Zur Frage der Gattung und der Fragmenthaftigkeit bei Georg Büchners Lenz


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Zur Fragmentfrage bei Büchners Lenz
1. Editionsgeschichte
2. Zur Textgestalt
3. Literaturwissenschaftlicher Umgang mit dem Fragmenttext

III. Ist Lenz eine Novelle?
1. Bezeichnung durch Gutzkow
2. Gattungsmerkmale der Novelle
3. Die Gattungsfrage bei Lenz

IV. Zusammenfassung

V. Bibliographie

„Leider ist die Novelle Fragment geblieben“

– Karl Gutzkow (1811-1878) im Vorwort zum Erstdruck von Lenz[1]

I. Einleitung

Dieser hier vorangestellte Kommentar Gutzkows in der Einleitung zu dem von ihm erstmals herausgegebenen Text Georg Büchners (1813-1837) war folgenschwer für die Rezeption von Lenz. Besonders als zu Beginn 20. Jahrhundert ein starkes Interesse aufkeimte, und sich auch immer mehr Literaturwissenschaftler mit dem Werk des jung verstorbenen Dichters beschäftigten, wurde die herausragende Bedeutung und Innovation des Lenz -Textes bald erkannt. Allerdings, so scheint es zumindest, folgten doch sehr viele Forscher unbedacht Gutzkow in der Gattungsfrage. Lenz wurde, und wird auch immer noch, nicht selten als Novelle bezeichnet. Die Verwendung dieser Gattungsbezeichnung für den Text hielt und hält sich äußerst hartnäckig, und dies liegt vermutlich nicht nur an Gutzkows Einschätzung, sondern auch am Text selbst. Auch die zweite Klassifizierung des Textes, die als Fragment, hatte einige Nachwirkungen. Hier sind sich die Literaturwissenschaftler bis heute in Details noch nicht einig, und die Erforschung der frühen Textedition, sowie die historisch-kritische Edition des Textes sorgen für eine energische Diskussion.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den beiden angesprochenen Themenkomplexen. Zum einen soll überprüft werden, zu welcher Textgattung man Lenz zuordnen kann, und welche Textmerkmale zu dieser Zuordnung führen. Folgt man der neuen Forschung, scheint es zwar einfach, die Novellenfrage zu beantworten, aber dennoch ist diese noch nicht ganz abgehakt: es finden sich immer wieder Bezeichnungen des Texts als Novelle, und viele, die über Lenz schreiben, fühlen sich genötigt, an dieser oder jener Stelle die Gattungsfrage zu behandeln. Die Schuld für die fälschliche Gattungszuordnung der nachfolgenden Generationen einfach nur Gutzkow in die Schuhe zu schieben, erscheint zu einfach. Auch ist es schwer zu glauben, dass die frühere Lenz -Forschung, bzw. die vereinzelten Forscher heute, die immer noch von einer Novelle reden, nicht mit Gattungsklassifikationen umgehen können. Somit lohnt es sich, sich mit dieser Frage zu beschäftigen.

Zum anderen soll die Klassifizierung von Lenz als Fragment einer genaueren Untersuchung unterzogen werden, wobei hier die Editionsgeschichte und die Betrachtung der Textgestalt größere Abschnitte einnehmen werden. Da bei einem für die Literaturgeschichte derart wichtigen Text die textkritische Begutachtung der Textgestalt nicht außer acht gelassen werden darf, bietet es sich an, sich mit dieser Fragestellung zu befassen, da hier einige Unklarheit in der Forschung herrscht. Mit dieser Untersuchung soll begonnen werden.

II. Zur Fragmentfrage bei Büchners Lenz

1. Editionsgeschichte

Der Text, wie er dem Leser heute vorliegt und auch bei seiner Erstveröffentlichung vorlag, wurde so nie Georg Büchner zum Druck autorisiert. Büchner starb am 19. Februar 1837, und das Manuskript, das er hinterlassen hatte, ist nicht erhalten.[2] Nach seinem Tod wurde eine Abschrift, die ebenfalls verschollen ist,[3] von seiner Braut Wilhelmine (Minna) Jaeglé erstellt und an Gutzkow weitergeleitet. Dieser veröffentlichte den Text dann 1839 im Telegraph für Deutschland unter dem Titel Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner.[4] Der Titel wurde von Gutzkow hinzugefügt.[5] Schon bei diesen ersten Stationen der Editionsgeschichte von Lenz liegen einige entscheidende Unklarheiten vor: Nachdem Büchner gestorben war, hat Jaeglé „aller Wahrscheinlichkeit nach alles handschriftliche Material […] an sich genommen und Ende Februar 1837 als Vermächtnis Büchners nach Straßburg mitgebracht“.[6] Leider ist aber nicht überliefert, wie dieses Material beschaffen war, in welcher Form es vorlag, und wie Jaeglés Arbeit daran genau ausgesehen hat. Es ist lediglich durch Gutzkows Büchner-Nachruf 1838 bekannt geworden, dass Jaeglé ihm im September 1837 Abschriften des Nachlasses von Büchner geschickt hat.[7]

Gutzkows Erstdruck gilt im Allgemeinen als die einzig brauchbare Überlieferung. Zwar gibt es auch noch einen späteren zweiten Druck von Gutzkow, aber dieser ist für die Editorik irrelevant und wird als fehlerhaft betrachtet.[8] Einer Edition im Rahmen der mit Nachgelassene Schriften betitelten ersten Gesamtausgabe, die von Ludwig Büchner 1850 herausgegeben wurde, wurde in der Vergangenheit oft größere Beachtung zuteil. Mancher nahm an, Georg Büchners Bruder hätte bessere Textzeugen zur Hand gehabt als Gutzkow, und darum wäre der von ihm herausgegebene, erheblich unterschiedliche Text der einzige authentische Textzeuge. Teilweise wurde sogar vermutet, dass Ludwig Büchner eine verschollene Handschrift zu Rate hatte ziehen können.[9] Diese Vermutungen fußten auf keinerlei handfesten Beweisen, und durch eingehende textkritische Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass nur Gutzkows Erstdruck ein verlässlicher Textzeuge ist, und dass sein weiterer Druck, und vor allem Ludwig Büchners Ausgabe stark bearbeitete Nachdrucke des Erstdrucks sind.[10] In der Absicht, einen „möglichst anstandslos rezipierbaren Lenz -Text“[11] zu liefern, glättete Ludwig Büchner, besserte aus, fügte hinzu, entfernte, verwechselte Unfertiges mit Fehlerhaftem und unternahm Eingriffe auf allen Ebenen.[12] Bemerkt hatte dies zwar schon Bergemann 1922[13] (im Gegensatz zu Franzos[14] vorher, der in der Annahme, Gutzkows und Ludwig Büchners Texte seien identisch, den Text des Bruders abdruckte),[15] aber unglücklicherweise wurde dies von der Forschung erst in den 1980ern herausgearbeitet, so dass viele lange unbedacht der irrigen Annahme gefolgt waren, dass Ludwig Büchners Bearbeitung einen besonders authentischen Text biete.[16]

Nachdem diese Fehlannahmen – H. Gersch spricht davon, dass ein Durcheinander „von verschollenen Manuskripten und Abschriften, von divergierenden Fassungen und Verwertungen, von Nachdrucken und Bearbeitungen und von nichtauthentischen Ausgaben“[17] geherrscht habe – aufgedeckt und als solche gut begründet und berichtigt waren, konnte eine historisch-kritische Edition[18] erarbeitet werden, die den Text nicht mehr in „enstellter Form“[19], sondern in verlässlicher, auf Gutzkows Erstdruck fußender Fassung bereitstellen konnte. Denn selbst Bergemann, dem ja bewusst war, wie stark sich Ludwig Büchner am Text zu schaffen gemacht hatte, „machte […] selbst den Anfang damit, diese Erkenntnis in der Praxis zu verschütten, mit entstellenden […] Folgen für die Druckgeschichte“.[20] Unverständlicherweise besserte er seine Edition von Lenz mit Hilfe von Ludwig Büchners schon als Eingriffen erkannten Abweichungen an manchen Stellen aus und griff selbst noch auf der Ebene der Interpunktion und der Absatzeinrichtung ein.[21] In einer späteren Edition von Werner Lehmann[22] werden Bergemanns Eingriffe übernommen, in dem Glauben an seine unbegründete These, Ludwig Büchner hätte die Möglichkeit gehabt, Gutzkows Text mit Hilfe einer Handschrift zu verbessern.[23]

H. Gersch legte die oben erwähnte historisch-kritische Edition als Studienausgabe bei Reclam vor:

„Diese Edition zielt auf einen im Rahmen des gegenwärtigen Forschungsstandes verläßlichen Text möglichst ohne fremde Zutaten. Sie greift entschieden auf den allein verbindlichen Erstdruck zurück. Aus dieser Textgrundlage mustert sie dann noch mit den Mitteln der Textkritik Verderbnisse aus. […] Die kritische Edition präsentiert einen Text, bei dem der Entwurfcharakter des Werkes […] nicht kaschiert ist, sondern als historischer Befund eines abgebrochenen ‚work in progress‘ für den Leser einsehbar bleibt.“[24]

Allerdings ist damit die Diskussion um die Lenz -Edition nicht beendet worden. Wie alle bisherigen Ausgaben wurde auch Gerschs Ausgabe mit Kritik an der Arbeitsweise und den daraus folgenden gedruckten Ergebnissen bedacht: R. Thieberger stellt auf Gerschs Verlautbarung, dass alle vorigen Ausgaben Texte bieten, die „so nicht von Georg Büchner“[25] stammen, fest, dass auch Gerschs Studienausgabe „natürlich ‚so‘ nicht von Büchner, sondern von Gersch stammt“, da dieser „nicht anderen Prinzipien folgt als seine Vorgänger: er stellt einen ihm authentisch erscheinenden Text her“.[26] H. Poschmann wirft vor, dass „[n]icht alle von Gersch vertretenen Herausgeberentscheidungen […] mit seiner erklärten Absicht, den überlieferten Stand der abgebrochenen Arbeit Büchners an dem Werk unverändert zu dokumentieren“,[27] im Einklang stünden, da er zum Beispiel vermeintliche Arbeitslücken typographisch kennzeichnet, deren tatsächliches Vorhandensein nicht sicher ist, er ungerechtfertigt Hervorhebungen im Text, die bei Gutzkow realisiert waren, beseitigt, und auch in die Absatzeinteilung eingreift.[28]

So ist also letztendlich in der Frage zur endgültigen Edition von Büchners Lenz, wie auch zu seinen anderen Schriften, nicht das letzte Wort gesprochen, und ein Ende der Diskussion nicht absehbar. Gerschs Edition wird zwar teilweise für die „beste, zuverlässigste und ‚authentischste‘ der derzeit im Buchhandel erhältlichen“[29] Editionen gehalten, sieht man von der neueren, besonders umfangreich von Materialien begleiteten Marburger Ausgabe[30] einmal ab, aber wie man sieht stehen ihr auch viele Forscher kritisch gegenüber. Für die allgemeine Interpretation und Arbeit am Text erscheinen aber alle neueren Ausgaben, die nicht auf alten, ‚entstellenden‘ Editionen aufbauen und sich nach Gutzkows Erstdruck richten, zumindest brauchbar, zumal man in Zweifelsfällen, da die Problematik ja jetzt bekannt ist, Unterschiede immer noch überprüfen kann.

[...]


[1] Zit. nach Gerhard Schaub: Georg Büchner. Lenz. Stuttgart: Reclam, 1996. (RUB Nr. 8180) S. 82.

[2] Vgl. Hubert Gersch: Georg Büchners Lenz-Entwurf: Textkritik, Edition und Erkenntnisperspektiven. Ein Zwischenbericht. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983). Hrsg. v. Hubert Gersch, Thomas Michael Mayer u. Günter Oesterle. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, 1984, S. 15f.

[3] Vgl. ebd., S. 15f.

[4] Vgl. Schaub 1996, S. 82.

[5] Vgl. Gersch 1984, S. 16.

[6] Schaub 1996, S. 78.

[7] Vgl. ebd., S. 80f.

[8] Vgl. Gersch 1984, S. 16.

[9] Vgl. Walter Hinderer: Büchner Kommentar zum dichterischen Werk. München: Winkler, 1977, S. 161.

[10] Vgl. Schaub 1996, S. 86.

[11] Gersch 1984, S. 16.

[12] Vgl. ebd., S. 16.

[13] Sämtliche Werke und Briefe. Auf Grund des handschriftlichen Nachlasses Georg Büchners. Hrsg. Fritz Bergemann, Leipzig: Insel Verlag, 1922.

[14] Sämtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesamtausgabe. Eingel. und hrsg. von Karl Emil Franzos. Frankfurt a. M.: Sauerländer, 1879.

[15] Vgl. Georg Büchner. Dichtungen. Hrsg. v. Henri Poschmann. Frankfurt a. M.: Deutscher Taschenbuchverlag, 2006, S. 792.

[16] Vgl. Gersch 1984, S. 16.

[17] Ebd., S. 15.

[18] Georg Büchner. Lenz. Studienausgabe. Hrsg. mit Materialien und Nachwort v. Hubert Gersch. Stuttgart: Reclam, 1984. (RUB 8210) (Im Folgenden: Studienausgabe)

[19] Gersch 1984, S. 17.

[20] Poschmann 2006, S. 792.

[21] Vgl. ebd., S. 793.

[22] Sämtliche Werke und Briefe. Hist.-krit. Ausg. mit Kommentar. Hrsg. Werner R. Lehmann. Bd. 1: Dichtungen und Übersetzungen mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Hamburg: Wegner, 1967.

[23] Vgl. Poschmann 2006, S. 793f.

[24] Studienausgabe, Nachwort, S. 66.

[25] Ebd., S. 65.

[26] Richard Thieberger: Über Hubert Gerschs neue „Studienausgabe“ von Büchners „Lenz“. In: Georg Büchner Jahrbuch 4 (1984). Hrsg. v. Thomas Michael Mayer. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, 1986, S. 268.

[27] Poschmann 2006, S. 795.

[28] Vgl. ebd., S. 795-797.

[29] Schaub 1996, S. 87.

[30] Georg Büchner. Lenz. Hrsg. v. Burghard Dedner u. Hubert Gersch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Zur Frage der Gattung und der Fragmenthaftigkeit bei Georg Büchners Lenz
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistisches Seminar )
Veranstaltung
Novelle von Goethe bis Hauptmann
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
23
Katalognummer
V89490
ISBN (eBook)
9783638035217
ISBN (Buch)
9783638932462
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frage, Gattung, Fragmenthaftigkeit, Georg, Büchners, Lenz, Novelle, Goethe, Hauptmann
Arbeit zitieren
Ole Wagner (Autor:in), 2008, Zur Frage der Gattung und der Fragmenthaftigkeit bei Georg Büchners Lenz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89490

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