vermittlung der Gesellschaftskritik
5.3 Der Tatort klagt an – Fokus der Kritik
5.4 Aufklärung – Ziele der Kritik

6 Resümee

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Wir wünschen Ihnen eine spannende Unterhaltung“, lautet die Anmoderation der Kriminalserie Tatort am Sonntagabend um 20:15 Uhr. Seit über 30 Jahren weckt der Tatort das Interesse der Zuschauer jeden Alters, weshalb er auch als ein „Familienformat“ gilt[1].

Nach seinen narrativen Aspekten ist der Tatort ein Kriminalfilm. Seine Handlung basiert auf einer literarischen Ursprungsform der kriminalistischen Erzählung. Diese Erzählart hat sich in einer ausgesprochen vielfältigen Form in den Unterhaltungsmedien ausgebreitet. Gleichzeitig ist sie jedoch von deutlichen Regeln geprägt.[2] „Dabei lässt sich historisch das Genre nicht statisch als ein unveränderbarer Regelsatz begreifen, sondern als eine sich historisch immer wieder den gesellschaftlichen Veränderungen anpassende Erzählform.“[3]

Der Tatort besitzt einen hohen Unterhaltungswert. Er verfolgt die aktuellen gesellschaftlichen Trends und weist einen gesellschaftskritischen Charakter auf. Seine konzeptionelle Form ist vielseitig, kann jedoch in zwei Erzählebenen gegliedert werden. Die erste Ebene stellt die Rahmenbedingungen der Erzählform dar. Ihre Komponenten spiegeln die Zeitgeschichte wider. Sie besteht aus den Kommissarfiguren als konstanten Handlungsträgern, aus mehreren räumlichen Schwerpunkten als kulturellen Hintergründen und aus der zeitlichen Komponente, die einem stetigen Aktualisierungsprozess ausgesetzt ist. Die zweite Ebene ist themenspezifisch. Dabei handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit einem aktuellen gesellschaftspolitischen Thema im Rahmen einer Tatort -Folge.

In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nach der Gesellschaftskritik im Tatort nachgegangen. Das Ziel der Analyse ist es, die Gesellschaftskritik zu identifizieren. Einhergehend mit dieser Fragestellung wird untersucht, wie gesellschaftskritische Aussagen transportiert werden.

Meine Beobachtungen und Antworten zu dieser Frage werde ich anhand folgender ausgewählten Tatort -Folgen vorstellen: Reifezeugnis aus dem Jahr 1977, Der Pott aus dem Jahr 1989 und die Folge Kinder der Gewalt aus dem Jahr 1999. Stellvertretend für ihr jeweiliges Erscheinungsjahrzehnt spiegeln diese drei Folgen die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland wider.

Zur systematischen Annäherung an die Kernfrage, werde ich im 2. Kapitel zunächst das Ziel und die Funktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und die gesellschaftskritischen Hintergründe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens seit den 1950er Jahren erläutern, um ferner die Funktion des Kriminalfilms im deutschen Fernsehen definieren zu können. Die Elemente des Krimis werden hierbei einer näheren Betrachtung unterzogen.

Das 3. Kapitel dient als Einführung in das gesamte Erscheinungsbild des komplexen Formats Tatort. Meine Beobachtung setzt bei den Anfängen des Tatorts ein. Die Schilderung seiner Entstehungsgeschichte wird darauf hinweisen, dass eine gesellschaftskritische oder politische Ausrichtung nicht beabsichtigt war. Des Weiteren skizziere ich die Entwicklung und bedeutsame Veränderungen in der Krimi-Serie. Dabei werden ihre spezifischen Merkmale herausgearbeitet. Ein Vergleich zu der parallel laufenden, konventionellen Erfolgsserie Derrick unterstreicht die Besonderheiten des Tatorts.

Darüber hinaus werden die Komponenten der konzeptionellen Form analysiert. Konzeptionell gehört der Tatort zu den Polizeifilmen, deren Haupt-Handlungsträger die Ermittlerfigur ist. In den drei untersuchten Filmbeispielen sind diese: Kommissar Finke, die Kommissare Schimanski und Thanner als auch die Kommissare Ballauf und Schenk. An dieser Stelle werden weitere Kommissarfiguren Erwähnung finden, der gesellschaftskritische Aspekt wird jedoch an den genannten fünf Figuren untersucht werden.

Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Tatort als Narrativ werde ich sowohl auf seine regionalen Charakteristika, seinen Realitätsanspruch und seine Authentizität als auch auf seine Erzählweise eingehen. Diese narrativen Merkmale des Tatorts erweisen sich in der deutschen Fernsehlandschaft als Erfolgsrezept.[4]

Die für meine Beobachtung ausgewählten Folgen werde ich im 4. Kapitel vorstellen. Handlungen, Hintergründe, Darstellungsweisen und Charakterkonstruktionen werden dargestellt. Analog zum 3. Kapitel wird die Tendenz zur Veränderung der Darstellungsart der Charaktere anhand der Ermittlerfiguren aufgezeigt. Sie dient als eine neue Ebene für die mögliche Vermittlung der gesellschaftskritischen Botschaft. Hinzu kommen die Großstädte, die seit Edgar Allan Poe zu einer Kriminalgeschichte gehören: Weil die Städte eine bezeichnende Rolle im Tatort spielen, werden ihre filmische und räumliche Darstellung einbezogen.

Im 5. Kapitel wird eine Methodik ausgearbeitet, die die Art und Weise der Vermittlung der Gesellschaftskritik im Tatort näher erläutert. Der erste Aspekt stellt die Frage, wie Gesellschaftskritik artikuliert wird und wie sie sich manifestiert. Darauf aufbauend wird der Vermittlung der Gesellschaftskritik nachgegangen. Im Zentrum des 5. Kapitels steht die Frage, was im Tatort kritisiert wird. Der Fokus der Kritik wird anhand der ausgewählten Szenen aus den vorgestellten Folgen dargestellt und ausdifferenziert. Abschließend soll eine Antwort auf die Frage gegeben werden, was die Intention der im Tatort zum Ausdruck gebrachten Kritik ist.

Im 6. Kapitel werden die gewonnenen Erkenntnisse resümiert.

2 Krimi – ein Fernsehformat zwischen Unterhaltung und Anspruch

2.1 „Gesellschaftsauftrag“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

Von den 1950er bis Mitte der 1980er Jahre hatten die öffentlich-rechtlichen Sender in der Bundesrepublik Deutschland das Oligopol in der Rundfunkkommunikation. Bestimmt wurde dieses durch die Sender: Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) und Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF). Das Duale Rundfunksystem ermöglichte ab 1984 die Integration der kommerziellen Sender wie z.B. RTL Television (RTL), ProSieben (PRO 7) und Sat.1, die später zur Konkurrenz wurden.[5]

Die öffentlich-rechtlichen Sender orientierten ihr Programm per Staatsvertrag und nach ihrer eigenen Interpretation überwiegend an wertbesetzten Inhalten. Das Ziel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bestand darin, die demokratische Gesellschaft mit aktuellen Informationen, Bildung und Unterhaltung zu versorgen.[6] Demzufolge hat das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem einen „Gesellschaftsauftrag“.[7] Darunter versteht Stolte:

„Gesellschaftsauftrag“ bedeutet, dass öffentlich-rechtliches Fernsehen, unter welchen veränderten Bedingungen auch immer, primär der Gesellschaft, nicht der Wirtschaft dient. „Gesellschaftsauftrag“ bedeutet damit auch, daß öffentlich-rechtliches Fernsehen [...] eine Form des „Rundfunks für alle“ zu gewährleisten hat.[8]

Dies bedeutet, dass das Fernsehen für alle Bürger, ungeachtet ihrer Bildung, ihrer Zugehörigkeit zu einer bürgerlichen Schicht und ihrer Berufe bestimmt war. So sollte das Fernsehen neben seiner Funktion als Informations- und Auf­klä­rungsmedium ebenso dazu dienen, gegensätzliche Meinungen oder offen benannte Konflikte als Reichtum der Demokratie bewusst zu machen und des Weiteren – als Integrationsfaktor zur Vermeidung weitergehender Konflikte – das soziale Bindegewebe der Gemeinsamkeiten im Interesse gesellschaftlicher Zukunftsfähigkeit stärken.[9] Ingrid Brück bestätigt, dass der Bezugspunkt eines solchen „Kultur-Fernsehens“ als gesellschaftliche Institution historisch die Werttradition des „Projekts der Aufklärung“ ist.

Weiterhin vertritt das „Kultur-Fernsehen“ kommunikationssoziologisch die Idee einer bürgerlichen Öffentlichkeit, der trotz aller Indienstnahme als „öffentliche Meinung“ eine fundamentale Rolle bei der Wahrung und Entfaltung der Demokratie und ihrer Freiheiten zukommen soll.[10] Fernsehen ist in der Lage, die Meinungen der Zuschauer zu beeinflussen und Bürger zu „erziehen“. Gerade diese Tatsache ermöglicht auch die Vermittlung der Gesellschaftskritik im Fernsehen.

Die Konzeption des Fernsehens als Kulturmedium ging von der Vorstellung aus, dass durch das Fernsehangebot eine bürgerliche Werthaltung reflektiert und perpetuiert wird, die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft möglich macht.[11]

Aufgrund der Bedeutung, die das Fernsehen hatte und weiterhin hat, können durch das Fernsehangebot und verschiedene Fernsehformate Gesellschaftskritik und bürgerliche Werte verbreitet werden. Das Fernsehen ist als Massenmedium dazu geeignet, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. Durch den „Gesellschaftsauftrag“, den sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen stellt, bleibt zu fragen, mit welchen Mitteln dieser zu erfüllen ist.

2.2 Krimi-Elemente in Literatur und Film

Der Krimi hat, wie auch andere Fernsehgenres, seinen Ursprung in der Literatur. Literaturwissenschaftler gehen davon aus, dass er im 19. Jahrhundert entstand. Gemeinhin gilt Der Doppelmord in der Rue Morgue von Edgar Allan Poe aus dem Jahr 1841 als das erste Werk, das als ‚Kriminalroman’ oder ‚Detektivroman’ bezeichnet wird.[12]

Die Handlung einer Kriminal- und Detektivgeschichte basiert auf einem Verbrechen; meistens einem Mord. Die beiden Darstellungsformen können in einigen Fällen anhand der Ermittlerfiguren differenziert werden. In einer Kriminalgeschichte ermitteln Kommissare oder Polizisten im Dienst, wohingegen in einer Detektivgeschichte der Ermittler in der Handlung als Privatperson oder als ein ehemaliger Polizist dargestellt wird. Der Detektiv wird häufig als Konkurrenz zum staatlichen Ermittlungsdienst aufgebaut.[13] So sind die Figuren von Agatha Christie (Hercule Poirot und Miss Marple) und Arthur Conan Doyle (Sherlock Holmes) Detektive, die aus reiner Neugier nach verschiedenen Methoden ermitteln und als inoffizielle Vertreter des Rechts agieren. Beispiele für klassisch aufgebaute Ordnungshüter wären ihnen gegenüber die Figuren von Georges Simenon (Kommissar Maigret) und Friedrich Dürrenmatt (Hans Bärlach), die jeweils dem Polizeiapparat angehören.[14]

In den Kriminalgeschichten wird häufig die Gesellschaft aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Somit durchleuchten die Kommissare während ihrer Ermittlungen unterschiedliche Milieus. Auch die Ermittler werden von den Autoren sehr unterschiedlich dargestellt.

Der Krimi ist ein weit verbreitetes Genre, welches als intermediale Erzählform angesehen wird. Das heißt, dass er aufgrund seiner Struktur und seiner Flexibilität auch im Hörfunk, Comic, Fernsehen und Kino vertreten ist.[15] Wenn im Weiteren von Krimis die Rede ist, sollen damit die Kriminalserien im Fernsehen gemeint sein. Ich möchte trotzdem kurz auf die Struktur und die Elemente des Krimis im Allgemeinen eingehen, um den Rahmen des Genres deutlich zu machen und zu zeigen, welche vielfältigen Aspekte bei einem Krimi zu differenzieren sind.

Im Kino hat sich die Produktion von Kriminalgeschichten à la Agatha Christie, den Edgar-Wallace- und Maigret-Krimis hin zu Actionfilmen und Thrillern gewandelt. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die Aufklärungsarbeit und das Rätsellösen. Der Akzent wird auf Spezialeffekte, populäre Schauspieler, unrealistische Action und Kulisse gesetzt. Den Wandel der ursprünglichen Form eines Krimis bemerkt auch Viehoff, indem er behauptet, dass die Aufklärung eines Mordfalles in vielen Fällen zweitrangig geworden sei.[16]

Laut Mikos zeigen sich auch im Fernsehen die Tendenzen zur Entwicklung der Subgenres. Sie sind jedoch noch nicht so ausgeprägt wie im Kinofilm.

Allerdings hat sich das Genre hier nicht wie im Film in Subgenres ausdifferenziert, im Dreieck von Action (mit der literarischen Grundlage in der so genannten „hard-boiled-school“), dem Thriller (mit der literarischen Grundlage im psychologischen Krimi) und dem Krimi, sondern hat sich im Fernsehen über die Einbeziehung von Elementen anderer Genres – wie man heute zu sagen pflegt – hybridisiert. Kurz: Krimiserien und -reihen im Fernsehen bieten ein breites Spektrum an ästhetischen und narrativen Formen, die sich ab und zu an klassischen Krimikonventionen orientieren, manchmal mehr, manchmal weniger Action enthalten oder sich von Fall zu Fall durchaus auch den Konventionen des Thrillers annähern.[17]

Dies bedeutet, dass in den Kriminalserien im Fernsehen nicht unbedingt eine Ausdifferenzierung von Action, Thriller oder einem reinen Krimi vorhanden ist. Die Fernsehserien bieten eine Vielfalt an Möglichkeiten, den klassischen Krimi mit Elementen des Thrillers oder des Actionfilms nach freier Entscheidung zu schmücken und zu gestalten. Obwohl die Tendenz zu Action, Spezial- und Gruseleffekten ebenfalls deutlich ansteigt, halten sich diese Elemente bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten – im Vergleich zu privaten Sendern wie z.B. RTL und PRO 7 – in Grenzen. Dies ist womöglich darauf zurückzuführen, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen seinen hohen Anspruch wahren will und den Fokus seiner Programme nicht nur auf Unterhaltung sondern ebenso auf qualitativ hochwertige Inhalte ausrichtet.

Ungeachtet der jeweiligen Ausdifferenzierung weisen alle Krimis einige grundlegende Gemeinsamkeiten auf: sie beinhalten in der Regel einen Mord, einen Tatort, einen oder mehrere Täter und eine Ermittlerin bzw. einen Ermittler.

Der Handlungsverlauf orientiert sich insbesondere an drei wesentlichen Elementen:

1.) „Analysis“ bezeichnet die logische Aufklärungsarbeit, die die Ermittlerinnen und die Ermittler leisten. 2.) „Action“ meint Kämpfe, Flucht und Verfolgung. 3.) „Mystery“ steht für „all die Erzählstrategien, die den zum aktiven Mitraten aufgeforderten Krimizuschauer in die Irre führen und die Lösung des kriminalistischen Rätsels sabotieren sollen“.[18] Diese drei Aspekte bestimmen die Krimiform: Verstrickung aller Elemente in ein Rätsel, Erzeugung von Spannung und ihre Auflösung durch die Lösung des Rätsels. Krimis haben häufig ein zufrieden stellendes Ende: der Täter wird überführt.

Es gibt drei verschiedene Wissensniveaus, auf denen sich der Zuschauer während des Betrachtens eines Films (ebenso wie der Leser während der Lektüre) befinden kann. Der Zuschauer kann 1.) mehr wissen als der Ermittler oder 2.) genauso viel wissen wie die ermittelnde Figur, oder 3.) weniger wissen als der Ermittler.

Auf dieser Basis unterscheidet der Filmwissenschaftler Edward Branigan zwischen ‚Spannung’ bzw. ‚Suspense’ und ‚Überraschung’.[19] Weiß der Zuschauer mehr als der ermittelnde Charakter, liegt ‚Spannung’ vor, wissen beide gleich viel, dann haben wir es mit ‚Mystery’ zu tun, weiß der Zuschauer weniger als der ermittelnde Kommissar, erlebt er immer wieder Überraschungen.[20] In jedem dieser drei möglichen Fälle nimmt der Zuschauer auf grundlegende Weise aktiv am Krimigeschehen teil. Krimis sind somit auf die Mitarbeit der Zuschauer angewiesen – und diese Mitarbeit sieht stets unterschiedlich aus, je nachdem mit welcher Art von Krimi wir es im konkreten Fall zu tun haben.[21]

Als Rahmen eines Krimis fungiert hier das Erzählen einer genretypischen Handlung. Die Handlungsinhalte werden durch psychologische Aspekte (Spannung, Angst etc.) ergänzt. Auf den Gesichtspunkt der Genreentwicklung wird im 3. Kapitel, in Zusammenhang mit der Entwicklung und Veränderung der Fernsehserie Tatort, näher eingegangen.

2.3 Krimi im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

Da die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten einen hohen Anspruch vertreten, war es seit den 1950er Jahren schwierig, das richtige Format für das Massenpublikum zu entwickeln. Durch die Produktion beliebter Formate entsteht ein reiches Angebot an verschiedenen Sendungen, die als Kommunikationssystem zwischen dem Produzenten und den Rezipienten existieren.[22] Um einen möglichst großen Zuschaueranteil zu erreichen, musste ein Format im Abendprogramm angeboten werden, welches dem trivialen Niveau entsprach und sich dennoch beim Publikum als überzeugend erwies.[23]

Dies war das Krimigenre, welches sich schon im Hörfunk bewährt hatte und andeutete, den Bildungs- und Kulturanspruch zu unterlaufen. Nur im Krimi konnte man Abirrungen oder Abweichungen von dem ansonsten offiziell wohl gefügten gesellschaftlichen System erzählen. Im Krimi wird von der dunklen Seite des Lebens erzählt; er öffnet die Tür zu kritischen Fragen. Nach Brück braucht nicht in jeder einzelnen Krimisendung unmissverständlich Gesellschaftskritik geübt werden. Das Fernsehprogramm kann sich jedoch diesem Anspruch – und der damit verbundenen Qualität als Anspruch einer demokratischen Gesellschaft – nicht entziehen.[24]

Somit startete im November 1954 im deutschen Fernsehen die Reihe Die Galerie der großen Detektive, in der es um berühmte Detektive der Kriminalliteratur ging. Ebenfalls noch in den 1950er Jahren starteten die Reihen Der Polizeibericht meldet und Stahlnetz, die von wirklichen Kriminalfällen ausgehend eine fiktive Geschichte erzählten und durch Off-Sprecher dokumentarischen Charakter erhielten. Als 1960 mit 77 Sunset Strip die erste amerikanische Krimireihe auf den deutschen Bildschirmen erschien, ließ der Trend zur realitätsnahen Darstellung nach, zumal in dieser Zeit auch die Durbridge-Krimis Das Halstuch, Melissa etc. gesendet wurden, während im Kino die Edgar Wallace-Verfilmungen für hohe Besucherzahlen sorgten.[25]

Eines dieser Formate, das dem kriminalistischen Genre angehört und in dem gesellschaftskritische Stimmen zu suchen sind, ist die Fernsehserie Tatort, die 1970 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde.

3 Krimiserie Tatort

3.1 Die Entstehungsgeschichte

Die erste Tatort -Folge wurde 1970 gesendet. Der Schöpfer der Fernsehserie ist Dramaturg Gunther Witte. Nach seiner Vorstellung entstand die Serie als Gegenkonzept zu der ZDF-Serie Der Kommissar.

„Ich bin eigentlich ein bescheidener Mensch, möchte aber darauf hinweisen, dass es meine Idee war, den Tatort zu machen.“[26] So erzählt Witte in einem Interview mit Eike Wenzel über die ersten Schritte zu dieser Serie:

Es war die Zeit, als Günther Rohrbach Chef des WDR-Fernsehspiels war. Er hat immer sehr strategisch gedacht. Er hat nicht nur die Konkurrenz zum ZDF im Auge gehabt, sondern auch zum NDR-Fernsehspiel unter Egon Monk, das danach unser Vorbild war. Wir wussten damals schon, dass man nicht nur die elitären Dinge machen kann, sondern dass man sich auch mit populären Spielformen beschäftigen muss. So forderte Rohrbach meinen Kollegen Peter Märthesheimer zu einem Spaziergang hier im Kölner Stadtwald auf und verteilte dabei die Aufgaben. Märthesheimer sollte eine Familienserie entwickeln, und ich musste mich um Krimis kümmern.[27]

Gunther Witte dachte, dass er die föderale Struktur der ARD nutzen und dass man jedem Sender der ARD einen Kommissar anbieten könne. Es war geplant, die Serie Tatort zu nennen, jedoch sollte auch die Region mit genannt werden, z.B. Tatort-München oder Tatort-Köln.

Nach der ersten Vorstellung seines Konzeptes bei der vierteljährlichen Koordinationssitzung des ARD-Fernsehspielchefs war die Resonanz eher ablehnend. Im zweiten Anlauf jedoch, als sich die Position der ARD im Bezug zum ZDF verschlechtert hatte, willigte man bei der Konferenz in Köln Wittes Konzept mit einer kleinen Änderung ein: Die Serie sollte nur Tatort heißen.[28]

Witte weist darauf hin, dass der Start der Serie nicht gut vorbereitet war:

Dann ergab sich ein ganz zentrales Problem, nämlich wie kommt man so schnell zu Filmen, die muss man ja erst produzieren. Da haben dann alle sehr pragmatisch reagiert und haben gesagt, wir kucken mal, was wir im Schrank haben, das geben wir alles in die Reihe Tatort rein.[29]

Aufgrund dieser Aussage wird ersichtlich, dass die Anfänge des Tatorts eher spontan waren und aus der Not heraus ins Programm einbezogen wurden. Auch Jochen Vogt unterstreicht, dass der Tatort eine Erfolgsgeschichte aus dem Geiste der Verlegenheit und des Kompromisses sei und von Anfang an nicht als durchgehende Serie geplant war, sondern „als lockerer Verbund von mehreren, jeweils von den regionalen Sendeanstalten produzierten Serien mit einer wachsenden Zahl von Drehbuchautoren, Regisseuren, und Ermittlerfiguren/Darstellern“.[30]

Die erste Tatort- Folge, Taxi nach Leipzig, produziert vom Norddeutschen Rundfunk (NDR), wurde am 29.11.1970 von der ARD im Ersten Programm gesendet. Die Entwicklung des Kommissars gestaltete sich schwierig, erster Tatort -Ermittler wurde Kommissar Trimmel.[31] Gunther Witte hatte ebenfalls Probleme, für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) einen entsprechenden Kommissar zu besetzen und entschied sich für die Figur des Kommissars Kressin, weil, wie er sagte, „auch wir zunächst nichts anderes zu bieten hatten“.[32]

Es waren nur wenige Voraussetzungen bei der Auswahl der Kommissare zu beachten: Er muss die Hauptrolle spielen, die Geschichten müssen realistisch, jedenfalls vorstellbar sein, und es sollte - so am Anfang ein Kriterium - einen Gast-Kommissar geben: Man wollte in jeder Folge kurz einen zweiten Kommissar von einem anderen Sender auftreten lassen.[33]

Bis heute ist es so geblieben, dass der Zuschauer Einsicht in die polizeiliche Kooperation zwischen den Städten bekommt und die Beziehung von Zuschauer und Kommissar dadurch gestärkt wird. Zum Beispiel ist der oben erwähnte Gast-Auftritt bei der ersten Episode der Schimanski-Folgen sehr subtil umgesetzt, indem sich der neue Duisburger Kommissar Schimanski vor einem Plakat hinbeugt, um seine Schnürsenkel zu schnüren, und der Zuschauer auf dem Plakat den Vorgänger Schimanskis, Haferkamp, sieht, der Werbung für eine Kamera macht.[34] Diese interpersonellen Verweise und Bezüge sehen wir auch heute noch ab und an, wenn z.B. die Kölner Kommissare zusammen mit den Leipziger Kommissaren in Leipzig ermitteln[35], oder wenn der Münsteraner Kommissar Thiel mit seinem Assistenten zu Besuch in der Kölner Gerichtsmedizin ist, wo er zufällig die Kölner Kommissare trifft.[36]

Es gab wenige Anweisungen für den Rahmen des Tatorts. An diese Wenigen musste sich jedoch gehalten werden. In erster Linie sollte der Tatort klare und nachvollziehbare Handlungen haben, der Täter musste am Ende der Handlung überführt werden, die Geschichte sollte aus der Perspektive des Kommissars erzählt werden und der Film sollte ein reiner Ermittlungs- und Polizeifilm sein, in dem das Privatleben des Kommissars nicht vorkommt. Er sollte glaubwürdig und realitätsnah sein.[37]

Im nächsten Abschnitt werde ich – im Hinblick auf die Entwicklung der Serie und ihren Wandel – auf ihre Anpassung an die politischen Veränderungen und ihre gesellschaftskritische Tendenz eingehen und werde den Tatort als ein Abbild kulturpolitischer Wirklichkeit beschreiben.

3.1.1 Zwei Krimiserien im Kontrast: Tatort versus Derrick

Die inhaltlichen Ansprüche an das öffentlich-rechtliche Fernsehspiel in den 1970er Jahren hatten sich in den Krimiserien und -reihen in einer spezifischen Balance zwischen Unterhaltung und Unterweisung niedergeschlagen.[38] Bereits in der Serie Der Kommissar war das Motiv des Täters und sein soziales Umfeld von Bedeutung. Dieser Aspekt setzte sich in der Serie Derrick fort; beide Serien waren Produktionen des ZDF. Während Der Kommissar die ARD noch als starke Konkurrenz beunruhigte und diese im Gegenzug den Tatort produzierten, wurde das ZDF wiederum durch den frühen Erfolg des Tatorts verunsichert und produzierte als Antwort die Serie Derrick.

Der Tatort war größtenteils dem journalistisch bis dokumentarisch ausgerichteten Fernsehspiel verpflichtet, wobei die Darstellung der Kriminalität nicht so eng auf den Einzelnen, sondern, partiell sozialkritisch, auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge gerichtet war.[39] In der Darstellungsweise der Serie Derrick war die ethisch-moralische Orientierung prägend, die das Fernsehen zu der Zeit anstrebte. Die Funktion des Fernsehens als „Begleitinstrument gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse“[40] im progressiven Sinne ist erst mit der Fernsehserie Tatort deutlich geworden. Die Aufgabe der Vermittlung von Bildung als Lebenshilfe, Belehrung und Aufklärung im Kriminalfilm ist ebenfalls erst mit der Serie Tatort erkenntlich geworden und wurde dort erstmals gesellschaftskritisch aufgefasst. Kommissar Derrick ermittelte überwiegend in den Münchener Nobelvierteln. Diese Serie zeichnete somit ein eher einseitiges Bild wohlhabender Opfer und Täter. Derrick, der zur Generation der „Vaterfigur-Kommissare“ gehörte, zeigte, dass „auch reiche Leute arme Kinder haben“[41] und desillusionierte damit die bürgerliche Elite und den Durchschnittszuschauer.

Hickethier bewertet die Tatort -Produktionen als von wesentlicher Bedeutung für die allgemeine Entwicklung des deutschen Kriminalfilmgenres: Bei der Entwicklung des Tatorts fand sich ein Bündnis neuer Autoren zusammen, die – anders als bei der Serie Derrick, für die regelmäßig der Unterhaltungs-Autor Herbert Reinecker die Drehbücher schrieb – beständig neue Autoren gewann. Diese Autoren kamen aus dem Umkreis der Rowohlt-Thriller-Reihe, durch die mit Beginn der 1970er Jahre eine Art Subgenre, der „Neue Deutsche Kriminalroman“, entstand.[42]

Ferner beobachtet Hickethier, dass sich des Öfteren eine sozialkritisch motivierte Schilderung des Lebens in Deutschland mit dem Krimigenre verband, und dass sich ein deutlicher Unterschied zwischen Tatort und Derrick erkennen lässt: Authentizität, Lokalkolorit und mundartliche Färbungen im Tatort unterscheiden ihn deutlich von der Serie Derrick, die deshalb international leichter zu verkaufen ist, weil ausländische Zuschauer weniger Deutschland-Kenntnisse besitzen und diese Kenntnisse zum Zuschauen von Derrick nicht benötigen.[43]

Jedoch zeichnen sich Tatort und Derrick auch durch Gemeinsamkeiten aus. Mit beiden Serien sind spezifische Inszenierungsmuster verbunden. Beide nutzen das Krimigenre als Projektionsfläche für inhaltliche Aussagen; weiterhin stehen beide Serien für die typische strukturelle Entwicklung, die das Krimigenre im öffentlich-rechtlichen Fernsehen bis zum Wandel in den 1980er Jahren vollzogen hat.[44] Derrick wurde nach 24 Jahren 1998 zum letzten Mal ausgestrahlt. Der Tatort ist heute noch im Programm, und dies aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit an die gesellschaftlichen Erwartungen, seiner flexiblen und vielfältigen Darstellungsformen, seiner unterschiedlichen Handschriften der Autoren und Regisseure und nicht zuletzt seiner Kommissare.[45] Sowohl die Kommissare und die regionale Darstellung des Landes – ob Dorf, Land oder Stadt – als auch die gesellschaftskritische Tendenz begründen das Erfolgskonzept dieser Serie.

3.1.2 Die Genreentwicklung

Die Serie Tatort ist nach einem Authentizitätsmuster konzipiert, das heißt, dass die Fälle und die Darstellung der Polizei sowie die Orte und die Zeit der Handlung realistisch wirken müssen.[46]

Viehoff bemerkt einen allgemeinen Wandel im Krimigenre im deutschen Fernsehen, nämlich von einer objektivistischen zu einer subjektivistischen Darstellung. Während sich die Kommissare in den 1970er Jahren auf den Tatort als Ort der Tat konzentrierten und mit objektiven Methoden und rationalistischem Vorgehen nach Spuren, Indizien und Tätern suchten, sind die Kommissare von heute oft selbst in die Fälle verwickelt oder fühlen subjektiv mit[47],

[...] weil sich die Tatortfixierung durch die Polizei inzwischen wesentlich, nach DER KOMMISSAR und DERRICK, den beiden Protagonisten einer nachhaltig emotionalen Einfühlungskonzeption, nicht mehr auf die Objektivierung der Verhältnisse von Tat und Ort verläßt, sondern lieber den tiefen Blick des Verstehenden und Trauernden, des Philanthropen im Polizeidienst an die Stelle des Mikroskops und des Blitzlichtes setzt.[48]

Der Wandel im Krimigenre äußert sich insbesondere in der Darstellung der Kommissare. Hier gewinnt das Medium für die Vermittlung der Gesellschaftskritik eine neue, zusätzliche Projektionsfläche. Viehoff bezieht seine These auf eine Genreentwicklung, die in zahlreichen Momenten der Inszenierung und Darstellung in Erscheinung tritt, dass immer häufiger und immer aufwändiger die Subjektivität der Tatorterfassung an die Stelle von Objektivierungsmechanismen tritt. Er vermisst das exemplarische Tatort-Vermessen und damit zugleich den systematischen Beginn der Aufdeckung der Tat.[49]

Der Tatort verliert seine Übersichtlichkeit, weil er seine Objektivität verliert: er verlagert sich in die Subjektivität der Täter - und ihrer Beobachter.[50]

Damit meint er, dass die Darstellung der Kommissare insofern überwiegt, als dass die Mordfälle, die einen Krimi ausmachen, zweitrangig werden und die Persönlichkeit des Kommissars als Medium fungiert.

Aber das Genre ist variabler geworden in seiner Einseitigkeit, Handlungen und ihre Orte in der Subjektivität des Betrachters, des Kommissars und – natürlich – des Zuschauers, immer wieder nur noch „unscharf“ zu reproduzieren. Aufgenommen wird das im Bild von dem einsamen Kommissar mit der nackten Leiche. Damit erwächst dem Krimi im Fernsehen zwar eine neue Entwicklungsmöglichkeit. Der Zuschauer oder die Zuschauerin werden in ihrer Beobachterrolle dem Kommissar immer stärker gleichgestellt. Sie werden vom Genre her aufgewertet.[51]

Das Verbrechen selbst gerät in den Hintergrund. Mit dem Kommissar im Vordergrund und seinem subjektiven Empfinden verändert sich jedoch der Blick des Zuschauers auf das Geschehen; indem der Zuschauer sich mit dem Kommissar identifiziert, eröffnen sich weitere Möglichkeiten, eine zusätzliche parallele Mitteilungsebene zu betrachten, auf der inhaltliche Botschaften transportiert werden können. Durch die subjektivistische Darstellung des Kriminalfilms bekommt der Kommissar jedoch als Objekt an Bedeutung. Wurden zu Beginn der Tatort -Serie die genrespezifischen Erwartungen der Zuschauerinnen und Zuschauer bezüglich Authentizität, Realismus, Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit noch erfüllt, wie Viehoff beschreibt, so hat sich diese „Objektivität“ heute tatsächlich stark verändert und an ihre Stelle tritt die „subjektive Betroffenheit“.[52]

Ingrid Brück findet in der Geschichte des Tatorts ebenfalls einen Wendepunkt der Genreentwicklung, an dem erstmals eine Tendenz sichtbar wurde, die sich bis heute fortgeschrieben hat: eine Entwicklung der Darstellung von Eindeutigkeit hin zu Mehrdeutigkeit, von Einförmigkeit hin zu Pluralismus, von Sicherheitsversprechen hin zu Skepsis.[53] Die alte Botschaft, „Kriminalität zahlt sich nicht aus“, ist langsam ausgehöhlt. Legalität und Illegalität werden als alleinige Bezugsgrößen unterwandert und die moralische Ebene gerät mit in den Blick.

Im nächsten Abschnitt wird die Entwicklung des Tatorts in Hinblick auf die Prozesse der Subjektivierung am Beispiel der Darstellung der Kommissare und anhand des gesellschaftlichen Wandels im Zeitraum von den 1970er Jahren bis zum Jahr 2000 beleuchtet.

3.2 Die Entwicklung der Kommissarfigur

Ein Kommissar ist ein Vertreter des Polizeiapparates, der für die Einhaltung der Gesetze, sowie für Ordnung und Ruhe zu sorgen hat. Er ist ein Beamter im staatlichen Dienst und handelt somit im Auftrag des Staates. Seit 1970 haben zahlreiche und sehr unterschiedliche Kommissare als Leitfiguren im Tatort ermittelt.[54]

Weber kategorisiert drei verschiedene Arten von Fernseh-Kommissaren, abhängig von ihrer Stellung in der Polizei-Behörde: Vaterfigur, Bürokrat und Individualist.[55]

Der Vaterfigur -Kommissar stellt einen Ermittler dar, der identisch mit dem Apparat zu sein scheint, da es keine Interessenkonflikte zwischen Individuum und Institution gibt und der Polizeiapparat somit nie als Hindernis oder als Reibungsfläche auftritt. Der Kommissar als Vaterfigur verkörpert in der Serie die höchste und die letzte Instanz von Recht und Gerechtigkeit.[56] In diese Kategorie könnte man die meisten Tatort -Kommissare der 1970er Jahre einordnen. In diesen Jahren ermittelten für den Sender NDR: 1.) Kommissar Trimmel (Walter Richter) von 1970 bis 1982 in Hamburg. Er war extrem autoritär und traktierte seine Umgebung mehr oder weniger methodisch mit dem fraglosen Vorrecht des Patriarchen.[57] 2.) Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) von 1971 bis 1978 in Kiel und dem ländlichen Schleswig-Holstein und 3.) Kommissar Brammer (Knut Hinz) von 1974-1977 in Hannover. Sie alle gehörten zu den Vaterfiguren, die als konservative, kleinbürgerliche Figuren mit ihren sanften, gewaltlosen Aktionen und ihrem hohen moralischem Anspruch auf die Zuschauer wirkten.[58]

Kommissar Trimmel drehte insgesamt elf Folgen, Kommissar Finke zeigte sein Können in sieben Episoden und Kommissar Brammer war nur in vier Folgen zu sehen. Sie gehörten zu den führenden Kommissaren des NDR bis in die 1980er Jahre.[59] Der NDR präsentierte sieben weitere Kommissare, allerdings jeweils nur in ein bis zwei Folgen.

Der Zollfahnder Kressin (Sieghard Rupp), der zwischen 1971 und 1973 im Tatort auftrat, war eine antiautoritäre Figur. Er entsprach nicht dem Bild eines typischen Beamten und auch nicht dem eines Polizisten, der die Obrigkeit personifiziert. Er passte nicht in das Schema eines Polizisten der 1970er Jahre und wurde zur Zollfahndung versetzt.[60] Kommissar Haferkamp (Hansjörg Felmy), von 1974 bis 1980 im Tatort -Dienst, war in Essen eingesetzt. Die Figur Haferkamp stellte einen Polizisten mit wenigen Bedürfnissen dar. Er war bodenständig, ruhigen Temperaments, hörte Jazz-Musik und liebte Bogart-Filme. „Wenn er mal ausgeht, dann sucht er die Kneipe an der Ecke auf, wo er am Tresen eine Frikadelle mit Senf isst sowie ein Pils trinkt.“[61] Diese beiden Kommissare gingen in den 1970er Jahren für den WDR an den Start.

[...]


[1] Georg Feil im Interview mit Oliver Strunck, vgl. Strunck, Tatort als Erfolgsrezept, S. 17b.

[2] Vgl. Hickethier, Der Fernsehkrimi, S. 279.

[3] Ebd, S. 279.

[4] Vgl. Vogt, Tatort – der wahre deutsche Gesellschaftsroman, S. 112f.

[5] Vgl. Wehn, ’Crime-Time’ im Wandel, S. 40.

[6] Vgl. Brück, Der deutsche Fernsehkrimi, S. 4.

[7] Stolte, Bleibt Fernsehen Fernsehen? S. 27.

[8] Ebd., S. 27.

[9] Vgl. ebd., S. 17.

[10] Vgl. Brück, Der deutsche Fernsehkrimi, S. 5.

[11] Ebd., S. 5.

[12] Die einstimmige Differenzierung von sowohl Kriminal- und Detektivromanen als auch von Kriminalerzählungen ist nicht klar definiert. Eine Einführung hierzu bietet: Nusser, Kriminalroman, S. 3ff.

[13] Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, S. 22ff.

[14] Vgl. Tschimmel, Ira: Kriminalroman und Gesellschaftsdarstellung, S. 15ff.

[15] Vgl. Mikos, Dem Verbrechen auf der Spur, http://www.european-mediaculture.org/fileadmin/bibliothek/ deutsch/mikos_krimi/mikos_krimi.html [15.02.2006].

[16] Vgl. Viehoff, Vom Tatort und dem Ort der Tat, S. 259.

[17] Mikos, Dem Verbrechen auf der Spur, http://www.european-mediaculture.org/fileadmin/bibliothek/ deutsch/mikos_krimi/mikos_krimi.html [15.02.2006].

[18] Zitiert nach: Mikos, Dem Verbrechen auf der Spur, http://www.european-mediaculture.org/fileadmin/bibliothek/ deutsch/mikos_krimi/mikos_krimi.html [15.02.2006].

[19] Branigan, Edward: Narrative comprehension and film, S. 75.

[20] Vgl. ebd., S. 75.

[21] Vgl. Mikos, Dem Verbrechen auf der Spur, http://www.european-mediaculture.org/fileadmin/bibliothek/ deutsch/mikos_krimi/mikos_krimi.html [15.02.2006].

[22] Bei Fernsehformaten handelt es sich um gezielte Entwicklungen von Sendungen, die auf die Bedürfnisse des Marktes, d.h. für die Mehrzahl des Publikums bestimmt sind. Hierzu: vgl. Hickethier, Genre oder Format, S. 204.

[23] Brück,.der deutsche Fernsehkrimi, S. 5.

[24] Vgl. Brück, S. 5.

[25] Hickethier, Der Fernsehkrimi, S. 284f.

[26] Wenzel/Witte, Das Scharfe Schwert der Realitätsbezogenheit, S. 26.

[27] Ebd., S. 26.

[28] Vgl. ebd., S. 26.

[29] Ebd., S. 27.

[30] Vogt, Medien Morde, S. 114.

[31] Gunter Witte im Interview mit Wenzel, vgl. Das Scharfe Schwert der Realitätsbezogenheit, S. 27.

[32] Ebd., S. 27.

[33] Vgl. ebd., S. 27.

[34] Vgl. Folge: Duisburg-Ruhrort (1981).

[35] Vgl. Folge: Quartett in Leipzig (2000) und Folge Rückspiel (2002).

[36] Vgl. Folge: Der doppelte Lott (2005).

[37] Gunther Witte im Interview mit Wenzel, vgl. Wenzel, Das scharfe Schwert der Realitätsbezogenheit, S. 28.

[38] Vgl. Brück, Der deutsche Fernsehkrimi, S. 158.

[39] Vgl. Brück, Der deutsche Fernsehkrimi, S. 158.

[40] Ebd., S. 158.

[41] Feil, Georg: Tod- sicher, S. 41.

[42] Vgl. Hickethier, Der Fernsehkrimi, S. 287.

[43] Vgl. Hickethier, Der Fernsehkrimi, S. 288.

[44] Vgl. Brück, Der deutsche Fernsehkrimi, S. 158.

[45] Vgl. ebd., 158.

[46] Gunther Witte im Interview mit Wenzel, vgl. Wenzel, Das scharfe Schwert der Realitätsbezogenheit, S. 28.

[47] Vgl. Viehoff, Vom Tatort und dem Ort der Tat, S. 262.

[48] Viehoff, Vom Tatort und dem Ort der Tat, S. 262.

[49] Ebd., S. 262.

[50] Ebd., S. 262.

[51] Ebd., S. 263.

[52] Viehoff, Vom Tatort und dem Ort der Tat, S. 263.

[53] Vgl. Brück, Der deutsche Fernsehkrimi, S. 164.

[54] Vgl. Viehoff, Der Krimi im Fernsehen, S. 90.

[55] Vgl. Weber, Die Beruhigende Mörderjagd, S. 267.

[56] Vgl. Weber, Die Beruhigende Mörderjagd, S. 267.

[57] Vgl. Engel, Lorenz, Der Tatort und die Aufklärer, S. 37.

[58] Knott-Wolf, Das Spiel mit der Realität, S. 35.

[59] Zu Daten und Zahlen über verschiedene Tatort-Folgen und Ermittlern bietet, vgl. http://www.tatort-fundus.de [12.01.2006] oder Wacker: Tatort. S. 105ff.

[60] Vgl. Leder, Ortsbegehungen, S. 53.

[61] Leder, Ortsbegehungen, S. 55.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Gesellschaftskritik in der Fernsehserie „Tatort“ zwischen 1970 und 2000
Untertitel
Anhand ausgewählter Beispiele
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
2,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
85
Katalognummer
V87067
ISBN (eBook)
9783640326877
ISBN (Buch)
9783640327263
Dateigröße
763 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit ist verfasst worden im Institut für Neuere Deutsche Literatur, jedoch befasst sich die Arbeit mit einem medienwissenschaftlichen Thema.
Schlagworte
Gesellschaftskritik, Fernsehserie
Arbeit zitieren
Olga Buchholz (Autor:in), 2006, Gesellschaftskritik in der Fernsehserie „Tatort“ zwischen 1970 und 2000, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/87067

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