Unterschiede in Wissenschaftsstilen

Vergleich von deutsch-, französisch- und englischsprachigen Einführungen in die Sprachwissenschaft


Magisterarbeit, 2007

83 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zum Verhältnis zwischen Kultur und Sprache

3. Wissenschaftssprache
3.1. Was ist Wissenschaftssprache?
3.2. Merkmale der Wissenschaftssprache
3.3. Deutsche Wissenschaftssprache
3.4. Englische Wissenschaftssprache
3.5. Französische Wissenschaftssprache

4. Kurzer Forschungsüberblick zur Wissenschaftssprache
4.1. Michael Clyne
4.2. Johan Galtung

5. Zur Corpuswahl und Methodik

6. Einzelanalysen der Einführungen
6.1. Die Einführung in die englische Sprachwissenschaft
6.2. Die Einführung in die französische Sprachwissenschaft
6.3. Die Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft

7. Statistiken und Zahlen
7.1. Yule 44 7.2. Saussure, Ferdinand de
7.3. Fischer/Uerpmann

8. Auswertung der Statistiken und Ergebnisse

9. Ausblick

10. Bibliographie

Anhang

1. Einleitung

Der Gebrauch der Sprache in der Wissenschaft kann nur dann sinnvoll analysiert werden, wenn man den Untersuchungsgegenstand präzisiert. In der vorliegenden Arbeit ist die Wissenschaft durch die geisteswissenschaftliche Disziplin Sprachwissenschaft repräsentiert. Den Gegenstand Sprache grenze ich ein, indem ich die Konstante meiner Untersuchung festlege, nämlich die Textsorte, welche in diesem Fall die Einführung in die Sprachwissenschaft darstellt.

Die wissenschaftlichen Texte variieren in Abhängigkeit von Wissenschaftszweig und Disziplin sowie in Abhängigkeit von Verfasser- und Adressatengruppen. Sie weisen zwar einige allen Wissenschaftstexten gemeinsame Merkmale auf, haben aber auch spezielle Charakteristika und zum Teil einen jeweils eigenen „Jargon“. So unterscheiden sich z.B. der Stil geisteswissenschaftlicher Texte von dem naturwissenschaftlicher Texte und der Stil einführender Bücher für Studenten von dem Stil von Fachbüchern oder Fachartikeln, die für Wissenschaftler geschrieben wurden. Es ist daher schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, den Wissenschaftsstil zu beschreiben; vielmehr muss man bei einem Vergleich stets die Texttypenspezifik beachten, d.h. der Vergleich kann nur innerhalb einer Wissenschaftsgruppe, einer Autorengruppe und einer Adressatengruppe stattfinden. Die mir vorliegende Textsorte ist einführende Literatur in die Sprachwissenschaft mit jeweiliger Ausrichtung auf die Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch.

Diese Einführungen sind trotz der ähnlichen Thematik nicht gleich aufgebaut: Während eine Einführung zuerst ein Thema behandelt, behandelt eine andere Einführung ein anderes. Ich habe deshalb aus jeder Einführung die Kapitel ausgewählt, die sich mit der Phonetik beschäftigen, da dies ein Thema darstellt, das man in jeder beliebigen Einführung in die Sprachwissenschaft finden kann.

Meines Erachtens ist es nicht sinnvoll, die Biographien der einzelnen Autoren auf ihre muttersprachliche Zugehörigkeit und die unterschiedlichen fremdsprachlichen Einflüsse hin untersuchen zu wollen, denn auch bei genauer Recherche ließen sich in keinem Fall die psychologischen Faktoren in ausreichendem Maße erfassen, die für die sprachlichen Fähigkeiten und Vorlieben mit ausschlaggebend sind. Hinzu kommt natürlich, dass es sich bei den Autoren um Linguisten handelt, die sich im Laufe ihres Lebens in verschiedene Sprachräume aufgehalten haben und die davon im gewissen Umfang beeinflusst wurden. Ich gehe bei meiner Untersuchung davon aus, dass die Autoren die Wahl zwischen verschiedenen Sprachen bei ihren Publikationen hatten und ihre Entscheidung kann man als Indiz dafür nehmen, dass die Autoren für die gewählte Sprache eine Präferenz, wenn nicht eine dominierende Kompetenz haben. Kompetente Benutzer einer bestimmten Sprache beherrschen auch die Verwendung der textuellen Konventionen der jeweiligen Sprache. Das bedeutet, dass ein Autor zu unterscheiden weiß, welche textuellen Konventionen er in welcher Sprache realisieren muss, damit sein Text nicht nur als ein Text z.B. in französischer Sprache, sondern als ein französischer Text rezipiert wird. Diese zumindest intuitive Kenntnis und Verwendung von Textkonventionen spielt eine große Rolle bei der Textproduktion und –rezeption.

Wenn ich in dieser Arbeit die wissenschaftlichen Stile der deutschen, englischen und französischen Tradition beschreibe, so ist das nicht ganz unproblematisch, da ich selbst auch in einer bestimmten Wissenschaftstradition stehe, von der meine Sichtweise und Wahrnehmung beeinflusst werden. Dennoch werde ich natürlich versuchen, so objektiv wie möglich zu beschreiben.

2. Zum Verhältnis zwischen Kultur und Sprache

Meiner Arbeit liegt die Erfahrung zugrunde, dass trotz einer immer weiter fortschreitenden Internationalisierung und Anglisierung der Wissenschaften unterschiedliche Traditionen und Konventionen in den einzelsprachlichen Realisierungen wissenschaftlicher Texte zutage treten.

Bevor ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit den Vergleich von Texten vornehme, die zu verschiedenen Kulturen gehören, möchte ich zunächst kurz auf den Begriff der `Kultur` eingehen. Als Einstieg in die Thematik möchte ich die Erfahrungen eines mexikanischen Studenten beim Verfassen einer deutschen literaturwissenschaftlichen Seminararbeit anführen:

Während der letzten Wochen habe ich mich mit Hilfe von Wörterbüchern, Grammatik und Fragen an meine Freunde um das bestmögliche Verständnis einer romantischen Erzählung bemüht. Ich habe mir genaueste Notizen gemacht. … Ein deutscher Freund, der hervorragend Spanisch spricht, half mir mit sprachlichen Korrekturen, so daß das Deutsch fehlerfrei war. Eine Woche später bestellte mich der Dozent Sch. in seine Sprechstunde.

„Ich kann Ihre Arbeit nicht beurteilen“, sagte er knapp.

„Sie halten sich nicht an die deutschen Forschungsmethoden.“

Ich war erstaunt… .

„Ich sagte Ihnen, ich kann Ihre Arbeit einfach nicht beurteilen“, sagte er noch einmal und fügte hinzu: „ Und wie steht es mit der Bibliographie?“

Es stimmte, daß ich als Bibliographie lediglich das analysierte Buch angegeben hatte.

Ich erklärte: „Die Bibliographie reicht doch nicht aus, um eine Arbeit zu beurteilen, ebensowenig wie Fußnoten. Zitate von anderen Autoren reichen doch nicht aus, um einem Text Qualität und Gültigkeit zu verleihen, ebensowenig wie eine Bibliografie zur besseren Erklärung beiträgt. Ein Freund von mir hat einen Katalog[1] verfasst und dafür eine gute Note bekommen. Das ist doch heute nicht mehr möglich. Kataloge sind schon genug geschrieben worden. Das, was normalerweise fehlt, ist doch die Kreation, der persönlichen Beitrag.“

Der Dozent Sch. rückte mit spitzen Fingern seine Brille zurecht… „Ich wiederhole noch einmal, daß ich Ihre Arbeit nicht beurteilen kann. Wie sind Sie vorgegangen?“

„Ich kann Ihnen all meine Aufzeichnungen zeigen“, antwortete ich, „den vollständigen Plan, den ich mir für meine Arbeit gemacht habe. Eine solche Arbeit entsteht doch nicht von selbst. Sie hat mich viele Stunden am Schreibtisch gekostet. Sie müssen doch auch bedenken, daß so eine Arbeit schon schwer für einen deutschen Studenten ist, um wieviel schwerer ist sie erst für einen ausländischen Studenten.“

„Ihre Arbeit lässt sich leicht lesen, ist ansprechend geschrieben, aber Sie müssen einfach das Trockene akzeptieren, das Langweilige. Gehen Sie zu einem Seminar über literarische Theorie“, empfahl er mir lächelnd.

Ich entgegnete: „Wie viele Bücher muss ich denn gelesen haben, damit meine Arbeit gut ist? Wie trocken soll sie denn sein, damit sie ernst genommen wird? Wie langweilig muss sie sein, damit es sich lohnt, sie zu lesen?“

„Nein, nein. Es geht nicht darum“, sagte er ein bisschen verzweifelt, „es geht darum, daß Sie sich an uns anpassen.“

Auf einmal konnte ich kein Deutsch mehr sprechen oder verstehen… .

„Ihre Arbeit ist wirklich ansprechend. Könnte es sein, dass Sie einen Essay geschrieben haben?“ fragte der Dozent Sch.

„Ja, es könnte ein Essay sein“, antwortete ich.

„Also, hier sind wir gegen `Essayismus`“, sagte er entschieden.

Traurig nahm ich meine Unterlagen, warf mir meinen Schal um und verließ das Germanistikgebäude. Ich schickte meine Arbeit zusammen mit einem Beschwerdebrief an akademische Prüfungskommissionen. Aus Bonn erhielt ich ein Antwortschreiben, indem man mir empfahl, ein Seminar für Anfänger zu besuchen.[2]

Was ist hier passiert? Der mexikanische Student scheint die Erwartungen des deutschen Dozenten mit seinem in der mexikanischen Wissenschaftstradition geschriebenen Text nicht erfüllt zu haben, trotz sprachlicher Korrektheit. Der Dozent beurteilt den fremden Text nach den Kriterien des eigenen (deutschen) Textwissens und empfindet diesen als abweichend und befremdlich.

In diesem konkreten interkulturellen Kontakt stoßen zwei verschiedene Formen wissenschaftlicher Kommunikation aufeinander, welches auf beiden Seiten Unverständnis auslöst. Sowohl dem mexikanischen Studenten als auch Herrn Sch. ist „ etwas geheim geblieben “.[3]

Wenn wir über Kultur sprechen, müssen wir uns zunächst fragen, was der Terminus genau meint. Mit dem Kulturbegriff gehen allerdings große Definitionsschwierigkeiten einher. Die inhaltliche Bedeutung des Kulturbegriffs variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft und auch in den Einzelwissenschaften wird der Begriff unterschiedlich gebraucht. Wegen der definitorischen Schwierigkeiten und der Fülle von existierenden Kulturkonzepten und –definitionen möchte ich mich hier darauf beschränken, Rehbeins[4] Kulturkonzept wiederzugeben. Kultur ist ein mehrdimensionales Phänomen. Sie besitzt sowohl eine synchrone, systematische Dimension als auch eine diachrone, historische Dimension. In ihrer systematischen Dimension ist Kultur ein für eine gesellschaftliche Gruppe aktuell geltendes Ensemble von gleichen, selbstverständlichen und funktionalen Verhaltensweisen. In ihrer zeitlichen Dimension ist Kultur zu begreifen als das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung, also als geschichtlich begründete, gemeinsame Vorstellungen, Denkweisen, Gefühle, Verhaltens- und Existenzformen. Kultur ist nicht identisch mit Nation. So gibt es verschiedene Subkulturen innerhalb einer Nation oder auch nationenübergreifende Kulturen. Kultur ist primär bedingt durch die gemeinsame Selbstverständlichkeit des Denkens, Fühlens und Handelns einer Gruppe und nicht durch den Besitz bestimmter Reisepässe.

Schriftliche und mündliche Texte derselben Textsorte aus verschiedenen Kulturen weisen vielfach große Unterschiede in ihrem Textmuster auf. Diese Unterschiede können zu erheblichen Schwierigkeiten und Missverständnissen sowohl bei der Textproduktion in fremder Sprache als auch bei der Textrezeption führen.

Welches Verhältnis besteht nun zwischen Kultur und Sprache? In der Sprache manifestieren sich die Vorstellungen, Denkweisen, etc. einer gesellschaftlichen Gruppe, d.h. Sprache wird zum Medium, durch das sich Kultur ausdrückt. Mit anderen Worten: Kultur prägt die sprachlichen Ausdrucksformen.[5]

Texte entstehen also nicht im luftleeren Raum – sie sind Produkte ihres kontextuellen Umfeldes und werden durch viele Faktoren beeinflusst. Anna Mauranen formuliert das Verhältnis von Kultur und Texten folgendermaßen:

[T]exts are in themselves one of the main keys to understanding a culture. Texts as cultural products act out relevant social relationships within the culture, and in this way provide keys to understanding themselves as well as other aspects of the culture.[6]

Aber wie können wir bestimmte Faktoren im Umfeld des Autors auswählen und rechtfertigen, dass genau diese eine Wirkung auf seine akademische Verhaltensweise haben? Dabei kämen einfach zu viele Variablen ins Spiel und deswegen wäre dies eine unmögliche Aufgabe. Trotzdem können wir zumindest vermuten, dass die Muttersprache des Autors, die mit seiner sprachlichen Identität zusammenhängt, eine große Rolle spielt. Ein anderer wichtiger Einflussfaktor könnte die akademische Welt sein, die die akademische Identität des Autors erheblich beeinflusst. Der dritte Faktor wäre die vom Autor ausgewählte Disziplin und die disziplinäre Identität, die damit einhergeht. Als vierter Faktor führt Fløttum die Aspekte auf, die die Gattung und die akademische Gemeinschaft betreffen.[7]

Das Kommunikationsverhalten ist also kulturell geprägt. So wie nonverbale Kommunikationselemente wie Gestik, Mimik, Körperhaltung und Blickkontakt variieren, so sind auch Redebeginn, Sprecherwechsel, Turntakingsignale, Art und Länge der Redebeiträge usw. von Kultur zu Kultur verschieden.

Als es in den sechziger Jahren zu einem großer Zustrom von Studenten der verschiedensten Nationalitäten an amerikanische und westeuropäische Universitäten kam, stellte man fest, dass das was diese ausländischen Studenten schrieben, nicht zwangsläufig falsch war, sondern einfach anders.

Kaplan, der beeinflusst wurde von der Sapir-Whorf-Hypothese, ging damals schon von einer gegenseitigen Beeinflussung von Sprache und Kultur aus.

As Peirce said, if Aristotle had been Mexican, his logic would have been different; and perhaps, by the same token, the whole of our philosophy and our science would have been different. The fact is that this diversity affects not only languages, but also the cultures…and language in its turn is the effect and the expression of a certain world view that is manifested in the culture.[8]

Es ist natürlich nicht so, dass jede Nation ihre eigene Sprache hat – manche Nationen haben sogar mehr als eine. Alle drei Sprachen, die in dieser Arbeit behandelt werden, sind offizielle Sprachen in mehreren Ländern. Englisch wird fast überall auf der Welt allgemein akzeptiert als die lingua franca und in der akademischen Welt nimmt sie auch eine privilegierte Rolle ein. Die englische Sprache ist die Muttersprache der Menschen in Großbritannien, den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika und dient zahlreichen anderen Ländern als Hauptkommunikationsmittel. Es ist deshalb nicht richtig, anzunehmen, dass alle nativen Sprecher des Englischen ein und derselben Nation angehören. Wenn man allerdings das geschriebene Englisch der verschiedenen Nationen vergleicht, scheint es doch viele Ähnlichkeiten über die Landesgrenzen hinweg zu geben. Dasselbe scheint auch für die frankophone und deutschsprachige Welt zu gelten, die die französische bzw. deutsche Norm einhalten. Es ist oftmals so, dass Nationen, die dieselbe Sprache sprechen auch dieselben kulturellen Werte teilen.[9] Ich möchte hier allerdings keine völlige Homogenität innerhalb des Wissenschaftsstils einer Gesellschaft und einer Wissenschaftsdisziplin unterstellen. Man kann lediglich feststellen, dass bestimmte Merkmale der Textstruktur und Komposition innerhalb eines interkulturellen Stils vorherrschend sind.

3. Wissenschaftssprache

3.1. Was ist Wissenschaftssprache?

Wenn ein Wissenschaftler die wissenschaftliche Gemeinschaft an seiner Theorie teilhaben lassen möchte, und diese schriftlich verfasst, tut er dies mittels der Wissenschaftssprache und nicht mittels der Alltagssprache, die als Kommunikationsmittel flexibel ist, die aber gerade deswegen zur Wissenschaftsvermittlung ungeeignet ist, denn viele Wörter der Alltagssprache sind mehrdeutig, ihre Bedeutung ist oft unscharf; die Alltagssprache enthält Synonyme, etc. Die Begriffe der Wissenschaftssprache müssen jedoch eindeutig und genau sein. Die Wissenschaftssprache versucht diese Nachteile der Alltagssprache zu überwinden, indem sie eine spezielle Terminologie verwendet, die für die jeweilige Wissenschaft genau definierte Begriffe bezeichnet. Durch eine solche Terminologie wird neben der Eindeutigkeit auch eine kürzere und damit übersichtlichere Ausdrucksweise möglich.

Was aber meint Wissenschaftssprache genau? Wissenschaftssprache meint, sofern nicht von einer bestimmten Disziplin die Rede ist, einen angenommenen, allen Einzelwissenschaften gemeinsamen Bestand von Formen und Funktionen, die sich auf charakteristische Weise von denjenigen anderer Kommunikationsbereiche – etwa der Alltagssprache, der Literatur- oder der Werbesprache unterscheidet. Ob es solche Charakteristika tatsächlich gibt, kann letztlich nur durch eine umfassende Beschreibung der Sprachen aller Einzelwissenschaften nachgewiesen werden.[10]

Wissenschaftliche Fachsprache meint dagegen die Sprache einer Disziplin, wobei die Frage nach gemeinsamen Merkmalen mit der Sprache anderer Fachdisziplinen in den Hintergrund tritt.[11] Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jeweiligen Fachsprachen in den unterschiedlichen Disziplinen zu untersuchen ist sicherlich ein interessanter Gegenstand der Wissenschaftssprachenforschung, welcher aber in der vorliegenden Arbeit aus Relevanzgründen für die Untersuchung ausgeblendet wird, da die vorliegenden Texte einer einzigen Disziplin angehören, nämlich der Sprachwissenschaft.

Uwe Pörksen vertritt die Meinung, dass Wissenschaftssprache sich nicht definieren ließe. “Die Definitionsversuche haben etwas Unfruchtbares und führen zu einem Streit um Worte. […] Zwischen den Extremen [der Nichtsprachlichkeit der Naturwissenschaftssprache und der Nähe zur allgemeinen Gebrauchssprache der Literaturwissenschaft] spannen sich, auf einer gleitenden Skala, verschiedene Typen der Wissenschaftssprache.[12]

3.2. Merkmale der Wissenschaftssprache

Was aber sind die Anforderungen und Erwartungen an die Wissenschaftssprache? Natürliche Sprache wurde lange Zeit als Feind wissenschaftlicher Ausführungen gesehen. Dies erschwerte es, akademisches Schreiben als kommunikativ anzusehen und machte auch eine interkulturelle Perspektive unmöglich. Anna Duszak sieht das Hauptproblem darin, dass: […] “the sacrum of knowledge and truth is at the mercy of a medium that is profane, and a user who is fallible”.[13] Um der wissenschaftlichen Reinheit willen wurde eine unpersönliche Sprache empfohlen, eine Sprache, die keine emotionellen und persönlichen Charakteristika enthält, keine unscharfen Ausdrücke und keine einseitigen Darstellungen. All dies trug zum Bild der entpersönlichten Sprache in den Wissenschaften bei, und damit verbunden, zum Bild des entpersönlichten Autors. Da es von Wissenschaftlern erwartet wurde, das Wissenschaftliche vom Menschlichen zu trennen, wurde Homogenität innerhalb der Wissenschaftsstile vorausgesetzt.

Nach Auffassung des Wissenschaftssoziologen Joseph Gusfield sollte die Wissenschaftssprache, im Gegensatz zur literarischen Sprache, so transparent wie klares Glas sein, um die Aufmerksamkeit des Lesers unmittelbar auf die dargestellten wissenschaftlichen Fakten und Thesen zu lenken.[14] Der Mathematiker Paul Halmos fordert in seinem Essay How to Write Mathematics: „ Der Stil sollte nicht gut im Sinne auffallender Brillanz sein, sondern gut im Sinne völliger Unauffälligkeit. “ Halmos verlangt vom wissenschaftlichen Sprachgebrauch, „ daß er völlig unauffällig sein muß wie gute Hintergrundmusik für einen Film, so daß der Leser ohne bewußte oder unbewußte Hemmnisse, die durch das Kommunikationsinstrument und nicht durch den Inhalt verursacht werden, fortschreiten kann.“[15]

Welche sprachlichen Verfahren dienen nun der Annäherung an dieses Ideal? Drei fundamentale Elemente lassen sich als absolute, unausgesprochene und unhinterfragbare Verbote nennen: Das Ich-Tabu, das Metapherntabu und das Erzähltabu.[16]

Jeder Text aktualisiert sich nur in einem konkreten Kommunikationsvorgang zwischen menschlichen Partnern, die sich gegenseitig die beiden von Harald Weinrich so genannten Gesprächsrollen Sender und Empfänger zuteilen. Konkrete sprachliche Ausdrücke dieser Rollen sind die grammatischen Personen, nämlich die 1. Person für den Sender und die 2. Person für den Empfänger. Im Gegensatz zu diesen beiden grammatischen Personen bezeichnet die 3. Person die Gesprächsrolle Referent, die als einzige die Kommunikationspartner ausblendet und die in der Wissenschaftssprache eine überwältigende Vorherrschaft gegenüber den beiden anderen Gesprächsrollen innehat. Nach Kretzenbacher stehen etwa 90% aller finiten Verben in der 3. Person. Die 2. Person kommt praktisch überhaupt nicht vor und die 1. Person nur selten, dann aber in den allermeisten Fällen im pluralis modestiae des Autoren- wir.[17]

Weitere Verfahren der Ausblendung der menschlichen Instanz sind die Deagentivierung von Verben, die durch Passiv-, Reflexiv- oder Infinitivfügungen das menschliche Agens ausblenden und die generelle Deverbalisierung, also die Verlagerung von Informationen in den nominalen Bereich.[18] Auch für Bungarten zählen die Phänomene der Deagentivierung oder Entpersönlichung zu den Beispielen, an denen man besonders deutlich die sprachliche Entfremdung aufzeigen kann.[19]

Gleichfalls tabuisiert ist die Metapher in der Wissenschaftssprache.[20] In den modernen Wissenschaften hat Analogie keine Beweiskraft in sich: comparaison n`est pas raison. Die Metaphorik ist durch ihre Bildhaftigkeit und Gefühlsnuancen im wissenschaftlichen Stil verpönt, da diese sich, wie allgemein angenommen wird, mit der notwendigen Exaktheit und Objektivität nicht vereinbaren lassen.

Ein Tabu, das in einigen Wissenschaften in letzter Zeit etwas an Striktheit zu verlieren scheint, aber in den Naturwissenschaften nach wie vor unverändert bleibt, ist das Erzähltabu.[21] Wissenschaftler sollen nicht erzählen. Erzählende Tempora, wie Präteritum und Plusquamperfekt kommen in wissenschaftlichen Texten sehr selten vor. Besprechende Tempora, insbesondere das Präsenz, überwiegen bei weitem.[22]

Während in erzählenden Texten Verben mit großer semantischer Intension eine große Rolle als Handlungsträger spielen, führt die Informationsverlagerung vom verbalen in den nominalen Bereich bei wissenschaftlichen Texten zu einer hohen Frequenz semantisch schwacher Verben wie Hilfs- und Kopulativverben unter den finiten Verbformen.[23]

Das Erzähltabu suggeriert, dass die Fakten in einem Text für sich selbst sprächen, ohne den Autor als vermittelnde (und zwangsläufig subjektive) Instanz.

Kretzenbacher argumentiert also, dass das Ich-Tabu, das Metapherntabu und das Erzähltabu die wichtigsten sprachlichen Strategien darstellen, um die Sprache durchsichtig erscheinen zu lassen. Diese sprachlichen Phänomene würden uns als Hörer oder Leser von wissenschaftlichen Texten realisieren lassen, dass wir es nicht unmittelbar mit Fakten zu tun haben, sondern zunächst mit einem Text. Ob dies in den vorliegenden Einführungen der Fall ist, werde ich in den folgenden Kapiteln besprechen.

Peter von Polenz sieht eine mögliche psychologische Wirkung des entpersönlichten Stils auf den Laien darin, dass im Bewusstsein nicht mehr die Menschen handeln und verantwortlich gemacht werden können, sondern Ereignisse als schicksalhaft und zwangsläufig ablaufend gesehen werden.[24]

Erst in den letzten 20 Jahren hat man festgestellt, dass es kulturbedingte Unterschiede in den Wissenschaftsstilen gibt. Diese Beobachtungen führen zu einem humanisierenden Trend in Diskussionen über akademische Kommunikation und machen Platz für eine natürlichere Sprache und einen menschlicheren Wissenschaftler.

3.3. Deutsche Wissenschaftssprache

Mit der Hinwendung der europäischen Wissenschaften vom Latein zu den Nationalsprachen gewannen die Wissenschaften zunehmend Einfluss auf das alltägliche Leben.[25] Damit ging zwar die Internationalität einer gemeinsamen lateinischen Wissenschaftssprache verloren, gewonnen wurde jedoch eine stärkere Verbreitung wissenschaftlicher Ideen und Erkenntnisse im Bürgertum und eine größere Einflussnahme der Gesellschaft jener Zeit auf die Wissenschaft. Mit dem Gebrauch der Nationalsprache in der Wissenschaft setzte aber auch der Wunsch ein, die Wissenschaftssprache von der Alltagssprache und von anderen Sprachbereichen zu differenzieren.[26]

Nach der Ablösung des Lateins als lingua franca der Wissenschaften, dominierte lange Zeit das Französische als neue Universalsprache. Dies machte es schwer für die deutsche Sprache, sich als akademische Sprache zu behaupten. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der französische Einfluss auf das Deutsche viel stärker als der englische. Doch hatten Gründlichkeit und Präzision einen so hohen Stellenwert in der deutschen Tradition, dass der galante französische Stil nie komplett dominieren konnte.

Als charakteristisch für die deutsche Wissenschaftssprache wird ihre Tendenz zu einer unpersönlichen Darstellung betrachtet. Nach Beneš schließt dies eine individuellspezifische Note, besonders in den Gesellschaftswissenschaften, nicht aus.[27] Die Hauptziele, die die Kommunikation im wissenschaftlichen Bereich verfolgt, sind die Vollständigkeit und Präzision der Aussage; daneben kommen auch das Streben nach Knappheit und der Hang zur Standardisierung zur Geltung.

Fluck nennt als Charakteristika für die deutsche Wissenschaftssprache folgende Merkmale:

Genannt seien die Vorliebe für Nominalisierungen, verbunden mit der Verwendung bedeutungsarmer Verben und bestimmter syntaktischer Strukturwörter, die Bevorzugung infinitivischer und passivischer Konstruktionen zum Ausdruck von Zeitbezügen, Ursachen, Mittel, Bedingungen, Ziel und Folge oder die Verwendung von Attribuierungen zur Komprimierung der Darstellung.[28]

3.4. Englische Wissenschaftssprache

Seit den frühen Tagen der Royal Society (gegründet 1660) hat sich in der englischen Wissenschaftstradition ein tiefes Misstrauen in die natürliche Sprache entwickelt. Zwar wurden im Zeitalter des Barock überall in Europa Versuche unternommenen, die natürliche Sprache in den Wissenschaften zu vermeiden, in der Royal Society allerdings waren solche Versuche sehr häufig. Die Besorgnis mit der die Mitglieder der Royal Society die Undurchsichtigkeit der natürlichen Sprache als Kommunikationsmittel für akademische Zwecke beobachteten, zeigt sich besonders deutlich am folgenden Zitat aus Thomas Sprats History of the Royal Society von 1667, das berühmt geworden ist: Sprat appellierte

[…] alle Erweiterungen, Abschweifungen und den schwülstigen Stil abzulehnen: zur urtümlichen Reinheit und Kürze zurückzukehren, als Menschen so viele Dinge in fast gleich vielen Wörtern äußerten. Sie bezogen von all ihren Mitgliedern eine genaue, schmucklose und natürliche Art zu sprechen; positive Ausdrücke; klare Sinne; eine angeborene Leichtigkeit: sie brachten alle Dinge so nah an die mathematische Einfachheit wie sie konnten: und sie bevorzugten die Sprache von Handwerkern, Landsleuten und Kaufmännern gegenüber der von Weisen oder Gelehrten.[29]

Die Ansätze des Misstrauens in die natürliche Sprache als ein Medium für akademische Kommunikation, die später charakteristisch werden für den englischen Diskurs, sind auch schon in Sprats History of the Royal Society von 1667 vorhanden: Sprache soll so einfach und unaufdringlich wie möglich sein, um den Leser durch die Worte direkt die Dinge sehen zu lassen.[30]

3.5. Französische Wissenschaftssprache

Das wohl bekannteste Beurteilungskriterium für das Französische ist das Kriterium der clarté seit dem 17. Jahrhundert. Gleichzeitig ist es auch eine umstrittene Grundlage des Vergleichs mit anderen Sprachen. Im späten 17. Jahrhundert gilt die clarté als Eigenschaft des Französischen und wird anderen Sprachen mehr oder weniger abgesprochen.

[...]


[1] „Katalog“ ist hier zu verstehen als reine Aufzählung bzw. Auflistung von Sekundärliteratur.

[2] Ojeda, Jorge Arturo: Cartas Alemanas, Mexico City, 1972:111f., (Übersetzung von Eßer). Im mexikanischen Buch „ Cartas Alemanas “ („ Deutsche Briefe “) verarbeitet ein Mexikaner seine Erfahrungen in Deutschland.

[3] Der Ausdruck „ etwas ist mir geheim geblieben am deutschen Referat “ habe ich von Esser übernommen, die diesen wiederum von einer spanischen Studentin übernommen hatte, die sich so in einem Fragebogen bezüglich ihrer Schwierigkeiten beim Verfassen deutscher Referate geäußert hatte. (Eßer 1997:9f.)

[4] Redder, Angelika/Rehbein, Jochen 1987 „Zum Begriff der Kultur“, In: Redder, A./Rehbein, J. (Hgg.) Arbeiten zur interkulturellen Kommunikation. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 38

[5] Eßer, Ruth 1997: „Etwas ist mir geheim geblieben am deutschen Referat“, München, S. 19

[6] Mauranen, Anna: Cultural Differences in Academic Rethoric. A Textlinguistic Study, Frankfurt am Main, 1993

[7] Fløttum, Kjersti; Dahl, Trine; Kinn, Torodd: Academic Voices, Amsterdam 2006, S. 17

[8] Kaplan, Robert B.:”Cultural Thought Patterns in Intercultural Education”, In: Language Learning 16, 1966

[9] Fløttum 2006:18

[10] Bungarten, Theo: Wissenschaftssprache, München, 1981, S. 11

[11] Bungarten 1981:11

[12] Pörksen, Uwe: „Die Reichweite der Bildungssprache und das szientistische Selbstmissverständnis der Sprachwissenschaft“, In: Kalverkämper, Hartwig/Weinrich, Harald: Deutsch als Wissenschaftssprache, Tübingen 1986

[13] Duszak, Anna: Culture and Styles of Academic Discourse, Berlin 1997, S. 1

[14] Kretzenbacher, Heinz L.: „Wie durchsichtig ist die Sprache der Wissenschaften?“, In: Kretzenbacher/Weinrich (Hg.), Linguistik der Wissenschaftssprache, Berlin, 1995

[15] Halmos, P.R.: Wie schreibt man mathematische Texte? Leipzig 1977

[16] Weinrich, Harald: „Formen der Wissenschaftssprache“, Im Jahrbuch 1988 der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S 119-158

[17] Kretzenbacher 1995:26

[18] Kretzenbacher 1995: 28

[19] Bungarten 1986: 33

[20] Kretzenbacher 1995: 29

[21] Kretzenbacher 1995: 30

[22] Kretzenbacher 1995: 31

[23] Kretzenbacher 1995: 31

[24] Polenz, Peter von: „ Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider die Deagentivierung“, In: Bungarten, Theo (Hrsg): Wissenschaftssprache, München, 1981

[25] Bungarten 1981:9

[26] Bungarten 1981:9

[27] Beneš, Eduard: „Die formale Struktur der wissenschaftlichen Fachsprachen in syntaktischer Hinsicht“, In: Bungarten, Theo (Hrsg.): Wissenschaftssprache, München 1981

[28] Fluck, Hans-Rüdiger: Fachsprachen, Tübingen 1985

[29] Sprat, Thomas: History of the Royal Society, Nachdr. d. Ausg. London 1667, Repr. St. Louis: Washington University Press, 1966 (meine Übersetzung)

[30] Kretzenbacher, Heinz: “Looking backward–Looking forward–Still Looking good? On style in Academic Communication”, In: Mayer, Felix (Hsg.): Language for Special Purposes: Perspectives for the New Millennium, Vol. 2, Tübingen 2001

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Details

Titel
Unterschiede in Wissenschaftsstilen
Untertitel
Vergleich von deutsch-, französisch- und englischsprachigen Einführungen in die Sprachwissenschaft
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Romanisches Seminar)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
83
Katalognummer
V89947
ISBN (eBook)
9783638043984
ISBN (Buch)
9783656487401
Dateigröße
2819 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Unterschiede, Wissenschaftsstile, Vergleich, Stilvergleich, Stil, Sprachstil
Arbeit zitieren
Raluca Bibescu (Autor:in), 2007, Unterschiede in Wissenschaftsstilen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89947

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