Das Phänomen der Neologismen im Deutschen

Eine Untersuchung anhand konkreter Beispiele


Magisterarbeit, 2007

81 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Die Wortneubildung im Deutschen
2.1 Terminologie
2.1.1 Der Neologismus
2.1.1.1 Die Entwicklung des Begriffs in der Sprachgeschichte
2.1.1.2 Das heutige Verständnis von Neologismus
2.1.2 Der Okkasionalismus
2.1.3 Problematisierung der Terminologiediskussion
2.2 Die Charakteristik der modernen Wortneubildungen
2.2.1 Wortneubildungen als Teil der lexikalischen Innovation
2.2.1.1 Überblick über die Arten lexikalischer Erneuerung
2.2.1.2 Die Typen der Wortneubildungen
2.2.2 Der Prozess der Wortneuschöpfung
2.2.2.1 Die Motive für die Bildung neuer Wörter
2.2.2.2 Der Lexikalisierungsvorgang
2.3 Das Phänomen der Wortneubildungen im Sprachwandel
2.3.1 Die Neubildungen in der Sprachwandelforschung
2.3.2 Die Kennzeichen der modernen Wortneubildungen
2.3.2.1 Morphologische Tendenzen
2.3.2.2 Semantische Eigenschaften
2.4 Die Wahrnehmung der neuen Wörter in der Öffentlichkeit
2.5 Aktueller Stand der Forschung
2.5.1 Die Entwicklung von Neologismenwörterbüchern
2.5.2 Weitere Forschungsansätze

3. Theoretische Grundlagen: Unauffällige reihenbildende Wortneubildungen
3.1 Das Substantivkompositum
3.1.1 Zur Komposition
3.1.2 Das Substantiv als Bestimmungskonstituente
3.1.3 Sonstige Erstglieder
3.1.4 Reihenbildung
3.2 Wortneubildungen im Text
3.2.1 Die Textfunktionen von Neuwörtern
3.2.2 Wortbildung in journalistischen Texten
3.2.3 Der Neuheitseffekt von Wortneubildungen

4. Praktischer Teil
4.1 Das Korpus
4.2 Die Selektionskriterien für die neu gebildeten Komposita
4.3 Auswertung
4.3.1 Modelladäquate Wortneubildungen
4.3.2 Modelldivergierende Wortneubildungen
4.3.2.1 Typ 1: Semantische Divergenz
4.3.2.2 Typ 2: Strukturelle Divergenz
4.3.2.3 Typ 3: Kombinatorische Divergenz
4.3.3 Weitere Merkmale der unauffälligen Bildungen
4.3.3.1 Strukturelle Besonderheiten
4.3.3.2 Thematische Verteilung
4.4 Entwicklungstendenzen der reihenbildenden Neukomposita

5. Fazit

6. Anhang: Quellenverzeichnis der Wortneubildungen

7. Literaturverzeichnis
7.1 Nachschlagewerke
7.2 Literatur
7.3 Korpus
7.4 Internet

1. Einführung

Jeden Tag treffen wir auf eine große Menge an neuen Wörtern. Während auf der Fanmeile noch fröhlich gefeiert wird, ärgern sich an anderer Stelle die Menschen über die Praxisgebühr. Im Internet wird gegruschelt und aus unserer Währung ist inzwischen ein Steuro geworden. Über diese Neuerungen wird häufig geklagt, denn so mancher sieht darin eine Verunglimpfung der Sprache. Das mag aus sprachpflegerischer Sicht sicher nicht falsch sein, doch sind die Neubildungen ein dringendes Bedürfnis der multi-medialen Kommunikationsgesellschaft. Gerade in der Gegenwart verläuft die Entwicklung der Menschheit immer rasanter, sodass eine ständige Benennungslücke für neue Gegenstände oder Sachverhalte besteht. Diese muss durch neue Wörter gefüllt werden, da sonst die Gefahr der Stagnation besteht.

Jedes neue Wort ist das Ergebnis eines Bildungsprozesses. Aus dem System der vorhandenen sprachlichen Mittel entstehen neue sprachliche Äußerungen. Das Arsenal der existierenden Zeichen ist eine endliche Größe, aber wegen der Produktivität der Sprache niemals statisch sondern immer in Bewegung. Das Resultat dieser Neukombination des bestehenden Materials sind die Wortneubildungen, die sich als Produkt eines Sprechers an einen Rezipienten wenden. Dabei sind sie nur verständlich, wenn sie sich an den bekannten Regeln der Spracherzeugung orientieren.

In der älteren Linguistik waren diese neuen Wörter nur am Rande interessant. Der Fokus der Forschung wurde mehr auf die Analyse der bereits lexikalisierten Wörter und auf eine genaue Beschreibung deren semantischer und morphologischer Eigenschaften gelegt. Erst die neueren linguistischen Arbeiten konzentrieren sich nicht mehr ausschließlich auf die fertigen Lexeme sondern auch verstärkt auf den Schöpfungsprozess der neuen Wortbildungen.

Die vorgelegten Ansätze einer Forschung über Wortneubildungen beschäftigen sich dabei vor allem mit der Frage, aus welchem Morphembestand die meisten Neuwörter entstehen und wie diese in das Sprachsystem integriert werden. Dabei gehen die meisten Untersuchungen von einem Prozess aus, bei dem sich aus den anfänglich spontan gebildeten neuen Spracheinheiten feste Wortschatzeinheiten entwickeln können. Da eine genaue Überprüfung dieses Vorgangs schwierig ist, orientieren sich beinahe alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen an den Neologismen, also den Wörtern, die schon in einem gewissen Grade usuell geworden sind. Die wenigen Arbeiten, die die Wörter kurz nach ihrer Bildung erforschen, verwenden überwiegend Beispiele aus Sprachvarietäten, wie der Jugend- oder Literatursprache. Diese Untersuchungen sind jedoch sehr speziell auf den jeweiligen Fachwortschatz ausgerichtet.

Eine neue Forschungsrichtung wurde erst kürzlich in die Linguistik eingebracht und zwar die Idee, die Neubildungen daraufhin zu testen, ob sie durch die Rezipienten überhaupt als „neu“ wahrgenommen werden. Das Ergebnis überraschte insofern, als dass es neue Wörter gab, die nicht bemerkt wurden, während andere als sehr auffällig gekennzeichnet wurden. Dieses Resultat ist deshalb so bemerkenswert, weil bis jetzt von einem gleichen Empfinden allen neuen Wörtern gegenüber ausgegangen wurde.

Basierend auf der Unterscheidung zwischen „auffälligen“ und „unauffälligen“ Wortneubildungen, erscheint es sehr interessant, die „unauffälligen“ Wörter genau zu analysieren. Dabei soll die Frage im Vordergrund stehen, an welchem Wortbildungsmodell sie sich orientieren und welche Varianten es innerhalb dieser speziellen Neuschöpfungen gibt. Dies wird auf der Materialbasis von Zeitschriften geklärt, da diese einen großen Bereich des Allgemeinwortschatzes abdecken und ein breites Publikum ansprechen.

Diese neu gebildeten „unauffälligen“ Wörter sind die Basis dieser Arbeit und werden am Beispiel der Substantivkomposita untersucht.

Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst ausführlich alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Neubildung von Wörtern in der Gegenwart vorgestellt.

Der darauf folgende Abschnitt bietet einen Überblick über die wortbildungstheoretischen Grundlagen dieser Untersuchung und skizziert die besonderen Merkmale der „unauffälligen“ Wortneubildungen.

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit einer detaillierten Korpusanalyse und überprüft dabei die neuen Wörter sowohl in struktureller als auch in semantischer Hinsicht.

2. Die Wortneubildung im Deutschen

Die deutsche Sprache hat während des letzten Jahrhunderts vor allem im Bereich der Lexik starke Veränderungen erfahren. Der Wortschatz befindet sich bis heute in einem dynamischen Prozess durch den Wegfall veralteter Lexeme und durch die Erweiterung mit neuen Wörtern. Umso erstaunlicher ist es, dass das Thema „Wortneubildungen im Deutschen“ innerhalb der germanistischen Linguistik bis in die jüngere Vergangenheit hinein weitestgehend unberücksichtigt blieb. Denn gerade durch die politisch-historischen Ereignisse wie z.B. die NS-Zeit, die deutsche Zweistaatlichkeit und die erfolgte Wiedervereinigung ergaben sich für den deutschen Wortschatz immer wieder umfassende Verschiebungen. Auch die neuen Medien tragen zu dieser Entwicklung einen erheblichen Teil bei.

Erste Ansätze einer Erforschung der neuen Wörter wurden durch (Spezial-) Wörterbücher in der DDR gemacht, die aus linguistischer Sicht noch eher fragwürdig erscheinen, da sie noch keine lexikographisch fundierte Basis aufweisen. Erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts rückten die neu gebildeten Wörter immer mehr in den Fokus der deutschen Linguisten. So wurden zahlreiche kleinere Beiträge vorgelegt und das „Institut für Deutsche Sprache“ in Mannheim initiierte ein umfangreiches Neologismenprojekt[1]. Dennoch fehlt bis heute eine übersichtliche Darstellung der Thematik. Stattdessen wurden umfangreichere Arbeiten zu „Neologismen“ erstellt, die vorwiegend Spezialbereiche wie z.B. die Werbesprache[2] behandeln.

Basierend auf diesen bereits vorliegenden Untersuchungen soll im ersten Teil dieser Arbeit ein Gesamtüberblick über das Phänomen der Wortneubildungen im Deutschen gegeben werden. Dabei werden die für die Neubildungen zentralen Bereiche Wortbildung, Sprachwandel und Wahrnehmung in der Öffentlichkeit bzw. in der linguistischen Fachwelt eine wichtige Rolle spielen.

2.1 Terminologie

Bei einer intensiven Betrachtung der vorliegenden Fachliteratur zu „Wortneubildungen“ wird ein zentrales Problem innerhalb der Terminologie erkennbar: Dieses betrifft die Unsicherheit im Umgang mit den zwei Begriffen Neologismus und Okkasionalismus. Jeder Autor versucht diese Unterscheidung auf seine Weise zu lösen, was aber dazu geführt hat, dass bis zum heutigen Zeitpunkt kein Konsens über eine eindeutige Verwendung dieser Begriffe gefunden werden konnte. So erscheint es unabdingbar, auf dieses Thema im Folgenden genauer einzugehen. Dazu sollen zunächst die beiden Termini genau vorgestellt werden, um schließlich als Begrifflichkeit für diese Arbeit definiert zu werden.

2.1.1 Der Neologismus

2.1.1.1 Die Entwicklung des Begriffs in der Sprachgeschichte

Das Wort Neologismus wurde in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Französischen ins Deutsche entlehnt. In Frankreich ist néologisme erstmals um 1734 belegt und war in der Bedeutung ‚Wortneuschöpfung’ zu finden. Es handelt sich um eine neoklassische Lehnwortbildung, bestehend aus den Teilen [ néos ] = ‚neu’ und [ lógos ] = ‚Wort/Lehre’. Wenn dieser Begriff auch damals in Frankreich bereits in einem linguistisch-lexikographischen Wortfeld verankert war, so herrschte doch eine bis heute andauernde Ablehnung gegenüber jeglicher sprachlicher Innovation und den damit verbundenen fremdsprachlichen Einflüssen.

In Deutschland wird der Begriff Neologismus erstmals 1754 bei Christoph Otto Freiherr von Schönaichs „Die ganze Aesthetik in einer Nuss oder Neologisches Wörterbuch“ verwendet. Dieses Werk ist noch eine eher ironisch-kritische Betrachtung der verschiedenen Wortneuschöpfungen und behandelt vor allem Okkasionalismen. Jenes Buch bleibt für lange Zeit der erste Ansatz, Neologismen lexikographisch zu erfassen.

Die Wortgruppe um den Neologismus ist erstmals 1804 bei Heyse bzw. 1816 bei Oertel in Fremdwörterbüchern erwähnt. Die Bedeutungen unterscheiden sich stark von der heutigen. Der Bezug zur Sprache fehlt vollkommen bzw. die Sprache erscheint nur als untergeordnete Konnotation. So wurde z.B. bei Oertel Neologismus noch mit ‚Neuerungssucht’ bzw. ‚Neu- oder Irrgläubigkeit’ gleichgesetzt.[3] Daran ist zu sehen, dass der Begriff des Neologismus im Gegensatz zum Französischen sich nicht nur auf einen sprachlichen Bezug beschränkte, sondern auch andere Bereiche wie z.B. die Religion integriert wurden.

Erst in den frühen Konversationslexika wurde der Begriff an die Sprache gebunden. Einen direkten sprachlichen Bezug stellte erstmals Sanders 1863 her, der folgende Definition gab: „Neuerung, namentlich auf sprachlichem Gebiet“[4]. Damit begann der semantische Wandel von einem ursprünglich negativ konnotierten Wort zu einer wertneutralen Bezeichnung.

Als direkter Fachterminus ist der Neologismus zum ersten Mal 1978 in einem allgemeinen Wörterbuch beschrieben worden und dennoch gibt es bis heute keine einheitlich systematische Definition. Folgende Beispiele aus Allgemein- und Fachwörterbüchern mögen dies verdeutlichen:

- Neologismus:
1. Neuerungssucht, besonders auf religiösem Gebiet
2. Sprachliche Neubildung

(Duden: Das Fremdwörterbuch)[5]

- Neologismus:
(verkrampfte) Wortneubildung
(Mackensen: Deutsches Wörterbuch)[6]

- Neologismus:
(sprachwidrige) Wortneubildung
(Wahrig: Fremdwörter-Lexikon)[7]

- Neologismus:
neu eingeführter oder neuartig gebrauchter sprachlicher Ausdruck
(Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft)[8]

- Neologismus:
jedes zu einer bestimmten Zeit neu gebildete Wort

(Conrad: Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini)[9]

Aus diesen Beispielen wird sichtbar, dass die negative Konnotation von Neologismus noch nicht komplett aus den Wörterbüchern verschwunden ist, auch wenn sie nur noch selten zu finden ist. Zudem werden in die Definitionen verschiedene Aspekte mit einbezogen, seien es der zeitliche im letzten Beispiel oder die bereits weiterführende Differenzierung in Unterarten (neues Wort oder nur neue Bedeutung) bei Bußmann. Es erscheint verständlich, dass diese unterschiedlichen Begriffsbestimmungen zu keiner klaren Linie innerhalb der Forschung geführt haben und bis ins 21. Jahrhundert diskutiert werden.

2.1.1.2 Das heutige Verständnis von Neologismus

Das Problem der uneinheitlichen Bestimmung und Abgrenzung der Neologismen als ‚Wortneubildungen’ hat Auswirkungen auf jeden linguistischen Forschungsansatz, der sich mit neuen Wörtern beschäftigen will. Schließlich ist es wichtig, dass man von den gleichen Grundvoraussetzungen über Neologismen ausgeht, um die Ergebnisse miteinander vergleichen zu können.

Eine der umfangreichsten und genauesten Definitionen der heutigen Zeit wurde von Michael Kinne gegeben, der im Rahmen des IDS-Neologismenprojekts alle Definitionsideen folgendermaßen zusammengefasst hat:

Ein Neologismus ist eine ganz neue lexikalische Einheit [...] bzw. Bedeutung [...],

- die zunächst noch in keinem Wörterbuch steht;
- die in einem bestimmten Abschnitt der Sprachentwicklung in einer Kommunikationsgemeinschaft vor allem [...] aufgrund kommunikativer Bedürfnisse aufkommt und sich verbreitet,
- die in den allgemeinsprachlichen Wortschatz der Standardsprache übernommen (Usualisierung),
- als sprachliche Norm allgemein akzeptiert (Akzeptierung),
- sodann lexikographisch gespeichert (Lexikalisierung)
- und die – innerhalb dieses genannten Entwicklungsprozesses – von der Mehrheit der Sprachbenutzer über eine gewisse Zeit hin als neu empfunden wird.[10]

Berücksichtigt werden muss bei dieser Definition, dass es sich um einen relativen und historisch gebundenen Terminus handelt, bei dem die Bezugnahme auf den Zeitpunkt und die Durchsetzung der Wortschöpfung im Vordergrund stehen. Dennoch erfolgt durch Kinne die Vereinigung verschiedener Definitionsansätze.

Bei Neologismen handelt es sich somit nicht um eine statische Erscheinung, sondern sie durchlaufen einen Prozess der Fort- und Weiterentwicklung, der bis zur endgültigen Eingliederung in den Wortschatz als Lexem gehen kann.

Diese Beschreibung von Neologismus gibt das Hauptkriterium der heutigen Sichtweise wieder. Die Usualisierung und Akzeptierung sind dabei die bestimmenden Momente, was jedoch zu Schwierigkeiten bei der praktischen Erforschung von neuen Wörtern führen kann. Aber gerade diese zwei Komponenten werden immer wieder zur Trennung von Neologismus und Okkasionalismus verwendet. Darum soll die Spezifik der Okkasionalismen im Folgenden genauer erklärt werden.

2.1.2 Der Okkasionalismus

Die Bezeichnung Okkasionalismus wird als das Gegenstück zu Neologismus angeführt. Sie wird jedoch in der Fachliteratur noch unklarer verwendet, sodass viele Begriffe nebeneinander existieren. Während man im Englischen nur nonce formation bzw. nonce word findet[11], werden im Deutschen auch Ad hoc-Bildung, Augenblicksbildung, Einmalbildung oder Gelegenheitsbildung als Synonyme verzeichnet. Diese konkurrierenden Termini führen oftmals zu Verwirrungen, zumal sogar die verschiedenen Lexika unterschiedliche Bezeichnungen benutzen.

Einige der Begriffe scheinen dabei jedoch zu eng gefasst zu sein, denn Augenblicksbildung und Einmalbildung reduzieren eine Wortneuschöpfung auf eine einmalige, meist textgebundene, Verwendung. Das muss aber nicht immer der Fall sein, denn die neuen Bildungen können durchaus mehrmals auftreten, ohne dass sie sich im allgemeinen Wortgebrauch etablieren. Zu bevorzugen sind deshalb Okkasionalismus oder Ad hoc-Bildung.

Die Definitionen von okkasionellen Bildungen sind dabei ähnlich gestaltet, indem sie diese Art der Wortneubildungen durch ihre geringe Häufigkeit beschreiben. Exemplarisch soll die Definition von Bußmann vorgestellt werden, da sie alle wichtigen Aspekte von Ad hoc-Bildungen beinhaltet:

Spontane, meist stark kontextgebundene Wortneubildungen zur Bezeichnung von neuen oder bisher nicht benannten Sachverhalten. [...] Sie entstehen durch kreative Anwendung von Wortbildungsregeln auf Einheiten des Lexikons. [...] In der Regel entscheidet die statistische Häufigkeit der Wiederverwendung solcher Bildungen über ihren gleitenden Übergang zum Neologismus bzw. zum kodifizierten Eintrag im Lexikon.[12]

Okkasionalismen können somit vor allem durch ihre geringere Verwendehäufigkeit von den Neologismen abgegrenzt werden. Sie werden in einer bestimmten Sprech- bzw. Textsituation gebildet und nachdem sie angewandt und verstanden wurden, meist wieder aus dem aktiven Wortschatz gestrichen. Eine Usualisierung ist jedoch durch wiederholtes Benutzen möglich, sodass diese Art der Neubildung durchaus lexikalisiert werden kann.

Wolfgang Fleischer weist zudem daraufhin hin, dass „okkasionelle Bildungen durch ihre Prägung und textgebundene Verwendung noch keine Einheiten des Lexikons sind und nicht als fertige Bildungen dem Wortschatz entnommen, „reproduziert“, werden, sondern wie syntaktische Wortgruppen und Sätze im Text nach den entsprechenden Wortbildungsregeln „produziert“.“[13] Damit sind die neu entstandenen Wörter strukturell korrekt gebildet und in ihren Konstituenten so motiviert, dass sich der Rezipient aus dem Verhältnis der Bestandteile bzw. aus dem Textzusammenhang die Bedeutung erschließen kann.

Ausgehend von dieser Art der Definition von okkasionellen Bildungen wird deutlich, dass jeder Neologismus am Anfang ein Okkasionalismus war, der sich dann aber in der Sprechergemeinschaft durchgesetzt hat. Abschließend zu dieser Terminologiediskussion sollen nun die beiden Begriffe noch einmal gegenüber gestellt und eine Bestimmung für diese Arbeit gefunden werden.

2.1.3 Problematisierung der Terminologiediskussion

Während die beiden Begriffe Neologismus und Okkasionalismus bis jetzt eher getrennt von einander in ihrer terminologischen Entwicklung und heutigen Bedeutung betrachtet wurden, sollen sie nun in ihrem System zusammen gebracht werden.

Neologismen dienen laut den Definitionen aus 2.1.1.2 dazu, das Benennungsbedürfnis in einer Sprechergemeinschaft zu befriedigen. Dabei treten sie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Sprachentwicklung auf, werden ausgebreitet und schließlich als Bestandteile des Wortschatzes akzeptiert. Während dieses Prozesses erscheinen sie den Mitgliedern der Kommunikationsgemeinschaft als neu. Okkasionalismen unterscheiden sich von ihnen durch ihre (noch nicht) erfolgte Usualisierung, Lexikalisierung und damit Akzeptanz im jeweiligen Sprachsystem. Das bedeutet, dass die Differenzierung zwischen Neologismus und Okkasionalismus nur durch eine Betrachtung des jeweiligen Bekanntheitsgrads erfolgen kann.

Eine klare Abgrenzung ist jedoch in vielen Fällen sehr problematisch und auch schwierig durchzuführen, da der Faktor ‚schon usuell’ nur bedingt überprüfbar ist und nur durch eine über mehrere Jahre laufende Studie belegt werden kann. Es ergibt sich meist ein breiter Übergangsbereich von Okkasionalismen auf der einen Seite hin zu festen, lexikalisierten Wortschatzeinheiten auf der anderen Seite.

Wird dieses Problem auf die in dieser Arbeit untersuchten Neubildungen bezogen, erscheint es als irrelevant, ob die analysierten Wörter nur dieses eine Mal textgebunden auftreten (= Okkasionalismus) oder durch häufigere Verwendung usuell werden (= Neologismus), denn es interessiert nur die Beschaffenheit der neu gebildeten Einheiten des Korpus und nicht deren weitere Entwicklung. Aus diesem Grund wird in der weiteren Arbeit nur von (Wort)Neubildungen im allgemeinen Sinn gesprochen und keinerlei Unterscheidung zwischen Okkasionalismus und Neologismus gemacht werden.

2.2 Die Charakteristik der modernen Wortneubildungen

2.2.1 Wortneubildungen als Teil der lexikalischen Innovation

2.2.1.1 Überblick über die Arten lexikalischer Erneuerung

Jede Sprache ist ein dynamisches Gebilde aus sprachlichen Zeichen, das sich den individuellen Anforderungen der jeweiligen Zeit anpassen kann. Gerade die moderne Gesellschaft fordert mit ihren schnell fortschreitenden Entwicklungen und immer neuen Erfindungen besonders in den Bereichen Technik, Medien und Wirtschaft eine hohe Flexibilität der Sprachzeichen. So müssen Benennungslücken geschlossen oder individuelle Sprecherbedürfnisse erfüllt werden, um weiterhin die hohen Anforderungen der heutigen Kommunikationsgesellschaft zu erfüllen.

Anpassungen innerhalb der Sprache sind dabei vor allem im Bereich der Lexik notwendig. Dies geschieht auf verschiedene Weise. Zum einen können bereits vorhandene Lexeme mit neuen Bedeutungen versehen werden, zum anderen neue Morphemverbindungen entstehen, die zum sprachlichen Zeichen werden.

Es gibt dabei zwei Möglichkeiten, neue Wörter zu kreieren, nämlich die Wortschöpfung und die Wortbildung. Die beiden sind jedoch klar voneinander zu trennen. Nach Fleischer „besteht Wortschöpfung darin, dass Wörter aus Lautkomplexen „geschaffen“ werden, die in der Sprache (noch) nicht als bedeutungstragende Elemente (Zeichen) vorhanden sind; es entstehen also neue Wortwurzeln“[14]. Diese Phase der Zuordnung neuer Lautformen zu bestimmten Inhalten und deren Usualisierung in der Sprechergemeinschaft ist jedoch in den meisten modernen Kultursprachen längst beendet. Neue Wörter werden nicht mehr durch die völlige Neuschöpfung erzeugt, sondern vor allem durch die Wortbildung, die sich folgendermaßen definieren lässt:

Wortbildung ist die Produktion von Wörtern (Wortstämmen) auf der Grundlage und mit Hilfe vorhandenen Sprachmaterials, wobei auch besondere – frei bewegliche im Satz nicht vorkommende – Bildungselemente verwendet werden.[15]

Damit kann die Wortbildung als ein Verfahren gesehen werden, das auf der Basis bereits bekannter Morpheme bzw. Lexeme neue Wortkonstruktionen hervorbringt. Dabei folgt die Wortbildung den bestimmten Regeln und Modellen gleichstrukturierter Lexeme, um das Verständnis des Rezipienten und damit eine schnelle Akzeptanz und Usualisierung zu erleichtern. Der Wortbildung kommt eine wichtige Aufgabe bei der Schaffung neuer Benennungseinheiten zu. Durch sie entstehen ‚Wortneubildungen’, die den Lexembestand jeder Sprache ausbauen und verändern können. Somit ist sie die wichtigste und am häufigsten angewandte Methode der Kreation neuer sprachlicher Einheiten. Bei der Betrachtung des Gesamtprozesses der lexikalischen Innovation müssen jedoch noch zwei weitere Arten der Wortschatzerweiterung betrachtet werden, nämlich die Entlehnung und die Phraseologiebildung.

Die Entlehnung kann dabei auf zweierlei Weise vor sich gehen. So können einerseits komplexe „fertige“ Lexeme aus der Fremdsprache übernommen werden oder andererseits neue Wörter mit Hilfe der Fremdelemente auf der Basis der heimischen Wortbildungsregeln entstehen.[16] Im Deutschen überwiegen dabei die Entlehnungen aus dem Lateinischen und Griechischen. Immer dominanter werden zudem die Anglizismen, die aus der Alltagssprache nicht mehr wegzudenken sind.

Unter Phraseologiebildung versteht man „die Bildung bzw. Entstehung von Wortgruppenlexemen“[17]. Dies bedeutet, eine feste Wortverbindung bekommt neben der wörtlichen noch eine übertragene Bedeutung zugewiesen, die dann innerhalb der Sprechergemeinschaft als eine lexikalisierte Redewendung benützt wird.[18]

Vergleicht man diese drei Arten der Wortschatzerweiterung miteinander, ist deutlich zu erkennen, dass die Wort(neu)bildung das am meisten genutzte Verfahren im Deutschen ist.[19] Die neu gebildeten Wörter sind an die bekannten Wortbildungsstrukturen sowohl inhaltlich als auch formal angeschlossen, sodass sie meist leicht verständlich sind. Die Sprecher können sich somit an ihrem Hintergrundwissen orientieren, ohne sich komplett neue sprachliche Zeichen erschließen zu müssen. Die Entlehnungen fordern hingegen eine gewisse bilinguale Kompetenz des Sprechers bzw. Rezipienten, da die fremdsprachlichen Elemente erst verstanden werden müssen. Hinzu kommt, dass entlehnte Neuwörter als neue sprachliche Zeichen erst verstanden und gelernt werden müssen. Dennoch sind Entlehnungen noch häufiger im Bereich der Wortneubildungen zu finden als Phraseologismen. Eine Ursache dafür ist die Tatsache, dass phraseologische Bildungen als Wortgruppen auftreten und diese nicht so eingängig sind wie einzelne Lexeme. Zudem werden sie innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft meist nicht als ‚neu’ erkannt, da sie erst durch einen längeren Prozess idiomatisiert und verfestigt werden.

Die Gemeinsamkeit dieser drei vorgestellten Möglichkeiten ist darin zu suchen, dass sie alle, sei es durch die Bildung oder durch die Entlehnung neuer Wörter, neue Zeichen in das Sprachsystem einführen und somit den Bedarf an neuen Nominationseinheiten befriedigen. Dennoch ist der Beitrag der Wort(neu)bildung dabei am Wichtigsten, denn sie erleichtert zum einen die zahlreiche Produktion und das Verständnis der Neubildungen durch die Orientierung an den gegebenen Strukturen und bedingt zum anderen die Entstehung neuer Wortbildungsmodelle und -konstruktionen durch die Konkurrenz mit den herkömmlichen. Damit kann sich die Sprache an die Anforderungen der modernen Welt anpassen und sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Benennungswünsche erfüllen.

2.2.1.2 Die Typen der Wortneubildungen

Nach den vorausgegangen Betrachtungen zu den Möglichkeiten der lexikalischen Innovation erscheint es wichtig, diese unter dem Begriff der ‚Wortneubildung’ zusammenzuführen und eine Kategorisierung in seine beiden Haupterscheinungsformen zu versuchen.

Als Grundvoraussetzung zählt die Tatsache, dass Wortneubildungen als lexikalische Einheiten sowohl eine Inhalts- als auch eine Ausdrucksseite haben. Eine Unterscheidung zwischen den neu gebildeten Wortkonstrukten und den usuellen Lexemen lässt sich deshalb insofern machen, als dass entweder die Form und die Bedeutung oder nur die Bedeutung der Neubildungen den meisten Menschen einer Sprechergemeinschaft neu erscheinen. Daraus ergeben sich grundsätzlich zwei verschiedene Arten von Wortneubildungen: das Neulexem und die Neubedeutung.

a) Neulexem

= „neue lexikalische Einheit (Einwortlexem, Wortgruppenlexem, Phraseologismus, Kurzwort [...]), bei der Form und Bedeutung neu sind“[20]

Das Neulexem wird verwendet, wenn neue Sachverhalte erstmals zu benennen sind oder neue Wörter für bereits existierende Dinge gesucht werden. Einige Beispiele sind Bahncard, Klima-Agentur, Online-Portal.

Je nach Bildungsart erhält man folgende zwei Untergruppen:

1. Neuschöpfung: ohne analoge Bildungsmuster, sehr selten
2. Neuprägung oder Neubil dung: nach indigenen oder entlehnten Wortbildungsmustern; [...] in der Regel Komposita und Derivate; sofern es sich um Entlehnungen aus anderen Sprachen handelt, kann auch von Neuentlehnung gesprochen werden.[21]

In der Fachliteratur wird zum Teil auch vom Neuwort gesprochen, was jedoch als kritisch zu sehen ist, denn der Terminus Lexem umfasst auch Wortgruppen und Phraseologien, während das Neuwort sich deutlich auf ein einzelnes Wort bezieht.

b) Neubedeutung oder Neusemem

= „neue Bedeutung, die einer bereits vorhandenen mono- oder polysemen lexikalischen Einheit hinzugefügt wird (Bedeutungserweiterung)“[22]

Bsp.: abfackeln, Optik, Schüssel

Neubedeutungen entstehen meistens durch semantische Veränderungen eines etablierten Lexems. Dies geschieht in Form der Bedeutungserweiterung, wobei die neuen Bedeutungen beispielsweise in einem gleichwertigen oder dominanten Verhältnis gegenüber der tradierten Semantik erscheinen. Häufig ergibt sich durch das Neusemem ein grammatischer Wandel. Auch fremdsprachliche Einflüsse können zu neuen Bedeutungen führen, wodurch die Untergruppe der Bedeutungsentlehnung gebildet werden kann. Neusememe sind in ihrer Entwicklung langsamer als Neulexeme, denn eine neue Bedeutung in einer Sprache zu etablieren ist ein langer Prozess. Neubedeutungen treten im Deutschen im Vergleich zu den Neulexemen eher selten auf[23], was sicher an ihrem Entstehungsprozess und ihrer schwierigen Erkennbarkeit liegt.

2.2.2 Der Prozess der Wortneuschöpfung

Die Wortneubildungen haben in allen ihren unterschiedlichen Formen einen wesentlichen Anteil an der sprachlichen Erneuerung und Veränderung des Deutschen. Es steht außer Frage, dass sie innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft ständig präsent sind, indem sie produziert oder bewusst bzw. unbewusst rezipiert werden. Interessant ist nun die Frage, aus welchen Gründen sie entstehen und wie sie in das Zeichensystem Sprache integriert werden.

2.2.2.1 Die Motive für die Bildung neuer Wörter

Der Ausgangspunkt für jede Wortneubildung ist laut Kinne immer „ein individuell-subjektiver (Schöpfungs-/Prägungs-)Akt“[24], der sich an den spezifischen Äußerungsbedürfnissen des Sprechers orientiert. Es wird somit ein neues Wort gebildet, sei es in schriftlicher (in Texten) oder mündlicher Form. Diese neuen Wortkonstruktionen werden zunächst zwar nach den Wortbildungsregeln produziert, sind aber dennoch in diesem Moment häufig nur individuell verständlich, da sie entweder text- oder autorenbezogen sind bzw. nur innerhalb einer Gruppe oder Situation verstanden werden.

Die Motive für die Kreation neuer Wörter bzw. Morphemkonstruktionen sind vielfältig. Das wichtigste ist durch den raschen Wandel der modernen Gesellschaft bedingt. Durch eine rasant fortschreitende Entwicklung in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Medien, Technik etc. entstehen beständig neue Gegenstände, Sachverhalte oder Einrichtungen, die benannt werden müssen. Somit ist es oft zwingend erforderlich neue Wörter als Nominationseinheiten zu bilden. Das Spektrum reicht dabei von neuen Tätigkeiten (simsen) über neu entwickelte Gegenstände (Tauchroboter) hin zu wissenschaftlichen Entdeckungen (Ozonloch). Neben diesem objektiven Grund für die Verwendung neuer Wortkonstruktionen gibt es eine Vielzahl an subjektiven Motiven.

So besteht beim Wortproduzenten häufig der Wunsch nach einer Variation bzw. Spezifizierung der Benennung bereits vorhandener lexikalisierter Sachverhalte. Er möchte damit seiner Äußerung eine spezielle Richtung geben, um sich besser mitteilen zu können. Verbunden ist dieses Motiv oft mit einem pejorativen oder meliorativen Veränderungswunsch. Der Sprecher verspürt das Bedürfnis nach der Korrektur eines von ihm als zu negativ oder zu positiv gesehenen Begriffs. Beispiele sind die Bezeichnung Raumpflegerin für Putzfrau oder negative Bildungen mit pseudo - oder Schein - (Scheinehe).

Weitere Motive können das Bedürfnis nach sprachlicher Individualität bzw. Anpassung (z.B. in der Jugendsprache) oder die Sprachökonomie sein. Durch die neu gebildeten Wörter besteht die Möglichkeit, Informationen verdichtet darzustellen, die sonst in einem aufwendigen Satz erklärt werden müssten.

Diese Tendenz für neue Morphemkonstruktionen ist in Texten besonders auffällig, was einen weiteren Grund für die Schaffung neuer Wörter darstellt, nämlich die Steuerung der Aufmerksamkeit des Lesers. Die Wortneubildungen können dabei anaphorisch oder kataphorisch auftreten und somit den Rezipienten veranlassen, sich bereits bekannte Informationen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen oder aufmerksam auf den Textverlauf zu achten. Die Sprachproduzenten benutzen neue Wörter also dafür, einen Text zu verbinden, wichtige Inhalte komprimiert darzustellen und sich durch gezielte Neuschöpfungen auszudrücken.[25]

2.2.2.2 Der Lexikalisierungsvorgang

Bei einer aufmerksamen Analyse, sowohl der gesprochenen als auch der geschriebenen Sprache, kann man feststellen, dass diese voller Wortneubildungen ist. Dennoch werden viele davon nicht als „neu“ erkannt, denn sie entsprechen den Wortbildungsnormen oder wurden als Analogbildungen kreiert. Durch diese Systemkonformität sind sie leicht dekodierbar und somit für den Leser bzw. Zuhörer nicht als ‚neu’ zu bewerten. Werden dahingegen Neubildungen gezielt auf die Rezipienten abgestimmt und konstruiert um Aufmerksamkeit zu erregen, sind sie meistens Neubildungen expressiven Charakters. Die Auffälligkeit[26] kann bedingt sein durch graphische, morphologische oder lexikalisch-semantische Faktoren.[27] Die Gemeinsamkeit dieser ‚auffälligen’ und ‚unauffälligen’ Bildungen liegt jedoch darin, dass die wenigsten von ihnen in den festen Wortschatz des Sprachsystems übernommen werden.

Der Weg zur Integration in den allgemeinen Gebrauch und zu einem relativ konstanten Wissen aller Sprachteilnehmer um diese neue Bezeichnung ist von vielen verschiedenen Entwicklungen und Bedingungen geprägt. Diese Durchsetzungs- und Aneignungsprozesse neuer lexikalischer Einheiten können dabei unterschiedlich lang dauern und viele festigen sich nicht dauerhaft im Wortschatz einer Sprache.

Die Usualisierung und Speicherung neuer Morphemverbindungen wird auf der einen Seite von den außersprachlichen Faktoren, wie zum Beispiel der Kultur, den Zeitbedingungen und dem gesellschaftlichen Wandel beeinflusst. Auf der anderen Seite spielt die kommunikative Notwendigkeit für diesen Begriff eine große Rolle. Das bedeutet, das Neuwort wird sich nur durchsetzen, wenn es zur Verständigung innerhalb der Sprechergemeinschaft gebraucht wird. Dies ist vor allem bei Bezeichnungen für neue Sachverhalte der Fall. Schließlich wird die Bereitschaft der Kommunikationsteilnehmer zur sprachlichen Variabilität den Usualisierungsprozess steuern. Nur wenn die Sprecher ihren Lexembestand verändern und sich damit an neue Sprachtrends anpassen wollen, besteht die Möglichkeit einer Speicherung der Neubildungen.

Neben diesen Faktoren ist zudem die Akzeptanz, die den neuen Bildungen entgegen gebracht wird, sehr entscheidend. Die Wahrscheinlichkeit als neues Wort aufgenommen zu werden ist sehr hoch, wenn folgenden Bedingungen erfüllt sind:

- der Bekanntheitsgrad der neuen Wortbildung und damit auch des Denotats
- das Verhältnis zu konkurrierenden Begriffen:

® Es existieren oft mehrere Bezeichnungen für denselben neuen Sachverhalt. Erst im Laufe der Zeit setzt sich dann meistens eine Neubildung durch, die dann standardisiert und damit usuell wird.

- die Gebräuchlichkeit der einzelnen Konstituenten
- die Modellgerechtigkeit der einzelnen Glieder:

® Semantische und strukturelle Besonderheiten wirken oft hemmend bzw. begünstigend.

- „Aktualität“ der jeweiligen Wortbildungstypen:

® Stark frequente Bildungen werden schneller usuell, da sie den Sprechern „vertraut“ erscheinen.

Basierend auf diesen Voraussetzungen lässt sich feststellen, dass die Neigung zur Demotivation und Speicherung besonders bei folgenden Wortschöpfungen gering ist:

- Wortbildungskonstruktionen aus mehr als drei Grundmorphemen, z.B. Straßengüterfernverkehr, Zuckerrübenlagerplatz,
- Bildungen mit Durchkopplungsbindestrich, wie historisch-kulturell-technisch bedingt,
- Neubildungen mit Eigennamenbestandteilen, z.B. Kohl-Memoiren, Clinton-Rede[28]

Fasst man diese Ergebnisse zusammen, ergibt sich ein langwieriger Prozess für die neu gebildeten Konstruktionen. Viele bleiben eine text- oder situationsgebundene Bildung, während andere durch Usualisierung und Akzeptierung schließlich Tendenzen zur Demotivation zeigen und als Lexeme in den Sprachschatz eingehen. Streng fach- oder sondersprachliche Einheiten, die in die Allgemeinsprache übernommen werden, können nur dann als Neubildungen definiert werden, wenn sie alle Kriterien der Lexikalisierungsprozesse neuer Wörter erfüllen und auch einer hinreichend großen Anzahl an Sprechern bekannt sind.

Ein zusätzliches Problem der Kategorisierung eines Wortes als ‚Neubildung’ tritt dadurch auf, dass viele neue Wortbildungskonstruktionen nicht in den Wörterbüchern zu finden sind. Dies liegt daran, dass die Lexikographie mit den ständigen Veränderungen des Lexembestands einer Sprache nicht Schritt halten kann und auch nicht muss. Denn viele Neubildungen bleiben trotz einer relativen Bekanntheit (vgl. Begriffe der Jugend- oder Internetsprache) zeitlich beschränkt und verschwinden wieder. Deshalb sollte eine Neubildung nie nur nach dem Kriterium „verzeichnet in den neuesten Wörterbüchern“ klassifiziert werden, sondern auch auf ihre Bekanntheit und die Häufigkeit ihres Auftretens innerhalb der Sprechergemeinschaft hin untersucht werden. Manche Bildungen sind durchaus usuell im alltäglichen Wortschatz, können jedoch nicht lexikographisch belegt werden. Und dennoch sind es feste sprachliche Einheiten des Sprachsystems.

[...]


[1] Siehe http://www.ids-mannheim.de

[2] Vgl. z.B.: Krieg, Ulrike (2005): Wortbildungsstrategien in der Werbung. Zur Funktion und Struktur von Wortneubildungen in Printanzeigen. Hamburg: Helmut Buske Verlag.

[3] Kinne, Michael (1998): Der lange Weg zum deutschen Neologismenwörterbuch. In: Teubert, Wolfgang (Hrsg.): Neologie und Korpus. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 71.

[4] Ebd., S. 73.

[5] Duden. Das Fremdwörterbuch (1997). 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim: Verlag Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, S. 547.

[6] Mackensen, Lutz (1982): Deutsches Wörterbuch. 10. Auflage. München: Pawlak Verlagsgesellschaft, S. 753.

[7] Wahrig, Gerhard (1974): Fremdwörter – Lexikon. Gütersloh: Bertelsmann Verlag 1974, S. 425.

[8] Bußmann, Hadumod (Hrsg.) (2002): Lexikon der Sprachwissenschaft. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, S. 463.

[9] Conrad, Rudi (Hrsg.) (1985): Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, S. 161.

[10] Kinne (1998:85).

[11] Vgl. Hohenhaus, Peter (1996): Ad-hoc-Wortbildung. Terminologie, Typologie und Theorie kreativer Wortbildung im Englischen. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang Verlag, S. 17f.

[12] Bußmann (2002:105) ® Die Definition ist hier unter dem Begriff Augenblicksbildung zu finden, ist aber synonym auf Okkasionalismen anwendbar.

[13] Fleischer, Wolfgang/Stepanowa, Marija (1985): Grundzüge der deutschen Wortbildung. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, S. 174.

[14] Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild (1995): Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, S. 5.

[15] Ebd.

[16] Vgl. eine ausführlichere Darstellung zum Fremdwortschatz im Deutschen: Fleischer/Barz (1995:61ff.).

[17] Munske, Horst (1990): Über den Wandel des deutschen Wortschatzes. In: Besch, Werner (Hrsg.): Deutsche Sprachgeschichte. Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang Verlag, S. 390.

[18] Vgl. Burger, Harald (2003): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. 2. Auflage. Berlin: Erich Schmidt Verlag, S. 11ff.

[19] So verzeichnet etwa das „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ (= WDG) den Anteil neuer Wortbildungen an den Neologismen in seinem Stichwortregister mit ca. 83%.

[20] Kinne (1998:83).

[21] Ebd.

[22] Kinne (1998:84).

[23] Im WDG wird der Anteil an Neubedeutungen mit ca. 12% angegeben.

[24] Kinne (1998:77).

[25] Eine genaue Darstellung dieses Motivs der Textfunktion ist unter 3.2.1 zu finden.

[26] Eine detaillierte Untersuchung zum Aspekt der Auffälligkeit bzw. des Neuheitseffekts von Wortneubildungen wird unter 3.2.3 durchgeführt.

[27] Vgl. ausführlich dazu: Krieg (2005:49).

[28] Vgl. Fleischer/Stepanowa (1985:175f.).

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen der Neologismen im Deutschen
Untertitel
Eine Untersuchung anhand konkreter Beispiele
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,3
Jahr
2007
Seiten
81
Katalognummer
V90351
ISBN (eBook)
9783638042659
Dateigröße
726 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Phänomen, Neologismen, Deutschen
Arbeit zitieren
Anonym, 2007, Das Phänomen der Neologismen im Deutschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90351

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