Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Einführung von Schutzkonzepten vor sexueller Gewalt an Schulen


Bachelorarbeit, 2020

61 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1. Sexueller Missbrauch/ Sexualisierte Gewalt
1.1. Begriffsklärung und Definitionen
1.2. Statistischer Überblick – Häufigkeit von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen
1.3. Täter, Motive und Täterstrategien
1.4. Risiko und Schutzfaktoren
1.5. Folgen sexuellen Missbrauchs

2. Was sind Schutzkonzepte?
2.1. Ein Überblick
2.2. Möglichkeiten für Inhalte eines Schutzkonzeptes
2.2.1. Gefährdungsanalyse
2.2.2. Prävention
2.2.3. Intervention
2.2.4. Aufarbeitung
2.2.5. Traumabehandlung: Umgang mit betroffenen Kindern

3. Warum sind Schutzkonzepte an Schulen notwendig?
3.1. Rechtliche Vorgaben
3.1.1. UN-Kinderrechtskonvention
3.1.2. Grundgesetz und Sozialgesetzbuch- rechtliche Bestimmungen
3.2. Pädagogische Verstrickung

4. Wie wirken Schutzkonzepte spezifisch- Beispiel der Brüdergemeinde Korntal
4.1. Missbrauchsfälle in der Heimeinrichtung der Brüdergemeinde Korntal
4.2. Aufarbeitung
4.3. Wie wirken die Schutzkonzepte spezifisch in der Einrichtung?

5. Interview zum Thema Schutzkonzepte vor sexueller Gewalt an Schulen mit der Fachberatungsstelle Pfiffigunde e.V
5.1. Vorstellung der Fachberatungsstelle
5.2. Schriftliche Kurzinterviews
5.3. Befragung geführt mit einer Mitarbeiterin des
5.4. Zusammenfassung und Kernpunkte des Interviews

6. Kooperationsmöglichkeiten
6.1. Fachberatungsstellen
6.1.1. Fachberatungsstellen im Umkreis Ludwigsburg
6.2. Schulsozialarbeit
6.3. Insoweit erfahrene Fachkraft

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

Das Thema „sexuelle Gewalt“ war relativ lange ein Tabuthema der Gesellschaft und Vorfälle wurden oft einfach nicht erwähnt. Erst seit der Aufdeckung etlicher Missbrauchsfälle, die im Jahr 2010 beginnt gewinnt das Thema an öffentlicher Relevanz. Die Odenwaldschule gilt als einer der bekanntesten Fälle, bei denen SchülerInnen mehrfach und jahrelang von den MitarbeiterInnen sexuell missbraucht und ausgebeutet wurden. Aber auch unter den Jugendlichen fand sexuelle Gewalt statt. Nach der Bekanntmachung dieser zahlreichen Fälle änderte sich die Rechtslage zum Wohl des Kindes. Der Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) sowie der Runde Tisch „sexueller Kindesmissbrauch“ diskutierten ausführlich über Lösungsansätze sowie darüber, wie ein Perspektivwechsel vonstattengehen könnte. In vielerlei Hinsicht veränderte sich sowohl in der Gesellschaft als auch an den Institutionen die Einstellung und die Bewusstheit zum Thema sexueller Missbrauch. Es wurde deutlich, dass Maßnahmen benötigt werden, die Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene vor sexuellen Übergriffen schützen. Trotz der Bemühungen des UBSKM und des Runden Tisches wird sexueller Missbrauch auch heute noch oft verschwiegen oder von den Betroffenen nicht mitgeteilt. Im Jahr 2017 wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik über 12.000 Fälle von sexuellem Missbrauch verzeichnet (Bundeskriminalamt, 2018). Dies sind ausschließlich die Fälle, die polizeilich gemeldet wurden. Die Dunkelziffer ist weitaus größer und kaum schätzbar.

Die Schule bietet als Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche sehr viel Zeit ihres Lebens verbringen, einen Ort, in dem ein Schutzraum gestaltet werden kann bzw. sollte und wo ein regelmäßiger Zugang zu den Kindern und Jugendlichen gewährleistet werden kann. Allerdings ist die Schule auch ein Ort, an dem Menschen zusammentreffen, Machtgefälle entstehen können und individuelle Grenzen leicht überschritten werden können. Die Institution Schule ist somit auch ein Risikoraum für sexuelle Gewalt durch Kinder und Jugendliche oder auch durch MitarbeiterInnen. Dies gilt es zu verhindern, da die Schule nicht nur einen Bildungsauftrag hat, sondern auch einen Handlungsauftrag, wenn es um die Aufrechterhaltung des Kindeswohls geht.

„Die Schule wird ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern nur gerecht, wenn sie diese vor möglichen Gefahren in der Schule schützt.“

(Schröer, 2018, S. 29)

Die ehemalige UBSKM und der Runde Tisch „sexueller Kindesmissbrauch“ konzipierten einige zentrale Inhalte für schulische Schutzkonzepte, die dafür sorgen sollten, dass sich die Haltungen in Schulen ändern und Jugendliche nicht mehr leichte Opfer von sexueller Gewalt werden können.

Sinnvoll erscheint es, für jede Schule ein solches Schutzkonzept zu entwickeln und dies in den Schulalltag zu integrieren. Dieses sollte nicht erst erstellt werden, wenn ein Verdachtsfall oder ein akuter Fall von sexueller Gewalt vorliegt. Stattdessen ist ein präventives Vorgehen zu erstreben, um möglichst von vornherein Übergriffe zu vermeiden. Viele Schulen setzen schon sehr gute Präventions- und Interventionsmaßnahmen um, haben aber noch nicht alle zentralen Inhalte der Schutzkonzepte darin integriert.

Im Kontakt mit Schulen habe ich persönlich festgestellt, dass allgemeinbildende Schulen oft ausschließlich mit Präventionsprogrammen arbeiten und mit dem Begriff „Schutzkonzept“ zunächst überfragt waren. Dahingegen konnten Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren im Gespräch direkt zuordnen, wo ihr Schutzkonzept zu finden ist, was es beinhaltet und wer dafür zuständig ist. Dies zeigt, dass die Präsenz von sexualisierter Gewalt und der damit einhergehenden Relevanz von Schutzkonzepten an allgemeinen Schulen stark unterschätzt wird. Sexuelle Gewalt tritt aber eben nicht ausschließlich in sogenannten Brennpunkten auf, sondern kann überall stattfinden, wo Menschen aufeinandertreffen.

Aus diesem Grund ist es meiner Meinung nach sehr bedeutsam, sowohl für die Thematik von sexuellem Missbrauch, als auch für die Wichtigkeit von Schutzkonzepten an Schulen zu sensibilisieren. Deshalb beschäftige ich mich im Rahmen dieser Ausarbeitung mit den Themen sexuelle Gewalt und Schutzkonzepte. Es soll den Fragen nachgegangen werden, warum Schutzkonzepte an Schulen eine hohe Relevanz haben und wie sie jeweils entstehen. Des Weiteren werde ich versuchen, Antworten auf die Fragen „Welche Bestandteile benötigt ein umfangreiches Schutzkonzept?“, „Wie wirken Schutzkonzepte spezifisch?“ und „Welche Aufgabenbereiche übernimmt eine Fachberatungsstelle für sexuellen Missbrauch bei der Erstellung eines Schutzkonzeptes an Schulen?“ zu finden.

Um dies zu ermöglichen, wird sich zunächst dem Begriff „Sexueller Missbrauch“ angenähert und ein statistischer Einblick in die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch gegeben. Erarbeitet werden soll, welche Risiko- und Schutzfaktoren es gibt, wie TäterInnen vorgehen und welche Folgen sexueller Missbrauch für die Betroffenen haben kann. Im Anschluss daran wird dargelegt, welche Bestandteile ein Schutzkonzept allgemein ausmachen und wie diese jeweils aufgebaut sind. Weiter wird sich mit den entsprechenden rechtlichen Vorgaben auseinandergesetzt und mit der Frage, warum Schutzkonzepte an Schulen elementar sind. Dies wird mit einem Fallbeispiel einer Einrichtung aus der Umgebung von Ludwigsburg unterlegt. Exemplarisch soll erklärt werden, wie diese Institution den Aufarbeitungsprozess angegangen ist und wie dort die erstellten Schutzkonzepte spezifisch wirken. Anschließend wird die Fachberatungsstelle Pfiffigunde Heilbronn e.V. vorgestellt, die sich dazu bereit erklärte, ihre Erfahrungen in Bezug auf die gemeinsame Erstellung von Schutzkonzepten mit Schulen zu teilen und schriftlich einige der genannten Fragen zu beantworten. Die schriftlich geführte Befragung wird zuletzt unter Berücksichtigung der zuvor dargelegten theoretischen Informationen ausgewertet und zusammengefasst. Abschließend werden Kooperationspartner vorgestellt, an die sich Schulen bezüglich des Erstellens von Schutzkonzepten, aber auch bezüglich allgemeiner Fragen zu sexueller Gewalt, wenden können.

1. Sexueller Missbrauch/ Sexualisierte Gewalt

1.1. Begriffsklärung und Definitionen

Um über sexuellen Missbrauch oder sexualisierte Gewalt sowie Schutzkonzepte, die davor schützen sollen, schreiben zu können, müssen die Begrifflichkeiten zunächst definiert und zugeordnet werden, damit ein Hintergrundwissen entsteht, auf welches im Verlauf der Ausarbeitung zurückgegriffen werden kann. In der Literatur findet sich eine Vielzahl an Begriffen, die sexuelle Handlungen an Kindern und Jugendlichen beschreiben. Darunter finden sich auch sexueller Missbrauch, sexualisierte Gewalt, sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe und sexuelle Grenzverletzungen. Einige dieser Begriffe werden auch in dieser Arbeit verwendet. Ihnen gemein ist die Beschreibung einer „sexuelle[n] Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ (UBSKM, 2020)

Grundsätzlich ist dabei davon auszugehen, dass Kinder bis zu einem Alter von 14 Jahren, aufgrund ihrer Unerfahrenheit, ihrer mangelnden Kenntnisse über Sexualität und ihrer anderen psychosexuellen Entwicklungsstufe, gar nicht in der Lage dazu sind, bewusst einer sexuellen Handlung zuzustimmen. (vgl. Deegener, 1998, S. 22) Somit sind sexuelle Annäherungen an Kinder unter 14 immer als sexuelle Gewalt zu sehen, selbst wenn sich das Kind als einverstanden erklärt. (vgl. UBSKM, 2020)

Der Übergang zwischen sexueller Gewalt und einer Grenzverletzung, die beispielsweise durch eine versehentliche Berührung entsteht, sind oft undeutlich und nicht klar zu erkennen.

Unter Grenzverletzungen werden in diesem Kontext unangemessene aber nicht strafbare körperliche Kontakte und Verhaltensweisen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen verstanden.

Viele Kinder und Jugendliche brauchen jedoch, ihrem Alter entsprechend, Körperkontakt und Zuneigung. Hierbei ist es notwendig, über die Bedürfnisse des jeweiligen Alters informiert zu sein, eigene Handlungen zu reflektieren und die Signale der Kinder und Jugendlichen wahrzunehmen. Denn Grenzverletzungen sind immer abhängig vom Alter der Kinder und auch von ihrem kulturellen und familiären Hintergrund geprägt.

Sexuelle Gewalt kann sehr vielfältig sein und kann sich in vielen Formen, in verschiedener Intensität, Dauer und Kontexten zeigen, wovon einige Handlungen strafbar sind und einige nicht bestraft werden. Die Übergriffe können sowohl Handlungen ohne direkten Körperkontakt (Hands-off-Taten) umfassen, wie beispielsweise mündliche Belästigungen, voyeuristische oder exhibitionistische Annäherungen sowie pornografisches Film- und Fotomaterial vom Betroffenen oder Handlungen die Kinderprostitution möglich machen. Sie können aber auch konkrete Handlungen mit direktem Körperkontakt (Hands-on-Taten) umfassen. Zu sexueller Gewalt mit direktem Körperkontakt zählen absichtsvolle Berührungen der Intimzonen (Mund, Leistenbereich, Brüste, Anus), auch über der Kleidung, Küsse, sämtliche Formen von Vergewaltigung sowie Penetrationssex. (vgl. Jud, 2015, S. 44f.)

Doch nicht nur die verschiedenen Formen sexueller Gewalt sind sehr umfangreich, sondern auch die TäterInnen sind variabel und müssen voneinander unterschieden werden. Denn sexueller Missbrauch kann sowohl im familiären Umfeld, durch Eltern oder Verwandte stattfinden, aber auch durch andere außerfamiliäre Bezugspersonen wie beispielsweise Lehrkräfte oder im Sportverein. In diesen Fällen wird ein Beziehungsgeflecht, das dazugehörige Vertrauen und die Bindung zu der Person gestört und es entsteht ein Machtgefälle zwischen dem betroffenen Kind und dem Erwachsenen. Wenn sexuelle Gewalt durch Bezugspersonen ausgeübt wird, sind die sexuellen Übergriffe meist nicht einmalig, sondern fortwährend und über einen längeren Zeitraum hinweg. Bei FremdttäterInnen hingegen liegt meist ebenfalls ein Machtgefälle vor, oft kommt es aber „nur“ zu einem einmaligen Übergriff. Sexuelle Gewalt kann auch von Kindern oder Jugendlichen an anderen Kindern oder Jugendlichen begangen werden, wobei hierbei von den altersgemäßen körperlichen Erkundungen, wie beispielsweise den sogenannten „Doktorspielen“ bei jüngeren Kindern oder die Entdeckung der eigenen Sexualität bei Jugendlichen, unterschieden werden muss. Kinder und Jugendliche können ebenfalls ihre Überlegenheit in jeglicher Form ausnutzen und unfreiwillige sexuelle Handlungen an Gleichaltrigen oder Jüngeren ausüben. (vgl. Jud, 2015, S. 43)

1.2. Statistischer Überblick – Häufigkeit von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen

Sexuelle Gewalt an Kindern oder Jugendlichen wird nur in sehr wenigen Fällen angezeigt und somit von der Polizei erfasst, weswegen die statistischen Angaben über die Häufigkeit von sexueller Gewalt an Minderjährigen recht ungenau sind. Die Polizeiliche Kriminalstatistik kann somit ausschließlich das Hellfeld der gemeldeten Fälle verzeichnen.

Im Jahr 2018 wurden 12.321 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch gemeldet, 638 Fälle von Missbrauch an Schutzbefohlenen unter Ausnutzung der Amtsstellung oder des Vertrauensverhältnisses und 7449 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung Kinderpornografischer Schriften erfasst. (Polizeiliche Kriminalstatistik, 2018, S. 17) In der Polizeilichen Kriminalstatistik 2018 wird sowohl sexueller Missbrauch an Jugendlichen, als auch die Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Jugendpornografie nicht separat aufgelistet. Für das Jahr 2017 gibt die Homepage des UBSKM Rörig hierzu jedoch zusätzlich 990 Fälle von Missbrauch an Jugendlichen und 1306 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung sogenannter Kinderpornografie an. (UBSKM, 2020)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Tabelle1: Bundeskriminalamt,Polizeiliche Kriminalstatistik, 2018, S. 17)

Schon die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigen, dass sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen keine Seltenheit in Deutschland ist, obwohl dies nur die Hellziffer, also die polizeilich gemeldeten Fälle, umfasst. Viele Übergriffe werden aus verschiedensten Gründen jedoch gar nicht erst der Polizei gemeldet und können somit auch nicht in die Statistik aufgenommen werden. Diese Dunkelziffer ist wahrscheinlich um ein Vielfaches größer, als die Hellziffer und kann nur geschätzt werden. Die Weltgesundheitsorganisation geht von ca. einer Million betroffener Jungen und Mädchen aus, die sexuellen Missbrauch oder sexuelle Gewalt erleben müssen. Ungefähr zwei Drittel dieser Kinder und Jugendlichen besuchen eine allgemeinbildende Schule. Daraus lässt sich erschließen, dass sich in einer Klasse einer allgemeinbildenden Schule ein bis zwei betroffene Kinder befinden. (vgl. UBSKM, 2020) An Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) ist der Durschnitt der Anzahl von betroffenen Kindern oft noch höher, bzw. gleichbleibend aber auf kleinere Klassengrößen berechnet.

1.3. Täter, Motive und Täterstrategien

„Sexueller Missbrauch findet in 80 bis 90 Prozent der Fälle durch Männer und männliche Jugendliche statt, zu etwa 10 bis 20 Prozent durch Frauen und weibliche Jugendliche.“ (UBSKM, 2020) Männliche Täter können aus allen sozialen Bereichen kommen und unterscheiden sich in keiner Weise von Männern, die keine sexuelle Gewalt ausüben. Zu missbrauchenden Frauen lassen sich aufgrund mangelnder Forschung keine Informationen finden. Man geht allerdings davon aus, dass von Frauen durchgeführter Missbrauch seltener entdeckt wird, da ihnen dieser oft nicht zugetraut wird oder sie „sanftere“, nicht nachweisbare Methoden anwenden. (vgl. ebd.)

Die Motive, welche die TäterInnen dazu bewegen, sexuelle Gewalt an Kindern oder Jugendlichen auszuüben, sind von TäterIn zu TäterIn unterschiedlich, individuell und häufig sogar multifaktoriell. Dennoch lassen sich einige, häufiger auftretende Motive benennen, die TäterInnen zu einem Übergriff veranlassen können. Ein wesentliches Motiv ergibt sich aus dem Machtgefälle, das automatisch zwischen Erwachsenen und Kindern besteht und von Erwachsenen, als Autoritätsperson oder gar Vormund, ausgenutzt werden kann. Dies vereinfacht somit den Zugang zu einer sexuellen Handlung. Die TäterInnen fühlen sich dann überlegen und sehen sich in einer Position, ihre Macht auszuüben und auszunutzen. Solche Übergriffe werden auch als Ersatzhandlung bezeichnet, was bedeutet, dass sich die TäterInnen eigentlich eine sexuelle Beziehung zu einem gleichaltrigen Partner wünschen, sich dieser Wunsch aber aus verschiedenen Gründen, die teilweise auch durch eine sexuelle Verhaltensstörung bedingt sind, nicht erfüllen lässt. (vgl. Kuhle, 2015, S. 110 f.)

Ein weiteres Motiv, das TäterInnen dazu bewegt einen sexuellen Missbrauch an Kindern oder Jugendlichen zu begehen ist eine sexuelle Präferenzstörung, bei der die sexuelle Neigung auf den kindlichen Körper (Pädophilie) oder den jugendlichen, frühpubertären Körper (Hebephilie) ausgerichtet ist. (vgl. ebd.)

Auf einen umfassenden Überblick über die Entstehungsbedingungen von sexuellem Missbrauch vonseiten der TäterInnen wird hier verzichtet, da dies den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde.

Im Hinblick auf Schutzkonzepte, die vor sexuellem Missbrauch schützen sollen, ist es jedoch bedeutsam, sich einen Überblick über Strategien zu verschaffen, die von TäterInnen genutzt werden, um einen sexuellen Missbrauch zu begehen. Eine Tat wird häufig schrittweise geplant und vorbereitet und hat das Ziel, das Kind oder den Jugendlichen aktiv in den Vorgang einzubeziehen und somit den Übergriff zu ermöglichen. Die Strategien haben außerdem das Ziel, das Risiko einer Entdeckung und somit auch den Eingriff Dritter auszuschließen und das Vertrauen zum Kind, sei es aus dem familiären Umfeld oder in außerfamiliären Settings, herzustellen. Nach Cornish beginnt der Verlauf eines sexuellen Missbrauchs mit der Vorbereitungsphase, in der sich der/die TäterIn mit der Situation eines Missbrauchs beschäftigt und es zunächst in seiner Fantasie durchspielt. Anschließend begibt sich der/die TäterIn in ein Umfeld, in dem eine Kontaktaufnahme zu einem Kind hergestellt werden kann, dies können auch pädagogische Einrichtungen und Schulen sein. Die dort vorhandenen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise eine berufliche, autoritäre Position, kann sich der/die TäterIn zu Nutze machen, ein Opfer identifizieren und die Kontaktaufnahme beginnen. Erst nachdem der Kontakt für einige Zeit besteht und ein Vertrauensverhältnis entstanden ist, begeht der/die TäterIn den eigentlichen Missbrauch. Auch das Verhalten nach der Tat, inklusive möglicher Wiederholungstaten, zählt nach Cornish zum Verlauf eines sexuellen Missbrauchs. (vgl. Kuhle, 2015, S. 118 f.)

TäterInnen weisen während dieses Verlaufs verschiedene Verhaltensmuster auf, mit denen sie den Zugang zum Kind ermöglichen wollen. Zum einen wollen sie das Vertrauen zum Kind gewinnen, wollen verstärkte Zuwendung zeigen, ihre Opfer für körperliche Berührungen desensibilisieren und ihnen Geschenke machen oder ihnen Privilegien zugestehen, die andere Kinder oder Jugendliche sonst nicht erhalten. Andere TäterInnen zwingen das jeweilige Kind durch Drohungen oder durch Anwendung von körperlicher Gewalt zur Kooperation. Nach einem sexuellen Missbrauch wenden die TäterInnen zudem weitere Methoden an, damit die Opfer nicht über den Übergriff reden. Dies geschieht oft mittels emotionaler Erpressung und Schuldzuweisungen an das Kind. (Vgl. ebd. S. 119 f.)

1.4. Risiko und Schutzfaktoren

TäterInnen suchen sich oft verletzliche, physisch oder psychisch schwache oder sozial abgekapselte Opfer und nutzen dies, um einen Kontakt herzustellen. Kinder und Jugendliche, die bereits körperliche oder seelische Misshandlung, Vernachlässigung oder auch sexuellen Missbrauch erfahren haben, sind deshalb besonders schutzbedürftig. Sie haben häufig schon Vertrauensbrüche und schwierige Beziehungskonstellationen erfahren, haben ein höheres Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Zuneigung und Zärtlichkeit als andere Kinder in ihrem Alter und haben oft verlernt, ihre eigenen Grenzen zu kennen und sich zu verteidigen. (vgl. UBSKM 2020)

Risikofaktoren, die die statistische Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Missbrauchs erhöhen, treten bei gefährdeten Kindern oft kumulativ auf, setzen aber nicht unbedingt einen eintretenden Missbrauch voraus. Umgekehrt können auch Kinder, bei denen kein einziger Risikofaktor aufzuweisen ist, Opfer von sexueller Gewalt werden.

Es gibt zahlreiche Risikofaktoren, die sowohl kindbezogen sein können, aber auch auf den familiären Einflüssen, die das Kind erfährt, beruhen. Dies gilt ebenso für die Schutzfaktoren, die eine gesunde Entwicklung des Kindes trotz erschwerter Bedingungen ermöglichen. Diese vermitteln dem Kind Widerstandsfähigkeit, um so auch sexuelle Übergriffe trotz erhöhtem Risiko verhindern zu können. Risiko- und Schutzfaktoren eines Kindes bedingen sich gegenseitig und müssen aus diesem Grund gemeinsam betrachtet werden, um verstehen zu können wie sexuelle Gewalt entstehen kann.(vgl. Bange, 2015, S. 104)

Kindbezogene Risikofaktoren sind keine Schuldzuweisung an die betroffenen Kinder, sondern stellen Faktoren dar, die einen sexuellen Übergriff wahrscheinlicher machen können. Ein solcher Gefährdungsfaktor kann beispielsweise das weibliche Geschlecht sein, da Mädchen statistisch gesehen häufiger sexuell missbraucht werden als Jungen. Bei Kindern mit einer Behinderung oder mit psychischen Problemen besteht ebenfalls ein erhöhtes Risiko, da sie auf Pflege und Unterstützung angewiesen sind und somit häufiger Situationen auftreten können, in denen sexuelle Handlungen überhaupt ermöglicht werden. Zudem haben viele pflegebedürftige Kinder oder Jugendliche keine Kenntnis über Intimsphäre, eigene Grenzen oder über ihre Sexualität und/oder können ihre Bedürfnisse nicht ausreichend mitteilen. Auch eine mangelhafte Sexualaufklärung des Kindes kann ein Risikofaktor sein, da es so zu Fehlvorstellungen und unangebrachten Situationen kommen kann.

Kindbezogene Schutzfaktoren können beispielsweise Charaktereigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, ein positives Selbstwertgefühl und Selbstwahrnehmung sein. Auch ein sicheres Bindungsverhalten zaählt dazu. Des Weiteren können eine erhöhte Intelligenz, gute Schulleistungen, eine soziale Eingebundenheit und eine umfassende Sexualaufklärung Faktoren sein, die das Kind vor Übergriffen schützen können.

Familiäre Risikofaktoren stehen in Bezug auf die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Missbrauchs in einem engeren Zusammenhang, als die kindbezogenen Risikofaktoren, setzen aber ebenfalls keinen Übergriff voraus. Ein erhöhter Gefährdungsfaktor besteht unter anderem bei Kindern, die aus Familien kommen, in denen schon andere Formen von Gewalt angewendet werden oder in denen eine belastete Eltern-Kind-Beziehung vorzufinden ist. Wenn Kinder aus einer Trennungs- oder Scheidungsfamilie kommen, die Beziehung der Eltern schwierig ist oder sich die Familie sozial isoliert, sind die Kinder ebenfalls vorbelastet. Ebenso gilt dies, wenn die Mutter des Kindes bereits Missbrauchserfahrungen gemacht hat, wenn ein Elternteil psychisch krank oder kriminell ist oder auch wenn eine frühe, ungewollte Schwangerschaft vorliegt.

Eine dauerhafte, beständige und unterstützende Beziehung zu einer erwachsenen Bezugsperson und zu einem Geschwisterkind können diesen Belastungen jedoch entgegenwirken und sind somit Familiäre Schutzfaktoren. (vgl. Bange, 2015, S. 104 ff.; UBSKM 2020)

Lehrkräfte an Schulen sollten über diese Faktoren in Kenntnis gesetzt werden und sich dieser bewusst werden. Notwendig ist eine Sensibilisierung diesbezüglich, damit sie bei Kindern, die solche Risikofaktoren aufweisen, achtsam sein können ohne jedoch direkt von einem Verdachtsfall auszugehen. Denn überspitzt kann gesagt werden: nicht alle Mädchen, nicht alle Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung und auch nicht alle Kinder, deren Eltern kriminell sind, werden Opfer eines sexuellen Missbrauchs.

1.5. Folgen sexuellen Missbrauchs

Sexuelle Übergriffe können in verschiedenen Arten, Formen, Dauer, Häufigkeiten, Kontexten und Intensitäten auftreten und sind deshalb sehr individuell. Ebenso verhält sich mit Symptomen und Folgen, die bei Opfern von sexuellen Übergriffen auftreten können. Die Folgewirkungen hängen von den oben genannten Faktoren und auch von der Resilienz des Betroffenen ab, da diese beeinflussen kann, wie die Tat verarbeitet wird. Es sind häufig keine direkten Verletzungen im Genitalbereich oder andere eindeutige Anzeichen für sexuelle Gewalt erkennbar. Die betroffenen Kinder oder Jugendliche können jedoch Symptome entwickeln, die von den Bezugspersonen und Lehrkräften ernst genommen werden müssen und als Signal wirken können.

„Symptome, die als Missbrauchsfolgen auftreten können sind meist unspezifisch. Sie treten nicht in jedem Fall eines sexuellen Missbrauchs auf und können auch durch alternative Ursachen hinreichend erklärt werden. Eine voreilige Feststellung auf einen Missbrauchsverdacht gilt es zu vermeiden.“ (Goldbeck, 2015, S. 147)

Solche Symptome, die in Folge eines sexuellen Missbrauchs gehäuft bei den Betroffenen auftreten, werden in kurzfristige, also unmittelbar nach der Tat auftretende Folgen, und langfristige Folgen, solche die mehrere Monate oder das ganze Leben lang nachwirken, eingeteilt.

Kurzfristige Folgen sind beispielsweise Verletzungen des Genitalbereichs und sexuell übertragbare Krankheiten, Schlafmangel, psychosomatische Kopf- und Bauchschmerzen, Einnässen und Einkoten oder Ängste, die sich bei den Kindern und Jugendlichen entwickeln.

Die kurzfristigen und langfristigen Folgen überschneiden sich häufig. So können viele der oben genannten Symptome auch chronisch werden und über einen längeren Zeitraum andauern. Langfristige Folgen können außerdem Schwangerschaften sein, die durch den Missbrauch entstehen, oder gravierende Verhaltensänderungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Hautkrankheiten, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, übermäßiger Alkohol- und Drogenkonsum, Depressionen, sexualisiertes Verhalten, Aggression, etc. (vgl. Goldbeck, 2015, S. 148ff.)

All diese Symptome können durch sexuelle Gewalt entstehen, einigen können aber auch andere belastende Ursachen oder Ereignissen zugrunde liegen. In der pädagogischen Arbeit ist es aber in jedem Fall notwendig, für solche drastischen psychischen oder körperlichen Auffälligkeiten und Verhaltensänderungen sensibilisiert zu sein und das Gespräch mit dem Kind zu suchen, ohne einen voreiligen Verdacht auszusprechen. Ein genauer Handlungsleitfaden für einen solchen Verdachtsfall sollte im Schutzkonzept vor sexueller Gewalt der Schule verankert sein.

2. Was sind Schutzkonzepte?

2.1. Ein Überblick

Schutzkonzepte bilden ein Maßnahmensystem, das Schüler vor sexualisierter Gewalt schützen soll, aber auch Leitfäden für Lehrer beinhaltet, wie diese sich in einem Akutfall verhalten sollen und wo sie sich Beratung und Unterstützung einholen können. Die Institution Schule soll für Kinder und Jugendliche einen Schutzraum darstellen und einen Ort bieten, an dem sie sich sicher und wohl fühlen können. Sie soll ermöglichen, dass sich die Schüler ihrem Bildungsweg widmen und sich frei entfalten können, sowie sie vor möglichen Gefahren schützen, die in der Schule auftreten könnten. (vgl. Fegert K. K., 2018, S. 4) Dieses Ziel kann durch institutionseigene Schutzkonzepte unterstützt werden. Es gibt außerdem zwei konkrete Ziele von Schutzkonzepten, die von „Schule gegen sexuelle Gewalt Baden-Württemberg“ gemeinsam mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) formuliert wurden. Erstens darf die Schule nicht zum Tatort werden. SchülerInnen sollen somit vor sexueller Gewalt durch Erwachsene oder durch MitschülerInnen geschützt werden. Zweitens soll die Schule ein Kompetenzort sein, an dem Mädchen und Jungen Hilfe finden können, wenn sie im schulischen, aber auch im privaten Umfeld sexuelle Gewalt erleben. (vgl. Schule gegen sexuelle Gewalt Baden Württemberg, 2020)

Schutzkonzepte sind ein „Zusammenspiel aus Analyse, strukturellen Veränderungen, Vereinbarungen und Absprachen, sowie Haltung und Kultur einer Organisation.“ (UBSKM, 2020) Ein gut ausgearbeitetes Schutzkonzept kann ein Qualitätsmerkmal der jeweiligen Schule oder Einrichtung sein, da hierdurch die SchülerInnen bestmöglich geschützt werden, das Kollegium eine Sicherheit in seinem Handeln verspürt und es den Handlungsspielraum von potentiellen TäterInnen stark einschränkt. (vgl. Fegert K. K., 2018, S. 4) Um ein solches bestmöglich ausgearbeitetes Schutzkonzept zu gestalten, ist es notwendig, dies auch speziell für die Einrichtung zu konzipieren und zu gestalten. Außerdem ist es von großer Relevanz für die Wirksamkeit eines Schutzkonzeptes, dass dies nicht nur ein Konzept bleibt, sondern in den Alltag übernommen, dort ausgelebt und in die verschiedensten Gelegenheiten mit einbezogen wird, um eine „alltägliche Herstellung von Schutz vor Grenzverletzungen, Gewalt und Missbrauch“ (Harder, 2018, S. 15) gewährleisten zu können. Die Verantwortung für eine solche Entwicklung eines Schutzkonzepts hat die Schulleitung, denn sowohl die SchülerInnen, als auch das Kollegium hat ein Recht darauf. (vgl. Schröer, 2018, S. 31) Um ein Schutzkonzept an der Schule oder Einrichtung möglichst genau zu konzipieren, ist es notwendig, dies gemeinsam mit dem Kollegium, der Leitung und unter Aufsicht einer externen Fachkraft zu tun. Oft ist es zudem sinnvoll, die SchülerInnen und ihre Eltern ebenfalls in die Konzeptionierung einzubinden. Der Anspruch an die Institution ist jedoch nicht, grundlegend neue Konzepte zu entwickeln. Vielmehr können sie sich an den schon existierenden Grundgedanken, zu dem was ein Schutzkonzept beinhalten sollte, orientieren und dies als Leitfaden sehen. Leitlinien hierzu lassen sich beispielsweise auf der Homepage des UBSKM finden oder in diverser Literatur (Oppermann, et.al. 2018; Fegert, et.al. 2018). Diese Leitlinien sollten bei der Entwicklung eines neuen Schutzkonzeptes jedoch nicht ohne Weiteres übernommen werden, sondern sollten als Inspiration genutzt und individuell an die Ressourcen und Schwächen der Schule angepasst werden.

Bevor eine Schutzkonzeptentwicklung konkret stattfinden kann, sollten die Mitarbeiter Kompetenzen und Qualifikationen in der Thematik „Sexualisierte Gewalt und sexueller Kindesmissbrauch“ sowie zur Notwendigkeit eines Schutzkonzeptes erwerben und dafür sensibilisiert werden, was beispielsweise im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen stattfinden kann. (vgl. Harder, 2018, S. 14)

Zum Einstieg in die Schutzkonzeptentwicklung bietet es sich an, einige Handlungsschritte zu beachten. Zunächst sollte formuliert werden, welche Ziele und Aufgaben zu der Schule passen und in das Schutzkonzept einbezogen werden sollen, damit dies letztendlich die Aufgabe erfüllt, die SchülerInnen vor Gefahren zu schützen und in den Schulalltag integriert werden kann. Außerdem erweist es sich als sinnvoll, eine Bestandsaufnahme zu vollziehen. Dabei soll es darum gehen, welche Bestandteile eines Schutzkonzeptes möglicherweise schon an der Schule existieren und funktionieren und welche Lehrkräfte über nützliche Kompetenzen verfügen. Wenn die Schule schon mit diversen Komponenten ausgestattet ist, können ebendiese in das zu erarbeitende Konzept mit aufgenommen werden, was den Arbeitsaufwand deutlich verringert und Kapazität für neue Ideen liefert. Des Weiteren bedarf es einer ausführlichen strukturellen Planung, die sich damit auseinandersetzt, in welchem zeitlichen Rahmen das Schutzkonzept entwickelt werden soll, welche Arbeitsschritte nötig sind und welche externe Unterstützung oder Supervision hinzugezogen werden soll. (vgl. Fegert K. K., 2018, S. 5f.)

2.2. Möglichkeiten für Inhalte eines Schutzkonzeptes

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Schutzkonzepte als Prozesse vor Ort (Schröer, 2018, S. 30)

Der inhaltliche Fokus der oben beschriebenen Schutzkonzepte liegt sowohl auf der Primärprävention und Intervention, als auch auf der Aufklärung über die Risiken digitaler Medien und Sexualkundeunterricht Wichtige Grundaspekte sind diverse Prozesse der Analyse, wie beispielsweise einer Gefährdungsanalyse, Prävention, Intervention und die Aufarbeitung eines aufgetretenen Falles. (Schröer, 2018, S. 31)

Wie bereits erwähnt gibt es kein universelles Schutzkonzept. Bedeutsam ist es, dieses individuell an die Schule bzw. die Einrichtung anzupassen. Allerdings gibt es einige Empfehlungen für Inhalte, die für ein umfassendes Schutzkonzept fundamental sind. Solche Empfehlungen sind unter anderem ein Leitbild der Organisation, das die Ziele kurz zusammenfasst und das Thema sexualisierte Gewalt sowie den Schutz der SchülerInnen vor ebensolcher verankert. Ein solcher Vermerk im Leitbild der Schule bezieht einen klaren Standpunkt und kann dazu beitragen, Übergriffe zu vermeiden.

Ein Verhaltenskodex, der auch Verhaltensleitlinien formuliert und den MitarbeiterInnen eine Hilfestellung gibt, wie grenzachtend mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet werden kann. Hier können auch Vereinbarungen festgehalten werden, wie mit Nähe und Distanz umgegangen werden sollte. Der Verhaltenskodex schützt Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt sowie gleichzeitig die MitarbeiterInnen vor falschem Verdacht.

A rbeitsvertragliche Regelungen, die von neuen Kollegen eingehalten werden müssen, wie zum Beispiel eine Einreichung eines erweiterten Führungszeugnisses oder eine Selbstverpflichtungserklärung, die gelesen und unterschrieben werden muss, sind ebenfalls empfehlenswert und in ein Schutzkonzept einzufügen.

Essenziell sind außerdem regelmäßige Fort- und Weiterbildungen für die MitarbeiterInnen, um das Bewusstsein der Thematik zu stärken und Handlungsabläufe zu verfestigen. Es sollte zunächst Basiswissen über sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen vermittelt werden, da dadurch für die Relevanz dieses Themas sensibilisiert wird. Darauf aufbauend kann dann vermittelt werden, was sexuelle Gewalterfahrungen mit Kindern und Jugendlichen psychisch macht, welche rechtlichen Grundlagen es gibt, wie die statistischen Werte zu den Betroffenen sind, welche TäterInnen es gibt und welche Motive diese haben könnten. Außerdem sollte behandelt werden, welche Strategien TäterInnen anwenden, wie die Betroffenen die Tat erleben und aus welchen Gründen es ihnen oft schwerfällt, sich Unterstützung zu holen und letzten Endes, wie im Akutfall zu handeln ist. Wenn die pädagogischen MitarbeiterInnen einer Schule diesbezüglich aufgeklärt sind, können sie sich aktiv an der Entwicklung des Schutzkonzeptes beteiligen. Außerdem spüren die SchülerInnen, dass sie sich an das Lehrpersonal wenden können, da dieses sich der Thematik bewusst ist. Auch hier sollte nicht nur eine einmalige Fortbildung stattfinden, sondern es sollte Raum für Regelmäßigkeit geschaffen werden, sodass alle MitarbeiterInnen die gleichen Wissensgrundlagen und somit auch Handlungsfähigkeit besitzen.

Es ist zudem elementar, dass alle Beteiligten (MitarbeiterInnen, Kinder und Jugendliche, Eltern, Ehrenamtliche) eine Möglichkeit der Partizipation erhalten. Dies sollte sowohl während der Erstellung des Schutzkonzeptes, aber auch im Prozess der Anwendung verfolgt werden, da dies das Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen verringern kann. Werden SchülerInnen in Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen, werden sie sich zum einen der Thematik bewusst und können zum anderen im Ernstfall die Situation eher kritisch hinterfragen. Für die Eltern eignen sich Informationsveranstaltungen sehr gut, um diese über die Entwicklung des Schutzkonzeptes zu informieren und sie daran teilhaben zu lassen.

Aus dem Aspekt der Partizipation heraus empfiehlt es sich auch, ein Beschwerdeverfahren einzuführen. Hier können Ansprechpartner, wie zum Beispiel ein/e VertrauenslehrerIn, ein/e SchulpsychologIn oder ein/e SchulsozialarbeiterIn innerhalb der Schule benannt werden, an die sich sowohl MitarbeiterInnen, als auch die SchülerInnen im Falle sexueller Gewalt wenden können. Auch externe Ansprechstellen und deren Kontaktinformationen sollten für alle zugänglich gemacht werden, damit sich in Notlagen an sie gerichtet werden kann. Wichtig ist, dass sowohl den SchülerInnen, als auch den MitarbeiterInnen vermittelt wird, dass ihre Beschwerden ernst genommen werden und sie Probleme und Beobachtungen immer äußern können. Es sollten stets mehrere Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme bestehen, beispielsweise eine persönliche Ansprechbarkeit, Sprechstunden, Kummerkasten, E-Mail, etc.

Für die MitarbeiterInnen ist es außerdem sinnvoll, einen schriftlichen Notfallplan zu erstellen, der als Leitfaden dient, wie in einem Verdachtsfall vorzugehen ist. Eine Kooperation mit einer externen Fachberatungsstelle, die im Akutfall benachrichtigt und hinzugezogen werden kann, ist ebenfalls erwägenswert und in die Planung eines Schutzkonzeptes einzubeziehen.

Ein Aspekt, der auf keinen Fall außer Acht gelassen werden sollte ist das Konzipieren von Präventionsangeboten für SchülerInnen. Dies ist oft sehr umfangreich und muss an die verschiedenen Altersstufen angepasst werden. Neben dem Präventionsangebot ist auch ein sexualpädagogisches Konzept zu gestalten, damit die SchülerInnen lernen, über Sexualität zu sprechen, sich ihrem eigenen Körper bewusst zu werden und ihre eigenen Grenzen kennen zu lernen. (vgl. UBSKM, 2020; Schule gegen sexuelle Gewalt Baden Württemberg, 2020)

Die oben genannten Empfehlungen des UBSKM, die in die Entwicklung eines Schutzkonzeptes aufgenommen werden sollten, sind ebenfalls Bestandteile der Überkategorien, aus denen sich ein Schutzkonzept zusammenstellt. Sie lassen sich also der Prävention, der Intervention und der Aufarbeitung zuordnen, worauf detailliert in den folgenden Kapiteln eingegangen wird. Neben diesen drei wesentlichen Aspekten eines Schutzkonzeptes sind außerdem die Prozesse einer Gefährdungsanalyse für die Erstellung eines Konzeptes von großer Bedeutung. (siehe Abb.1)

2.2.1. Gefährdungsanalyse

Eine Risiko-, bzw. Gefährdungsanalyse ist im Prozess der Erstellung eines Schutzkonzeptes unabdingbar, da sie als Wissensgrundlage dient. Ausgehend von den Ergebnissen der Analyse soll das Schutzkonzept erstellt werden. Die Gefährdungsanalyse steht deswegen oft am Anfang der Schutzkonzeptentwicklung. Um Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen, muss sich die Einrichtung bewusst machen, wo anfällige Stellen für Gefahren vorliegen. Dies gilt zum einen für die Räumlichkeiten, zum anderen aber auch in welchen Situationen das Nähe-Distanz-Verhältnis nicht eingehalten werden kann, wo die Intimsphäre der SchülerInnen verletzt werden kann und welche Gelegenheiten es für sexuelle Übergriffe geben könnte. Der Sinn der Gefährdungsanalyse besteht darin, Fehler zu erkennen und Verbesserungsmöglichkeiten zu erarbeiten (Fegert K. H., 2018) und darin, die Einrichtung besser zu verstehen. Die zwei zentralen Ziele von Schutzkonzepten (siehe 3.1.) beinhalten sowohl, dass die Schule nicht zum Tatort und SchülerInnen vor sexueller Gewalt geschützt werden sollen, als auch, dass die Schule ein Kompetenzort sein soll, an dem Kinder und Jugendliche Hilfe im Falle von sexueller Gewalt finden können. Dementsprechend werden zu diesen zwei Zielen auch zwei Fragestellungen formuliert, denen die Gefährdungsanalyse nachgehen sollte. Um die Schule nicht zum Tatort werden zu lassen, muss den Fragen nachgegangen werden, welche Strukturen, räumliche Gegebenheiten, Situationen oder Gewohnheiten besondere Risiken für sexuelle Übergriffe bergen. Und um die Schule zu einem Kompetenzort machen zu können, muss in der Analyse untersucht werden, wie groß die Gefahr ist, dass SchülerInnen an dieser Schule keine Hilfe finden können oder gar nicht anfangen danach zu suchen. (vgl. Schule gegen sexuelle Gewalt Baden Württemberg, 2020)

Damit die Gefährdungsanalyse möglichst objektiv ausfällt und nicht von interner Betriebsblindheit beschönigt wird, sollte eine externe Beratung hinzugezogen werden, die hier unterstützend und aufdeckend wirken kann.

„Gefährdungsanalysen sind notwendig, damit alle AkteurInnen einer Organisation […] in einen Dialog über einrichtungsspezifische Gefährdungssituationen kommen und Organisationsentwicklungsprozesse zur Verwirklichung von höchstpersönlichen Rechten in Organisationen gelingen können.“ (Wolff, 2018, S. 79) Dieses Zitat verdeutlicht, wie wichtig es ist, bei einer solchen Analyse möglichst viele Beteiligte mit einzubeziehen und auch die SchülerInnen zu fragen, an welchen Orten oder in welchen Situationen sie sich unsicher fühlen.

Erst nach Abschluss einer solchen Gefährdungsanalyse, wenn also herausgearbeitet wurde, wo Gefahren entstehen können, welche einrichtungsspezifischen Prozesse zur Entwicklung der Schutzkonzepte benötigt werden, welche Ressourcen es bereits gibt und die Einrichtung besser verstanden wurde, ist der Grundstein für die Schutzkonzeptentwicklung gelegt. Nur durch ebendiese Erkenntnisse können darauf aufbauend Maßnahmen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung erarbeitet werden, da durch die Analyse erkannt wird, welche konkreten Methoden erforderlich sind.

2.2.2. Prävention

„Unter dem Begriff Prävention lassen sich jene Ansätze, Strategien, Maßnahmen und Programme zusammenfassen, die der Verhinderung des Auftretens eines vorab definierten Problems dienen bzw. dem Auftreten zuvorkommen.“ (Damrow, 2018, S. 647) Das von Damrow formulierte „vorab definierte Problem“ beschreibt in diesem Fall die sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen und eine damit einhergehende Kindeswohlgefährdung. Prävention ist ein grundlegender Baustein sowohl für Schulen, als auch für andere pädagogische Institutionen, um Kinder und Jugendliche vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Dies kann auf zwei Wegen geschehen: durch die Opferprävention oder die Täterprävention. (Damrow M. K., 2006, S. 58) Die Schule kann ihre Ergebnisse aus der Gefährdungsanalyse gezielt nutzen, um die Schule zu einem sichereren Ort zu machen und keinen Rahmen für sexuelle Gewalt zu bieten. Somit werden erste Präventivmaßnahmen getroffen. Wie auch für die Schutzkonzepte gilt es auch für die Prävention, dass es von großer Bedeutung ist, die Prävention als Bildungskonzept in den Schulalltag einzugliedern, sie auf allen Ebenen zu verankern und alle Beteiligten zu integrieren und zu informieren und sie nicht als Sonderereignis zu gestalten. (vgl. Oeffling, 2018, S. 205) Dies gilt auch wenn zusätzliche Sonderereignisse wie Theater, Expertenbesuche, etc. für die MitarbeiterInnen und vor allem für die SchülerInnen dennoch von großem Mehrwert sein können. Es gibt nach Caplan (1961) mehrere Kriterien, in welche die Prävention von Kindeswohlgefährdung unterteilt werden kann: Der Primärpräventive Ansatz soll mögliche erstmalige Übergriffe verhindern. Der Sekundärpräventive Ansatz soll laufende Gewalt schnellstmöglich unterbinden und beenden. Hingegen soll der Tertiärpräventive Ansatz sich mit den Folgen von sexueller Gewalt beschäftigen und dazu dienen, erneute Übergriffe zu verhindern. (vgl. ebd.) Synonym wird unter dem Präventionsbegriff der Primärpräventive Ansatz verstanden, wohingegen für den Sekundärpräventiven Ansatz der Begriff der Intervention verwendet wird. Für den Tertiärpräventiven Ansatz werden die Begriffe „Aufarbeitung“ und „Traumabehandlung“ genutzt, um Missverständnisse zu vermeiden und um eine klare Abtrennung der Begrifflichkeiten zu ermöglichen.

Präventionsmaßnahmen können außerdem in allgemeine Präventionsmaßnahmen und in spezifische Präventionsmaßnahmen unterteilt werden (RTKM, 2011, S. 22). Allgemeine Präventionsmaßnahmen beinhalten die empfohlenen Maßnahmen, die in einem Schutzkonzept enthalten sein sollten (siehe 3.2.). Hierzu zählen beispielsweise der Verhaltenskodex, Fortbildungen für das Personal, die Haltung des Trägers bezüglich der Thematik „Sexualisierte Gewalt“ und deren Verankerung in der Schule sowie die altersgerechte Information aller Beteiligten über die eben genannten Aspekte. (vgl. Oeffling, 2018, S. 207) Allgemeine Präventionsmaßnahmen beinhalten zudem sowohl Fragen des Personalmanagements (z.B. die Thematisierung bei Bewerbungsgesprächen, ein erweitertes Führungszeugnis, das Leitbild als Teil des Arbeitsvertrages, etc.), als auch das Pädagogische Konzept (siehe auch Spezifische Präventionsmaßnahmen) und das Beschwerdemanagement. Ein weiterer, bisher unbeachteter Teil der Allgemeinen Präventionsmaßnahmen findet sich in der sogenannten „Disclosure-Bereitschaft“, die eine Schule erstreben sollte. „Unter Disclosure versteht man das erstmalige und absichtsvolle Berichten über erlebte sexuelle Gewalt oder anderes Unrechtserleben.“ (Oeffling, 2018, S. 222) Das Berichten fällt Kindern und Jugendlichen oft schwer, weshalb die Schule Maßnahmen ergreifen sollte, um dies den SchülerInnen zu erleichtern, was beispielsweise durch feste AnsprechparterInnen, feste Orte und einem angemessenen, verfügbaren Wortschatz über Sexualität gestaltet werden kann. (vgl. ebd.)

Die Spezifischen Präventionsmaßnahmen enthalten die oben aufgezählten Inhalte, die aber individuell auf die jeweilige Einrichtung oder Schule angepasst werden. Außerdem zählt ein auf die Bedürfnisse der SchülerInnen abgestimmtes, sexualpädagogisches Konzept und die professionelle Gestaltung von Nähe und Distanz zu den Spezifischen Präventionsmaßnahmen. In der Gestaltung von Nähe und Distanz und dem Bewahren von persönlichen Grenzen und denen der SchülerInnen, sind gemeinsam beschlossene Vereinbarungen und Handlungsleitfäden hilfreich, um in einer Situation kompetent reagieren zu können. Die Bedürfnisse der SchülerInnen können je nach Altersstufe variieren, weshalb es ratsam ist, gemeinsam zu besprechen, in welcher Altersstufe, welche Situationen in Ordnung sind und welche es zu meiden gilt. (vgl. Oeffling, 2018, S. 224 f.)

In der Präventionsarbeit, die Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt schützen soll, ist ein passgenaues Sexualpädagogisches Konzept einer Schule die wichtigste spezifische Präventionsmaßnahme, die getroffen werden muss, denn wenn man etwas über Sexualität weiß und darüber sprechen kann, wirkt dies protektiv. Aus diesem Grund wird das Sexualpädagogische Kozept hier näher beleuchtet.

Auch im Sexualpädagogischen Konzept sollte Nähe und Distanz ein Thema sein und gemeinsam mit den SchülerInnen erarbeitet werden. Es sollte außerdem inhaltlich mit der Förderung von Selbstvertrauen, der Körperwahrnehmung der SchülerInnen, sowie der Selbstverteidigung und letztlich auch mit der Sexualerziehung selbst ausgestattet sein. (vgl. Kölch, 2018, S. 211 f.) Es gilt eine sexualitätsbejahende Sexualpädagogik einzunehmen (Deegener, 2013) und den SchülerInnen zunächst ein postitives Bild von Sexualität näher zu bringen, das Thema zu enttabuisieren und ihnen fachlich fundierte Informationen diesbezüglich auf den Weg zu geben. Erst wenn die SuS ein positives Verhältnis zur Sexualität haben, kann das Thema Sexuelle Gewalt, unter Abgrenzung von positiver Sexualität, erarbeitet werden. (vgl. Schule gegen sexuelle Gewalt Baden Württemberg, 2020)

Deegener (2013) hat Faktoren eines sexualpädagogischen Konzeptes herausgearbeitet, die sich positiv auf die Prävention vor sexueller Gewalt auswirken:

Zunächst sollte Sexualpädagogik institutionell verankert sein, da dies die SchülerInnen darin unterstützt, ihren eigenen Körper kennen zu lernen, ihre Körperteile zu benennen, eine angemessene Sprache für Sexualität zu erlernen und sich ein gefestigtes Körperbild aneignen zu können. Sie lernen in diesem Kontext über ihre eigenen Gefühle und damit verbundene Situationen zu sprechen und suchen sich dadurch eher Hilfe, wenn sie in gefühlsbelastende Situationen kommen. Wenn im Alltag über Sexualität gesprochen wird, fördert dies das Vertrauen zu den Lehrkräften und erhöht die Chance mit ihnen auch über schwierige Themen sprechen zu können. Sowohl für das Lehrpersonal, als auch für die Kinder und Jugendlichen ist es bedeutsam zu wissen, welches Verhalten in welchem Alter angemessen ist, damit Grenzverletzungen besser eingeordnet werden können. Sexualpädagogik fördert außerdem, dass die SchülerInnen sich über ihre eigenen Werte, Vorstellungen und Wünsche in Bezug auf Partnerschaft und Sexualität Gedanken machen. Außerdem sollte sich mit sexualisierter Sprache und Vorkommen in den Medien und in Pornografie auseinandergesetzt werden, damit die Heranwachsenden dies reflektieren können und auch für verbale Übergriffe sowie ihr eigenes Verhalten sensibilisiert werden. Wenn über Sexualität in den verschiedenen Erscheinungsformen inklusive der Schattenseiten gesprochen werden kann, entstehen Möglichkeiten mit den Lernenden über Themen wie Mobbing, Schönheitsideale, Rollenbilder, Chats, Privatsphäre und Pornos zu sprechen und sie mit diesen Problemen nicht alleine zu lassen.

Abschließend sollte zu dem Bereich der Prävention erwähnt werden, dass sich der Fokus der Präventionsarbeit zwar auf die Kinder und Jugendlichen und die Struktur der Institution legt, aber dennoch alle Beteiligten gleichermaßen in die Maßnahmen der Prävention eingebunden werden sollten.

Kinder und Jugendliche sollten also über ihre Rechte informiert werden, altersgerechte Informationen erhalten, eine adäquate, geschlechtersensible Sexualerziehung erfahren und darüber informiert werden, dass Erwachsene immer die Verantwortung übernehmen sollten sowie in Beschwerdemaßnahmen eingegliedert werden.

Die MitarbeiterInnen sollten Fort- und Weiterbildungen erhalten und Prävention als pädagogische Haltung in ihre alltägliche Arbeit einbinden. Klare Regeln und Strukturen helfen dabei, die persönlichen Grenzen einzuhalten.

Die Leitungspersonen sollten Verantwortung für die Vervollständigung der präventiven Strukturen übernehmen und dies als Handlungsgrundsatz der Schule festlegen. Außerdem müssen sie die strukturellen Rahmenbedingungen schaffen, das Personalmanagement überdenken und ein klare Strategien entwickeln, wie das Thema sexuelle Gealt in der Schule angesprochen wird. Sie haben eine Vorbildfunktion und müssen für eine Permanenz im Bereich der Prävention sorgen.

Auch die Eltern spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, da sie darüber informiert werden müssen, was zum Schutz ihrer Kinder getan wird. Hier sind Austauschrunden und Informationsabende sinnvoll, damit auch eine Zusammenarbeit mit den Eltern oder Erziehungsbeauftragten ermöglicht werden kann. (vgl. Oeffling, 2018, S. 210 f. )

Trotz all dieser präventiven Faktoren, bleibt das Machtungleichgewicht zwischen Kindern und Erwachsenen immer bestehen. Es können auch nicht immer alle Kinder mit Präventionsangeboten erreicht werden, weswegen ein Vorfall trotz präventiver Bemühungen nie ganz ausgeschlossen werden kann. Aus diesem Grund sind für umfangreiche Schutzkonzepte auch Interventionsmaßnahmen notwendig. (vgl. Tschan, 2018, S. 202)

2.2.3. Intervention

Prävention ist, selbst wenn sie noch so gut durchdacht ist, konzipiert und in den Alltag integriert, kein hundertprozentiger Schutz für Kinder und Jugendliche. Aus diesem Grund ist es notwendig, im Rahmen des Schutzkonzeptes auch Interventionsmaßnahmen zu fixieren. Der Begriff Intervention beinhaltet, was in einem Verdachtsfall oder einer akuten Gewalthandlung getan werden muss. Intervention tritt erst in den Vordergrund, wenn ein konkreter Fall eintritt und direktes Handeln erforderlich ist. (vgl. Winter, 2018, S. 242)

Die Ziele der Interventionsmaßnahmen bestehen darin, den bestehenden Verdacht schnellstmöglich zu überprüfen und zu klären und wenn sich der Verdacht belegen lässt, den Missbrauch so bald wie möglich zu beenden. Der Betroffene benötigt ein angemessenes Hilfsangebot und einen langfristigen Schutz vor weiteren Übergriffen und auch für alle anderen Beteiligten ist es notwendig, Unterstützung zu gewährleisten. (vgl. Oppermann, 2018, S. 248)

„Es ist unerlässlich die Intervention als unabhängigen Aufgabenbereich in Schutzprozessen zu betrachten. Intervention darf nicht in Abhängigkeit zur Präventionsarbeit stehen, sondern muss eigenständig konzipiert und betrachtet werden.“ (Winter, 2018, S. 242)

Wie eigentlich in allen Bereichen der Schutzkonzeptentwicklung ist es auch bei der Intervention wichtig, dass alle Beteiligten der Institution gemeinsam an der Entwicklung der Maßnahmen arbeiten. Des Weiteren soll der Interventionsplan ebenfalls einen konkreten Handlungsleitfaden beinhalten, um die Handlungssicherheit der MitarbeiterInnen auch in einer emotionalen Ausnahmesituation gewährleisten zu können. Die Interventionsmaßnahmen müssen vor dem Eintreten eines Falles in der eigenen Institution konzipiert werden und sollten klare Aufgabenverteilungen und Zuständigkeiten formulieren, damit Wesentliches nicht in der Krisensituation in Vergessenheit gerät. Der Plan sollte außerdem alle potenziellen Beteiligten, sowohl mittelbar Beteiligte als auch unmittelbar Beteiligte, einplanen und formulieren, wie jeweils mit den verschiedenen Parteien umgegangen werden muss. Im Interventionsplan muss außerdem unterschieden werden, mit welchen Formen sexueller Gewalt die Schule konfrontiert sein kann. Sexuelle Übergriffe können zum einen von MitarbeiterInnen an einem Kind der Institution begangen werden oder auch von SchülerInnen an anderen SchülerInnen stattfinden und kann zum anderen auch außerhalb der Schule begangen werden, wiederum in der Schule bemerkt werden. (vgl. Oppermann, 2018; Fegert K. H., 2018)

Der RTKM (2011) formuliert als Orientierungshilfe einen gestuften Interventionsplan in dem Mindeststandards benannt werden, die in einem Interventionsplan vorhanden sein sollten. In diesem Handlungsplan sollten die Verantwortlichkeiten der jeweils Beteiligten (Betroffene, Eltern, Lehrpersonal, Leitung, FSJ, etc.) klar ausgesprochen und zugeteilt werden. Auch eine Infrormation darüber, auf welchen Wegen sie angemessen beteiligt werden und wie die Selbstbestimmungsrechte des Betroffenen aufrecht erhalten bleiben können, sollte enthalten sein. Es sollte außerdem festgelegt werden, in welchen Fällen und bei wem eine externe beratende Fachkraft hinzugezogen werden sollte und wer diesbezüglich kontaktiert werden kann (Psychologe, Insoweit erfahrene Fachkraft, Krankenhaus, etc.). Sofortmaßnahmen müssen notiert werden und konkret benannt werden; auch wann diese eingesetzt werden müssen. Da die Schule einer Meldepflicht unterliegt ist es außerdem notwendig zu verschriftlichen, wer informiert werden muss (Jugendamt, Aufsichtsbehörden, Eltern, etc.). Hierbei sind die datenschutzrechtlichen Bedingungen dringend zu beachten und sollten ebenfalls explizit und verständlich im Interventionsplan vorhanden sein. Wann die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet werden müssen, sollte ebenfalls in der Einrichtung diskutiert und fixiert werden, wobei die Wahrung des Schutzes des Betroffenen an erster Stelle steht und eine entsprechende Situation immer gründlich durchdacht werden sollte. Letztlich sollte ein genaues Dokumentationsverfahren erarbeitet werden, damit der Fall möglichst genau nachvollzogen werden kann. (vgl. RTKM, 2011, S. 23 f.)

Da jeder Vorfall verschieden ist und eigene Dynamiken und Verhältnisse mit sich bringt, ist es ausschlaggebend, dies auch in der Entwicklung der Interventionsmaßnahmen zu berücksichtigen und den Handlungsplan nicht zu pauschalisieren, sondern Raum für Flexibilität zu lassen und deren Notwendigkeit auch zu betonen. Es muss den Beteiligten bewusst sein, dass der Handlungsplan als Orientierungshilfe dienen soll, nicht jedoch als allgemeingültiges Schema, das in jedem Fall gleichermaßen funktioniert. Er muss an die jeweilige Situation angepasst werden.

Grundsätzlich sollte jedoch in jedem Fall von Verdacht oder sogar bestätigtem Verdacht auf sexualisierte Gewalt, der Schutz des Betroffenen an erster Stelle stehen. Ihm sollten sofortige Unterstützung, Trost und eventuell professionelle Hilfe angeboten werden. Erst im Anschluss daran können weitere Maßnahmen folgen, die allerdings nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Denn der Vorfall muss an die Leitung der Schule weitergeleitet werden, da diese die Verantwortung für den Gesamtvorgang übernimmt. Zudem muss der Vorfall muss dokumentiert werden, wobei alle Informationen wie Beobachtungen, Aussagen und persönliche Daten des Kindes verschriftlicht werden müssen. Außerdem muss der Verdacht bewertet werden, damit die Situation besser eingeschätzt und entschieden werden kann, ob und welche weiteren Handlungsschritte folgen müssen.

Bei der Bewertung des Verdachts muss zunächst unterschieden werden, ob der Verdacht vage bleibt, ob es sich als hinreichend konkreter Verdacht erweist oder ob der Verdacht sogar ausgeräumt werden kann. Je nach Bewertung des Verdachts müssen andere Maßnahmen ergriffen werden. Ein vage bleibender Verdacht tritt dann auf, wenn dieser nicht bestätigt oder widerlegt werden kann, wenn die Aussage des Betroffenen gegen die Aussage des Verdächtigten steht und dies nicht aufgeklärt werden kann oder wenn der Verdacht ein Resultat von Gerüchten ist. (vgl. Winter, 2018, S. 244 f.) Bei einem vage bleibenden Verdacht sollte der Betroffene jedoch weiterhin geschützt werden und beaufsichtigt werden. Parallel sollte der Verdächtigte über die möglichen Konsequenzen informiert werden, mit denen er im Falle einer Bestätigung des Verdachts rechnen muss. Allerdings sollte der Verdächtigte nicht übermäßig belastet oder beschuldigt werden. (vgl. Zinsmeister, 2018, S. 58)

Wenn konkrete Beobachtungen vorliegen oder mehrere SchülerInnen über einen Vorfall sexueller Gewalt berichten, kann der Verdacht als hinreichend konkret bewertet werden. Dann sollte ein Krisenteam eingerichtet werden, das sich die Aufgaben erneut aufteilt, den Betroffenen betreut und ihn von dem/der TäterIn fern hält, gegebenenfalls die Eltern oder Vormünder informiert, das Vorgehen dokumentiert und eventuell Öffentlichkeitsarbeit leistet. Falls der/die TäterIn ein/e MitarbeiterIn der Einrichtung ist, müssen hier arbeitsrechtliche Schritte, wie beispielsweise eine Kündigung vollzogen werden. (vgl. ebd.) Die Handlungsschritte, die in einem konreten Verdachtsfall erfüllt werden sollten, wurden in der Handlungsorientierung des RTKM schon ausführlich beschrieben.

Bei nachweislich falschen Verdächtigungen und bei Beweisen, die bezeugen, dass die Tat entweder nicht stattgefunden hat oder der Verdächtigte nicht der Täter war, wird der Verdacht ausgeräumt. (vgl. Winter, 2018, S. 245) Sobald dies herausgefunden wurde, müssen die Dokumente vernichtet werden; alle Stellen, die über den Verdacht informiert wurden, müssen auch über den ausgeräumten Verdacht in Kenntnis gesetzt werden. Im Falle einer zuvor stattgefundenen Suspendierung eines verdächtigten Mitarbeiters, muss geprüft werden, ob dieser wieder eingestellt wird. Zudem ist es von großer Bedeutung für das Schulklima, dass das gebrochene Vertrauen zwischen den Beteiligten wieder hergestellt wird. Falls dies nicht ausreichend möglich sein sollte, kann einem zuvor verdächtigten Mitarbeiter ein Stellenwechsel vorgeschlagen werden. (vgl. Oppermann, 2018, S. 260 f.)

Das folgende Ablaufschema veranschaulicht die einzelnen Handlungsschritte sehr gut und bietet sich, auf die jeweilie Schule oder Einrichtung angepasst, auch als Aushang an, damit die Handlungsschritte immer für alle MitarbeiterInnen präsent und sichtbar sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Ablaufschema zum Vorgehen bei Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch (Oppermann, 2018, S. 256)

Zusammengefasst sollten also folgende Verhaltensstandards in einem Verdachtsfall oder einem akuten sexuellen Missbrauch beachtet werden: Man sollte Ruhe bewahren, sorgfältig dokumentieren, die Wünsche des Kindes beachten, Verantwortung übernehmen und Spezialwissen in Anspruch nehmen.

2.2.4. Aufarbeitung

Wie schon erwähnt besteht ein umfangreiches Schutzkonzept sowohl aus der Gefährdungsanalyse, aus den Präventions- und Interventionsmaßnahmen und letztlich auch aus dem Bereich der Aufarbeitung, welcher an dieser Stelle der Ausarbeitung näher beleuchtet werden soll. Aufarbeitung wird dann benötigt, wenn es in einer Schule zu Vorfällen von sexualisierter Gewalt oder Grenzverletzungen gekommen ist. Das Ereignis muss dann sowohl individuell als auch institutionell aufgearbeitet werden. Das bedeutet, dass das Leid des Betroffenen geachtet wird, dass Verantwortung vonseiten der Schule für Fehlverhalten übernommen wird und aus dem Vorfall Konsequenzen gezogen werden, damit dies nicht mehr oder nur erschwert vorkommen kann. (vgl. Enders, 2018, S. 300 f.) Die Aufarbeitung von geschehenen Fällen kann in „Altfälle“ und in aktuelle Fälle unterteilt werden. Da „Altfälle“ schon lange zurückliegende, oft verjährte Fälle von sexuellem Missbrauch untersuchen, die häufig vor der eigentlichen Erstellung der Schutzkonzepte an einer Institution stattgefunden haben, wird die Aufarbeitung der „Altfälle“ in dieser Ausarbeitung nicht weiter erwähnt.

Aktuelle Fälle kennzeichnen sich dadurch, dass die Gewalthandlungen vor weniger als fünf Jahren geschehen sind und dass sich entweder unmittelbar oder mittelbar betroffene Kinder und Jugendliche, MitarbeiterInnen und das Leitungspersonal weiterhin an der Schule befinden oder diese weiterhin besuchen. (vgl. Enders, 2018, S. 301 f.)

„Unter nachhaltiger Aufarbeitung aktueller Fälle sexualisierter Gewalt versteht man einen langfristigen zukunftsorientierten Prozess, der auf zwei Ebenen stattfindet: Eine unabhängige juristische und sozialwissenschaftliche Untersuchung wird als Basis für eine prozessorientierte Aufarbeitung innerhalb der Institution genutzt.“ (Oppermann, 2018, S. 291)

Die juristischen und sozialwissenschaftlichen Begutachtungen bieten eine Möglichkeit für externe, professionelle Unterstützung der Aufarbeitungsphase und können dadurch, dass sie unabhängig von der Institution sind, die vorhandenen Dynamiken besser und objektiver untersuchen und überprüfen, welche Auswirkungen die Gewalthandlung auf das Geschehen innerhalb der Schule hat. Sie können dazu beitragen straf-, arbeits- und dienstrechtliche Fragen zu untersuchen, können Folgeproblematiken der Gewalthandlung sowohl für die Betroffenen als auch für die Einrichtung feststellen, Hilfen vermitteln und Ressourcen der Institution auflisten, auf die dann strukturelle Änderungen folgen können. (vgl. Enders, 2018, S. 303)

Eine Juristische Begutachtung widmet sich strafrechtlichen, dienstrechtlichen, arbeitsrechtlichen und haftungsrechtlichen Fragen, denen sich die Schule nach einem aktuellen Fall stellen muss. Die Begutachtung wird oft von den Strafverfolgungsbehörden im Rahmen des Strafermittlungsverfahrens geleistet. (vgl. Enders, 2018, S. 303) Wenn es zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt, kann es sein, dass die Aufarbeitung des Falles für die Institution beschleunigt und erleichtert wird, da dann eine konkrete Beweislage vorliegt. Jedoch kann ein laufendes Verfahren auch die Prozesse der Aufarbeitung verlangsamen, wenn der Gedanke vorherrscht, dass keine weiteren Maßnahmen getroffen werden müssen, da der Täter für seine Tat bestraft wird. So wird die Schuld ausschließlich auf den Täter übertragen und mögliche Gefahrenzonen, die von der Schule ausgehen, werden übersehen, Strukturen und Dynamiken nicht verändert und Schutzkonzepte nicht erstellt.

Da das Strafverfahren jedoch eine sehr große Belastung für die Betroffenen darstellt, welches durch lange Zeugenaussagen, der Konfrontation mit dem Täter und dem Wiedererleben der Tat entsteht, wird in vielen aktuellen Fällen zum Schutz des Opfers auf ein solches Verfahren verzichtet. Dies dient auch dazu, sich vor der Öffentlichkeit zu schützen und die eigene Anonymität aufrecht zu erhalten und nicht als unglaubwürdig zu gelten. Denn häufig werden Minderjährige Zeugen oder Opfer als nicht glaubwürdig oder nicht umfassend genug eingestuft, sodass der Prozess eingestellt werden muss, was ebenfalls eine zusätzliche Belastung für den Betroffenen darstellt. (vgl. enders, 2018, S. 303)

Sozialwissenschaftliche Begutachtungen hingegen werden im Prozess einer Aufarbeitung häufiger durchgeführt, insbesondere wenn mehrere SchülerInnen der Einrichtung betroffen sind. Dieses Vorgehen ist nach Enders eine Voraussetzung für einen nachhaltigen und zukunftsorientierten Aufarbeitungsprozess. (Enders, 2018, S. 304) Für eine Sozialwissenschaftliche Begutachtung sollte das Team, welches diese durchführt, unabhängig von der Schule sein. Außerdem sollte die Schule kooperieren und ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, um eine möglichst ausführliche Untersuchung gewährleisten zu können. Die Betroffenen sollten ausschließlich von ausgebildeten Traumatherapeuten befragt werden, um deren Aussagebereitschaft zu erhöhen und sie vor traumatischen Flashbacks zu schützen. (vgl. ebd.) Die Sozialwissenschaftliche Begutachtung untersucht, ähnlich wie eine Gefahrenanalyse, wo die Fehler lagen, wie es zu einem solchen Fall kommen konnte, wie diese hätten verhindert werden können. Ebenfalls ist von Interesse, welche Auswirkungen es auf die Dynamik der Schule und für die Betroffenen hat.

In der Aufarbeitung eines aktuellen Falles sind jedoch nicht ausschließlich die oben beschriebenen Begutachtungen notwendig. Vielmehr muss dies auf allen Ebenen der Institution stattfinden. Die Leitung der Schule bzw. der Einrichtung trägt hier die Verantwortung für das Fallmanagement und koordiniert alle notwendigen Schritte, die für die Aufarbeitung relevant sind. Dieser Aufgabenbereich beinhaltet die Bereitstellung von Hilfe für die Betroffenen sowie die Vermittlung von externen Beratungs- und Therapieangebote. Wenn ein Strafermittlungsverfahren stattfindet, müssen die Betroffenen über die Möglichkeit einer juristischen Vertretung und einer sozialpädagogischen Prozessbegleitung informiert werden. Außerdem ist es ratsam eine Alternative für den Betroffenen zu finden, falls dieser die Schule nicht weiterhin besuchen kann oder möchte. Das Fallmanagement sollte die Rahmenbedingungen für die Aufarbeitung festlegen und den Aufarbeitungsprozess moderieren. Wenn ein Mitarbeiter der Einrichtung fälschlicherweise beschuldigt wurde, muss dieser rehabilitiert werden. Auch hier müssen mögliche Alternativen in Erwägung gezogen werden. Im Anschluss daran ist es erforderlich, Schutzkonzepte zu erstellen oder, wenn schon vorhanden, zu überarbeiten und weiter zu entwickeln und die Räumlichkeiten neu zu gestalten. (vgl. Enders, 2018, S. 306f.)

Ein Aufarbeitungsprozess einer Schule, an der ein Fall von sexuellem Missbrauch stattgefunden hat, gestaltet sich als sehr komplex, dauert oft mehrere Jahre an und erfordert externe Unterstützung. Oft überschneiden sich die Prozesse der Aufarbeitung und der Gestaltung der Schutzkonzepte, denn Aufarbeitung trägt immer auch einen präventiven Aspekt in sich. Eine gelungene Aufarbeitung ist der erste Schritt in die Richtung eines umfassenden Schutzkonzeptes oder einer Gefahrenanalyse und einer Präventionsmaßnahme.

2.2.5. Traumabehandlung: Umgang mit betroffenen Kindern

Bisher wurde das Thema Aufarbeitung von Fällen sexueller Gewalt ausschließlich institutionell betrachtet, nicht aber die individuelle Aufarbeitung. Sexuelle Gewalt oder sexueller Missbrauch hat Folgen, die sich enorm auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken können. (Siehe 2.4.) Wenn Kinder oder Jugendliche einen Missbrauch oder sexuelle Gewalt erlebt haben, werden sie oft professionell betreut und therapiert. Eine Traumatherapie durchzuführen fällt demnach nicht in das Aufgabengebiet der Lehrkräfte, da sie weder die Fähigkeiten noch die Kapazität besitzen, dies durchzuführen. Dennoch besuchen betroffene SchülerInnen weiterhin die Schule und benötigen auch dort Unterstützung und Schutz. Zu einem umfassenden Schutzkonzept bedarf es demnach auch Lehrkräfte, die traumapädagogische Kompetenzen erworben haben, um den SchülerInnen auch außerhalb der Therapie Unterstützung und Halt geben zu können. Trauma bedeutet, dass eine „seelische Verletzung vorliegt, die in Folge eines Ereignis eintritt, das eine unmittelbare Gefahr für das Leben und die körperliche und seelische Unversehrtheit der betroffenen oder einer anderen Person darstellt.“ (König, 2018, S. 60) Menschen mit einem Trauma befinden sich oft in einem Zustand von extremer Angst und Hilflosigkeit und sind dadurch in ihrem Handeln gehemmt, da sie sich in Situationen, die der traumatisierenden Situation ähneln, noch immer bedroht fühlen. Traumata können nicht ausschließlich durch sexuellen Missbrauch oder sexualisierte Gewalt entstehen, sondern können sehr vielfältige Ursachen haben, wobei hier das Trauma aufgrund sexualisierter Gewalt im Fokus stehen soll. Nicht selten wurde der Missbrauch oder die sexuelle Gewalt am Betroffenen von einer Person ausgeführt, die eine Bezugsperson darstellt und ihn eigentlich schützen und für ihn sorgen sollte. Dies ist sowohl der Fall, wenn die sexuelle Gewalt von einem Familienmitglied oder sogar von einem Mitarbeiter der Institution begangen wurde und zeigt, dass meist auch ein Bruch der Vertrauensebene und der Beziehung zwischen TäterIn und Opfer vorliegt. Die SchülerInnen müssen vor weiteren negativen Erfahrungen auf der Beziehungsebene, aber auch vor weiteren Übergriffen geschützt werden und benötigen Angebote, die sie bei der Bewältigung ihrer Erfahrungen unterstützen. Dies ist auch im pädagogischen Alltag an Schulen möglich und notwendig.

Nach König und Witte (König, 2018, S. 61f.) versteht man unter dem Begriff der Traumapädagogik verschiedene Arbeitsweisen und Methoden, die das Ziel haben, ein traumatisiertes Kind oder Jugendlichen im (Schul-) Alltag zu unterstützen, sie zu stabilisieren, ihr Wohlbefinden zu steigern und ihnen einen sicheren Ort zu schaffen, an dem sie sich entfalten können. Traumapädagogik grenzt sich von Traumatherapie ab, da sie nicht in einem zeitlichen Rahmen stattfindet, sondern Teil der alltäglichen Arbeit ist. Das Konzept der Traumapädagogik lässt sich oft auch als Grundprinzip an Schulen des Förderschwerpunktes Emotionale und soziale Entwicklung finden, da hier sehr häufig SchülerInnen mit traumatischen Erlebnissen aufgefangen werden und ihnen Schutz, Halt, positive Beziehungserfahrungen und Struktur geboten wird. Mithilfe traumapädagogischer Maßnahmen sollen soziale Kompetenzen weiterentwickelt werden, die Selbstwahrnehmung, Körperwahrnehmung und Sinneswahrnehmung der SchülerInnen gestärkt werden sowie die Emotionsregulation und die Selbstwirksamkeitserwartung geschult werden. (König, 2018, S. 62)

Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Traumapädagogik (Lang, 2011) setzt bestimmte Grundsätze voraus, die erfüllt sein müssen, um ein traumasensibles Umfeld an einer Schule gewährleisten zu können. Das Positionspapier (2011) bezieht sich zwar auf die stationäre Kinder- und Jugendhilfe, lässt sich jedoch ebenso auf das Umfeld Schule beziehen.

Grundhaltungen, die in der Arbeit mit traumatisierten SchülerInnen erforderlich sind, um sie sozial und emotional zu stabilisieren, ihren Selbstwert wieder aufzubauen und ihnen zu ermöglichen, Vertrauen zu sich und zu anderen Personen aufbauen zu können, sollten institutionell durchgängig erkennbar sein.

Die erste Grundhaltung ist „Die Annahme des guten Grundes“, welche beinhaltet, dass jedes Verhalten einen Grund und einen Sinn für den Betroffenen ergibt, auch wenn dies oft unbewusst geschieht. Dies wahrzunehmen, wertzuschätzen und auch zu reflektieren kann den Kindern und Jugendlichen helfen, sich dessen bewusst zu werden und eventuell andere Verhaltensweisen zu entwickeln.

Außerdem sollten die SchülerInnen „ Wertschätzung “ erfahren, bestärkt werden und die Möglichkeit erhalten ein positives Selbstbild zu erfahren. Es ist wichtig, dass nicht ausschließlich auf die Schwächen der jungen Menschen gesehen wird, sondern ihre Stärken wahrgenommen und bestärkt werden.

Eng mit der Wertschätzung ist auch die „ Partizipation “ verbunden, denn das Erleben von Autonomie, der eigenen Fähigkeiten und von Zugehörigkeit, kann die Lebensbedingungen von traumatisierten Jungen oder Mädchen deutlich verbessern, weshalb es wichtig ist, ihnen die größtmögliche Teilhabe zu gewährleisten.

Eine weitere Grundhaltung, die im Positionspapier erwähnt wird ist die Haltung der „ Transparenz “, denn oft haben traumatisierte Kinder und Jugendliche schlechte Erfahrungen mit Machtverhältnissen erlebt, weshalb es umso bedeutender ist, ihnen Erklärungsansätze für das Handeln der Lehrkraft verständlich zu machen.

„Spaß und Freude“ sollten im Alltag ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden, denn dies stellt das Gleichgewicht zwischen den Emotionen, welches bei belasteten Kindern oft nicht vorhanden ist, wieder her. Positive Erfahrungen steigern die Resilienz und die Serotoninausschüttung, was wiederum ein Gegengewicht zur stressbedingten Adrenalinausschüttung liefert. (Lang, 2011, S. 5 ff.)

Um die Ziele von traumapädagogischem Arbeiten, wie zum Beispiel die Förderung des Selbstverstehens, der Körper- und Sinneswahrnehmungen, der physischen und psychischen Widerstandsfähigkeit und der Selbstregulation zu erreichen, sind die oben genannten Grundhaltungen essentiell, um den SchülerInnen einen geschützten Rahmen bieten zu können. Weiter können Räumliche Maßnahmen ergriffen werden, welche das traumasensible Umfeld zusätzlich unterstützen. (Siehe 3.2.1 und 3.2.4.) Besonders wichtig in der Traumapädagogik ist es, immer den Unterschied zwischen Traumapädagogik und Traumatherapie zu beachten und zu wahren, da Traumapädagogik unterstützend zur Therapie wirken soll und diese nicht ersetzen kann.

3. Warum sind Schutzkonzepte an Schulen notwendig?

Die Schule bietet als Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche sehr viel Zeit ihres Lebens verbringen, einen Ort, in dem ein Schutzraum gestaltet werden kann und sollte. Außerdem kann hier ein regelmäßiger Zugang zu den Kindern und Jugendlichen gewährleistet werden. Schule hat nicht nur einen Bildungsauftrag, sondern auch einen Handlungsauftrag, wenn es um die Aufrechterhaltung des Kindeswohls geht. Diese Institution ist demnach auch rechtlich dazu verpflichtet, das Wohl des Kindes zu schützen. Somit tragen Schulen eine hohe Verantwortung und sind diesbezüglich besonders gefordert, sich für das Wohl ihrer SchülerInnen und Lehrkräfte einzusetzen und einen sicheren Raum zu schaffen, an dem Kinderrechte und Schutz vor sexueller Gewalt gewährleistet werden können.

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Titel
Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Einführung von Schutzkonzepten vor sexueller Gewalt an Schulen
Hochschule
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Note
2,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
61
Katalognummer
V903806
ISBN (eBook)
9783346193186
ISBN (Buch)
9783346193193
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schutzkonzepte, Sexueller Missbrauch, Baden Württemberg, Schule, Sexuelle Gewalt, Prävention, Intervention
Arbeit zitieren
Johanna Krell (Autor:in), 2020, Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Die Einführung von Schutzkonzepten vor sexueller Gewalt an Schulen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/903806

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