Text-Bildbeziehungen in Martin Baltscheits "Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor"


Masterarbeit, 2019

57 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 EINLEITUNG

2 DAS LITERARASTHETISCHE MEDIUM BILDERBUCH
2.1 WAS 1ST DAS BlLDERBUCH?
2.2 DIE GESCHICHTE DESBILDERBUCHS
2.3 BILDERBUCHER ZUR LITERARISCHEN UND BILDNERISCH MEDIALEN SOZIALISATION
2.4 ERZAHLFORMENIM BlLDERBUCH
2.4.1 Zum Schhfttext
2.4.2 Zum Bildtext
2.4.3 Zur Typografie
2.4.4 Zur Beziehung von Bild- und Schhfttext

3 VORSTELLUNG DES ANALYSEGEGENSTANDS
3.1 DerAutor- Martin Baltscheit
3.2 die geschichte vom fuchs, der den verstand verlor

4 METHODISCHES VORGEHEN - NARRATOASTHETISCHE BILDERBUCHANALYSE
4.1 DIE NARRATOASTHETISCHE BILDERBUCHANALYSE
4.1.1 Makroanalyse
4.1.2 Mikroanalyse - Textexterne Aspekte
4.1.3 Mikroanalyse - Textinterne Aspekte

5 ANALYSE - DIE GESCHICHTE VOM FUCHS, DER DEN VERSTAND VERLOR
5.1 Makroanalyse
5.2 Mikroanalyse - Textexterne Aspekte
5.2.1 Paratext
5.2.2 Matehalitdt
5.3 Mikroanalyse - Textinterne Aspekte
5.3.1 Schhfttext
5.3.2 Bildtext
5.3.3 Typografie
5.3.4 Interdependenzen von Bild und Text

6 FAZIT

7 LITERATURVERZEICHNIS

1 Einleitung

Schonungslos und raffiniert schildert er die Geschichte vom Fuchs, der vergisst, dass er ein Fuchs ist. Baltscheits grafischer Phantasie gelingt dabei das Unmogliche: den Verlust des Verstandes in Bilder zu iibersetzen und nichtzubelehren (vgl. Neue Ziiricher Zeitung, 2011, S. 1].

Bereits im friihen Kindesalter entsteht haufig der erste Literaturkontakt mit Bilderbiichern. Sowohl in der asthetischen, als auch in der literarischen und sprachlichen Sozialisation spielen Bilderbiicher eine bedeutende Rolle (vgl. Wildeisen, 2013, S. 3f.). Der einfachste Ansatz, beim Versuch ein Bilderbuch zu definieren, ist die Annahme, dass es sich aus Bildern und Texten zusammensetzt. Getrennt voneinander betrachtet, kann sowohl ein Schrifttext als auch ein Bildtext durch eine Erzahlung fuhren. Die Besonderheit des Bilderbuchs liegt hingegen im Zusammenspiel von Bildtext und Schrifttext (vgl. Thiele 2003b, S. 77). Je weiter die Bilderbuchentwicklung fortschreitet, desto haufiger werden diese Beziehungen und Strukturen von Bild und Text genauer untersucht (vgl. Oetken, 2017, S. 19). Es ist nicht alleinig das Kind, welches als Adressat der aktuellen Bilderbuchangebote Beachtung findet. Im zeitgenossischen Bilderbuch entstehen verschiedene Verstandnisebenen, die auf der einen Seite das Kind ansprechen sollen und auf der anderen Seite den erwachsenen Mit- oder Vorleser (vgl. Josting, 2013, S. 2).

Diese Arbeit soil die besonderen Beziehungen von Bild und Text im Bilderbuch „Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor" von Martin Baltscheit genauer untersuchen. Wie dem vorangehenden Zitat dieser Einleitung zu entnehmen ist, lasst die Betrachtung des Bilderbuchs eine Text-Bild Beziehung vermuten, die von besonderer Qualitat ist. Herauszufinden, mit welchen Mitteln es Martin Baltscheit gelingt, in seinem preisgekronten Buch das Zusammenspiel aus Bildtext und Schrifttext zu gestalten, soil als iibergeordnete Zielsetzung dieser Arbeit betrachtet werden. Dazu wird im Folgenden der Aufbau der Arbeit kurz dargelegt und begriindet.

Im Anschluss an diese Einleitung folgt ein umfassendes Kapitel zum literarasthetischen Medium Bilderbuch. Darin gilt es zu erlautern, was unter dem Begriff des Bilderbuchs verstanden wird und wie sich die Entwicklung bis zum heutigen Verstandnis vollzogen hat. Welche Funktionen Bilderbiicher ubernehmen konnen und durch welche Erzahlformen ihnen das gelingt, sind die weiteren Themen des zweiten Kapitels. Hier wird unter anderem dargestellt, wie das Zusammenspiel aus Bild- und Schrifttext im Bilderbuch gelingen kann. Im darauffolgenden dritten Kapitel wird das zur Analyse ausgewahlte Buch sowie dessen Autor und Illustrator kurz vorgestellt. Das vierte Kapitel stellt die Methode von Tobias Kurwinkel zur narratoasthetischen Bilderbuchanalyse vor. Hier wird der Fokus bereits auf die Werkzeuge zur Untersuchung der Beziehung von Bild- und Schrifttext in der anschliefeenden Analyse gelegt. Um Dopplungen im fiinften Kapitel zu vermeiden, wird sich dieses Kapitel auf die elementaren Bestandteile der Methode begrenzen. Die daran anschliefeende Analyse soil mithilfe der bereits erarbeiteten Erkenntnisse die Beziehungen von Bildtext und Schrifttext herausstellen. Im Fazit wird die iibergeordnete Zielsetzung noch einmal aufgegriffen und die dafur relevanten Schlussfolgerungen werden zusammengefasst.

Jens Thiele weist in seinen Werken mehrfach auf die vorliegende Forschungslage hin, die dem zeitgenossischen Bilderbuch nicht gerecht wird. In den meisten Veroffentlichungen liegt der Fokus bei der Bilderbuchbetrachtung noch auf der einfachen Annahme, dass ein Bilderbuch keine besondere Komplexitat aufweist. Das Kind wird haufig als einzige Adressatengruppe beachtet (vgl. Thiele, 2003a, S. 36). Jens Thiele liefert einen Grofeteil der aktuellen Literatur zur Bilderbuchforschung. Von 1997-2008 war er Direktor der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg und hat seinen Schwerpunkt in der Forschung dabei auf die Theorie und Asthetik des Bilderbuchs gelegt (vgl. Thiele, 2010-2019, S. 1). Diese intensive Auseinandersetzung seinerseits und das sonst mangelnde Angebot aktueller Forschungsliteratur zum Bilderbuch fuhren dazu, dass sich in vielen Teilen dieser Arbeit auf Jens Thiele bezogen wird. Ein weiterer viel zitierter Name dieser Arbeit ist der von Tobias Kurwinkel, der die aktuellste und umfassendste Methode zur Bilderbuchanalyse bereitstellt (vgl. Kurwinkel, 2017).

2 Das literarasthetische Medium Bilderbuch

2.1 Was ist das Bilderbuch?

Ein Bilderbuch ist gekennzeichnet durch ein Zusammenspiel aus Bild und Text. Dabei stellt das Bild mehr als die blofee Illustration des Textes dar (vgl. Uhlig 2009, S. 9). Die komplexe Wechselbeziehung aus Bildtext und Schrifttext verhelfen dem Bilderbuch dazu, als eine eigenstandige Untergattung in der Kinderliteratur anerkannt zu werden (vgl. Thiele, 2003a, S. 36). Anders als im illustrierten Kinder- oder Jugendbuch, welches meist Bilder mit einer ausschliefelich ausschmiickenden Funktion enthalt, iibernehmen die Bilder im Bilderbuch eine Eigenstandigkeit und treten nicht nur gemeinsam mit dem Schrifttext in Erscheinung, sondern ebenfalls als selbststandiger Handlungstrager (vgl. Kurwinkel, 2017, S. 14). Alteren Definitionen zufolge ist ein Bilderbuch fiir Kinder mit keiner, oder mit wenig Leseerfahrung geschrieben und illustriert worden. Die Texte darin sind kurz gehalten, ebenso wie die Seitenzahl. Dariiber hinaus gibt es eine Vielzahl von Bildern, wie es der Begriff des Bilderbuchs bereits vorgibt. Das Papier und der Einband sind meist robust gestaltet, um es vor groben Kinderhanden zu schiitzen (vgl. Kiinnemann & Miiller, 1984, S. 159).

Die Entwicklung des Bilderbuchs fordert eine deutliche Erweiterung dieser genannten Definitionsansatze, wobei diese trotzdem als Ausgangspunkt genutzt werden. Viele Bilder und wenig Text reichen nicht aus, um ein Bilderbuch heute angemessen zu charakterisieren. Es ist vielmehr die Wechselbeziehung von Bild und Text. Durch ihr Zusammenspiel bilden sich komplexe symbolische Gefiige, die das Bilderbuch facettenreich werden lassen. Thiele aufeert dazu: „Im erzahlenden Bilderbuch verbinden sich textliche und bildnerische Narration auf vielschichtige Weise zu einem Gesamttext. Erst in der Verzahnung und Durchdringung beider „Strange" entwickelt sich die „Sprache des Bilderbuchs"(vgl. Thiele, 2000, S. 230)." Als wichtiges Charakteristikum sind die beiden Kommunikationsebenen des verbalen und des visuellen festzuhalten (vgl. Nikolajeva & Scott, 2001, S.l).

Die Ebene des Textes iibernimmt dabei die Funktion zur Entwicklung einer Handlung. Das Bild erweitert und konkretisiert diese und schafft dariiber hinaus eine Atmosphare durch seine „zeigende" Qualitat (vgl. Thiele 2003b, S.78). Das unterstreicht den Wiedererkennungswert der Bilderbuchstruktur, die in dieser Form sonst dem Comic oder den Graphic Novels zugesprochen wird (vgl. Nikolajeva & Scott, 2001, S. 26).

Das zeitgenossische Bilderbuch hat seine Adressatengruppe erweitert, indem die immer offener und komplexer gestalteten Biicher auch Erwachsene ansprechen (vgl. Kurwinkel, 2017, S. 13). Die zunehmende Komplexitat lasst sich insbesondere am Seitenumfang, an den Themen, am Erzahlstil, sowie an den Bildern festmachen (vgl. Thiele, 2003b, S. 71). Um der bildnerischen Ebene mehr Gewicht zu verleihen und den Blick auf die Beziehung von Bild und Text zu lenken, wird heute von der Kategorie des Bildes gesprochen, anstatt den Begriff der Illustration zu verwenden. Diese Bezeichnung schliefst alle Formen bildnerischer Spielarten ein, und erkennt das Bild als eigenstandige, gleichberechtigte Erzahlform an. So fordert Thiele, " [...] die Arbeit des Illustrators der des freien Kiinstlers gleichzusetzen und den Prozess des Illustrierens als autonomen asthetischen Prozess wahrzunehmen" (vgl. Thiele 2003a, S. 38). Die Nominierungen fur den Deutschen Jugendliteraturpreis bestatigen die Beobachtung, dass der Seitenumfang der Bilderbiicher teilweise deutlich iiber 30 Seiten hinausgeht (vgl. Arbeitskreis fur Jugendliteratur e.V. (b), S. 1). Thiele fordert in dieser Weiterentwicklung des Bilderbuchs, dass die Orientierung am Kind und seiner alltaglichen Lebenswelt nicht aus dem Fokus gerat. Deutlich hebt er hervor, dass hiermit nicht gemeint ist, die Biicher moglichst einfach zu halten in Bild und Text. Ebenso wenig ist gemeint, dass die Biicher weniger komplex gestaltet werden sollen. Es geht vielmehr darum, Interessen und Themen einer kindlichen Lebenswelt aufzugreifen (vgl. Thiele, 2003b, S. 72). Der Bilderbuchautor und Illustrator Wilhelm Schlote aufsert passend dazu:

An dieser Stelle mulS ich sagen, dass ich es fur frevelhaft halte, eine Mauer zwischen Kinder- und Erwachsenenbiichern zu Ziehen. Ein gut gestaltetes Bilderbuch ist und mulS immer auch ein gut gestaltetes Erwachsenenbuch sein, d.h. es mulS den WertmalSstaben grafischer Qualitat standhalten und gerechtwerden (Schlote zit. nach Halbey 1997, S. 14].

In den hier aufgefuhrten Definitionsansatzen spiegelt sich die Stellung des Bilderbuchs im aktuellen Wissenschaftsdiskurs wider. Es wird zwar als ein immer komplexer werdender Gegenstand wahrgenommen, der sich durch seine Beziehung aus Bild und Text in verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft wiederfindet, eine Ware Verortung bleibt jedoch aus (vgl. Thiele & Hohmeister, 2007, S. 146). Thiele schreibt dazu, dass eine „systematische Theorieforschung zum Bilderbuch" seit den 60er-Jahren immer wieder nur in Ansatzen betrieben wurde und es deshalb bis heute ein dringendes Forschungsdesiderat darstellt (vgl. Thiele, 2003a, S. 36).

Thiele bemiiht sich dennoch um eine Abgrenzung verschiedener Bilderbiicher auf der inhaltlichen Ebene. Dabei grenzt er zuerst das Sachbilderbuch mit seinen realistischen Darstellungen vom erzahlenden Bilderbuch ab, welches wiederum fantastische Inhalte beherbergen kann. Themen, die sich an der Realitat orientieren, werden zumeist in Problembilderbuchern behandelt. Diese konnen sich mit gesellschaftlichen oder personlichen Konflikten befassen, die beispielsweise Gewalt, Krankheit, Tod oder aktuelle politische Themen zum Inhalt haben. In der Kategorie der problemorientieren Biicher ist in den letzten Jahren ein besonders grofser Aufschwung zu beobachten, der sich durch Werke zu sehr sensiblen Themen wie beispielsweise der Fluchtlingspolitik bemerkbar macht. Trotz dieser Bemuhungen der Kategorisierung sind haufig Vermischungen zu finden. Besonders von der Gesellschaft tabuisierte Inhalte werden mit der phantastischen Ebene vermischt, damit diese dem Kind vermeintlich schonender entgegengetragen werden konnen (vgl. Thiele, 2000, S. 237f.). Das Thematisieren der Kindgemafsheit im Bilderbuch wird hier nicht naher verfolgt, da der Rahmen dieser Arbeit dies nicht zulasst.

2.2 Die Geschichte des Bilderbuchs

Wahrend zur Theorie des Bilderbuchs ausschliefslich Ansatze aus verschiedenen Beitragen zusammengetragen werden konnen, ist die Geschichte des Bilderbuchs deutlich besser erforscht. Begonnen mit der Erfindung des Buchdrucks, entwickeln sich die ersten Biicher, die den Grundstein fur die Gattung des Bilderbuchs legen. Die beiden friih bestimmten Hauptcharakteristika des erzahlenden Bildes und des erzahlenden Textes machen das Bilderbuch bis heute aus (vgl. Thiele, 2003a, S. 12). Der Geschichte des Bilderbuchs soil unbedingt ausreichend Bedeutung beigemessen werden, da diese mafsgeblich fur das heutige Bilderbuch ist. „[...] Asthetikgeschichte mufs das Bilderbuch im Spannungsfeld okonomischer Bedingungen des Buchmarktes, kultureller und kiinstlerischer Stromungen sowie padagogischer und entwicklungspsychologischer Theorien erfassen" (vgl. Thiele, 2003a, S.12).

Uberwiegend richten sich die ersten bebilderten Biicher an Erwachsene. Das Kind wird haufig abgebildet, ist zu diesem Zeitpunkt aber nicht der Hauptadressat der Illustratoren (vgl. Thiele, 2003a, S. 19). Heute ist es eher das Kind, dem die Fahigkeit des Lesens noch nicht beiwohnt. Mit den Anfangen der Bilderbuchillustration war das Lesen konnen auch unter Erwachsenen keineswegs selbstverstandlich. Die ersten Bilderbiicher dienten daher dazu, denjenigen Erwachsenen Zugang zur Literatur zu ermoglichen, die nicht richtig oder gar nicht lesen konnten (vgl. Engelbert-Michel, 1998, S. 14). Auffallig ist bereits bei den ersten Abbildungen von Kindern in Biichern, dass die Illustrationen gepragt waren von Idylle. Die Darstellung von einer Welt, orientiert an der Realitat kam nicht vor. Stattdessen wurden alle Darstellungen harmonisch und vom Positiven dominiert gestaltet (vgl. Thiele, 2003a, S.19). Hauptsachlich wurden in dieser Zeit bestehende Marchen nachillustriert. Dabei meint nachillustriert, dass dem Text eine Illustration hinzugefugt wurde, die dem Text keine zusatzlichen Informationen hinzufugte (vgl. ebd. S. 20). Durch die Kommerzialisierung des Buchhandels und des Verlagswesens wurde das illustrierte Buch immer mehr zu einem Massenartikel. Die damals illustrierten Biicher hatten die Absicht, den Geschmack der grofsen Menge zu treffen und sind daher eher als zweckgebunden zu betrachten (vgl. Thiele, 2000, S. 234). Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sind erste Verbindungen zwischen der Kunst und der Kinderbuchillustration zu erkennen. Der in der Kunst vorherrschende Jugendstil wird zunehmend in die Illustration, insbesondere in die des Bilderbuchs ubernommen. Vorherrschend sind hier nach wie vor die Idylle und eine heile Welt. Nach und nach werden diesbeziiglich Forderungen der Reformpadagogen ernst genommen, so dass sich die Illustratoren im Laufe der Zeit mehr am Kind und seiner Lebenswelt orientieren. Trotzdem setzten sich hier erst einmal ausschliefslich Forderungen durch, die eine heile Welt prasentierten (vgl. Thiele, 2003a, S. 20). Diese Orientierung und Ausweitung geht einher mit der wachsenden Beliebtheit illustrierter Biicher in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Unter den verschiedenen Illustratoren entwickeln sich mit der Zeit Spezialisierungen, die ebenfalls dazu dienen, dass das Kind mehr in den Vordergrund riickt und zur eigenen Zielgruppe heranwachst (vgl. ebd. S. 18). Dem Kind wird nach und nach zugetraut, sich mit verschiedenen Stilarten und vielfaltigen Ausdrucksweisen auseinanderzusetzen. Durch die Veranderungen des Blickwinkels auf illustrierte Biicher und das Vordringen des kindlichen Rezipienten, entstehen Forderungen der Kunsterziehungsbewegung beziiglich des Anspruchs jener Biicher. Die Entwicklung bringt Biicher hervor, die nicht ausschliefslich nachillustriert sind (vgl. Hollstein, 1999, S. 26).

Mit dem zweiten Weltkrieg setzt sich eine Zeit fort, in der die Bilderbuchproduktion vorrangig gelenkt durch die Ideologie der Nationalsozialisten stattfand. Wahrend die Bilderbuchproduktion in Deutschland zu dieser Zeit nahezu still steht, entwickeln sich andere Lander wie die skandinavischen, Grofsbritannien, USA oder Polen zu solchen mit einer kiinstlerisch wertvollen Bilderbuchkultur. Das Kind riickt weiter in den Fokus und es entstehen mehr neue Werke, als altere nachillustriert werden.

Diese entstandene Kultur nimmt in den kommenden Jahren grofsen Einfluss auf die Weiterentwicklung des Bilderbuchs in Deutschland. Nach der Beendigung des zweiten Weltkriegs orientieren sich die deutschen Bilderbuchkiinstler im Westen an alteren Werken vor 1933. Es entstehen hier weniger Neuproduktionen, dafiir vermehrt Neuauflagen alterer Werke, dessen Illustrationen der Zeitangepasstwerden (vgl. Thiele, 2003a, S. 23f).

In der Mitte der 60er-Jahre erlebte das Bilderbuch einen Modernisierungsschub durch Einfliisse der Pop Art. Durch die Einfachheit und die seriellen Bilderreihen gibt es zu dieser Zeit vermehrt Bilderbiicher, die mehr und mehr das Alltagliche zum Gegenstand machen. Die bis dahin zumeist vorherrschende Idylle in den Biichern, wird zumindest teilweise durch alltagliche, die Kinder betreffende Themen abgelost. Vereinzelt kommt es um 1970 zur Produktion von Biichern, die sich bewusst auf die Ideen und die Haltung der antiautoritaren Bewegung stiitzen. Das Bilderbuch emanzipiert sich und wendet sich ab von den bisher traditionellen Vorstellungen, die nur wenig Spielraum in der Asthetik liefsen (vgl. Thiele, 2003a, S. 27 ff.).

Das zeitgenossische Bilderbuch ist laut Thiele (2003a, S. 203] charakteristisch mit dem Prozess einer Entgrenzung zu beschreiben. Mit dem Beginn der 80er-Jahre losen sich Genregrenzen und die Asthetik der Biicher wird experimentell. Neben der Gestaltung verandern sich die Adressaten. Wahrend in der bisherigen Entwicklung Bilderbiicher spezifisch an Kinder adressiert worden sind, werden nun weitere Mitleser, die Erwachsenen beriicksichtigt. Dem Kind werden mehr Fahigkeiten zugesprochen, als dies vorher der Fall war (vgl. Weinkauff & Glasenapp, 2010, S. 176). Diese Entwicklung geht aus der sich verandernden Wahrnehmung des Kindes hervor (vgl. Thiele, 2003a, S. 35). Das andert nichts daran, dass sich bis heute der grofste Anteil der Bilderbiicher speziell an Kinder richtet, die noch nicht lesen konnen, oder sich im Prozess des Lesenlernens befinden. Damit werden hauptsachlich Kinder im Alter zwischen zwei und acht Jahren angesprochen (vgl. Thiele, 2003b, S. 71.). Die seit den 90er-Jahren immer mehr in den Vordergrund riickende Kategorie der All-Age-Literatur umfasst Werke, die sich an Erwachsene sowie an Kinder richtet. Sie haben eine so genannte Doppeladressierung (vgl. Kurwinkel, 2017, S. 16). Neben der Integration zeitgenossischer Kunststile, bieten diese Biicher verschiedene Lesarten. Durch intertextuelle Beziige zu verschiedenen Medien und komplexe narrative Erzahlstrukturen ergeben sich mehrere Ebenen, auf denen das Buch gelesen, betrachtet und verstanden werden kann (vgl. ebd. S. 17). Diese Vielfalt, die sich im Laufe der Entwicklung des Bilderbuchs literarisch, kiinstlerisch und medial ergeben hat, macht das Bilderbuch zu etwas Besonderem (vgl. Thiele, 2003a, S. 15). Diese Besonderheit verdient laut Thiele (vgl. ebd. S. 36) ein deutlich intensiveres Forschungsinteresse, als es aktuell vorherrscht.

2.3 Bilderbucher zur literarischen und bildnerisch medialen Sozialisation

Die Wechselbeziehung zwischen Bild und Text und die damit verbundenen sinnlich-asthetischen Qualitaten von Bilderbiichern, ergeben eine Basis fur die asthetische Bildung. Zumeist handelt es sich um fiktive Geschichten, die die Besonderheit aufweisen durch Bild- und Textebene gleichzeitig erzahlt zu werden. Beide Ebenen lassen sich voneinander getrennt betrachten, entfalten sich allerdings erst ganzlich in der gemeinsamen Betrachtung und Beachtung. Dabei sind die Komplexitat und die Vielschichtigkeit, die sowohl der Text als auch das Bild bieten konnen ein Merkmal, welches das Bilderbuch so beziehungsreich macht (vgl. Wildeisen, 2013, S. 3f.).

Haufig sind Bilderbucher fur Kinder der erste Literaturkontakt (vgl. Thiele, 2000, S. 228 f.). Sie regen die asthetische Wahrnehmung an, da dem Bild, im Gegensatz zum illustrierten Kinderbuch, im Bilderbuch, eine eigene Bedeutung zugeschrieben wird. Es geht iiber die Ebene der Veranschaulichung des Schrifttextes hinaus (vgl. ebd. S. 229). Uber den ersten Literaturkontakt hinaus, bis weit in die Grundschulzeit hinein ist Bilderbiichern eine grofse Bedeutung zuzuschreiben. Neben den asthetischen, literarischen, narrativen und symbolischen Erfahrungen, die an ihnen erlebt werden konnen, bieten sie, im Gegensatz zu Film und Fernsehen, einen stehenden Charakter an. Da sich im Bilderbuch kein Bild und kein Text bewegt, ladt es dazu ein die Betrachtungsspanne zu erhohen. Wahrend die bewegten Bilder im Fernsehen oder im Film dies nicht zulassen, bieten Bild- und Schrifttext die Moglichkeit einer intensiveren Wahrnehmung und einer entdeckenden Auseinandersetzung am Gegenstand [vgl. Thiele, 2000, S. 238). Eine weitere Moglichkeit, die das Bilderbuch im Gegensatz zu bewegten Bildern bietet, ist die des wiederholten Erlebens. „Wiederholungen tragen dazu bei, das Gehorte und Gesehene zu verstehen und in den bisherigen Erfahrungsschatz zu integrieren sowie Sprache zu erwerben" (vgl. Bundesministerium fiir Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005, S. 184).

Aufgrund der Vielfaltigkeit des Bilderbuchs und seiner Ansassigkeit und Berechtigung in der Literatur, den bildenden Kiinsten und den visuellen Medien, ist es schwer, sein Bildungspotenzial genau zu definieren. Nach Ansatzen von Sabine Andresen (2016, S. 413f.) wird versucht das Bildungspotential in verschiedene Kategorien zu fassen. Wie bereits am Anfang des Kapitels erwahnt, bildet das Bilderbuch zuallererst eine Basis fiir die asthetische Bildung. Neben einem ersten Literaturkontakt bleibt der Kontaktmitverschiedenen Kunstformen nicht aus (vgl. Thiele, 2000, S. 228). Der Unterhaltungs- und Informationswert, sowie das Spiel mit der Neugierde der Kinder, ermoglichen einen aktiven und produktiven Umgang mit asthetischen Ausdrucksformen (vgl. ebd. S. 238). Thiele formuliert deutlich, dass das asthetische Potential von Bilderbiichern an den Schulen, insbesondere den Grundschulen, haufig ungenutzt bleibt. Er hebt hervor, dass die vielfaltigen Deutungspotenziale der Biicher ein symbolisches Vokabular zur Verfugung stellen, welches von den Kindern selbst als Ausdrucksmittel genutzt werden kann (vgl. ebd. S. 242). Bilderbiicher pragen in vielen Haushalten den Alltag mit Kindern. Insbesondere das Vorlesen hat eine positive Wirkung auf „informelle und familiare Bildungsprozesse", da die Kommunikation iiber Biicher zugleich einen Effekt auf die Bindung zwischen Vorleser und Zuhorer hat (vgl. Andresen, 2016, S. 413f.). Die Vermittlung von sozialen Normen oder Ritualen durch die Figuren, die Handlung oder die Themen in Bilderbiichern, ubernimmt das Bilderbuch eine weitere Funktion, die der sozialen Bildung zugeordnet wird [vgl. Thiele, 2000, S. 238). Kiinnemann (2005, S. 53) macht neben der asthetischen und der sozialen Bildung einen weiteren Punkt aus. Er bezieht sich dabei auf eine inhaltliche Ebene, die er aufgrund einer genauen fehlenden Definition als politische Bildung bezeichnet.

Wahrend die traditionellen Bilderbiicher immer weiter verdrangt werden, bilden sich nach und nach Themen als prasent heraus, die bisher tabuisiert wurden. Darunter fallen beispielsweise Themen wie Krankheit, Alter, Tod, Behinderung oder Scheidung. Solche Themen sind bisher vermieden worden, da sie gesellschaftlich nicht als kindgerecht empfunden wurden (vgl. ebd. S. 53f.). Doch insbesondere diese Themen weisen einen Lebensweltbezug auf, der nicht zu leugnen ist. Kinder kommen in ihrer Lebenswelt zwangslaufig mit Situationen in Beriihrung, die nicht gepragt sind von einer heilen Welt. Dies rechtfertigt bisher tabuisierte Themen, die sich durch ihre Nahe zur Lebenswelt der Kinder insofern auswirken, als das sie eine tiefere Auseinandersetzung mit den Bilderbiichern ermoglichen (vgl. Weis & Kraft, 2014, S. 12 zit. n. Buker, 2012). Weinkauff & Glasenapp (2010, S. 186) weisen auf die „erweiterte Sozialisationsfunktion" der Bilderbiicher seit den 80er- Jahren hin. Durch die Hinwendung zu immer komplexeren Beziehungen von Bild und Text wird die Bandbreite der asthetischen und literarischen Bildungspotentiale erhoht. Fur die Ausschopfung dieser Potenziale, muss dem Kind als Rezipient der Umgang mit den anspruchsvollen Biichern zugetraut werden (vgl. ebd.).

Die genannten Bildungspotenziale leisten fur Leseanfanger einen wesentlichen Beitrag zur Lesemotivation. Diese entsteht aus dem Zusammenspiel von Leseinteresse, Textverstehen und der Wirkung des Gelesenen auf den Leser (vgl. Plath & Richter, 2007, S. 8). Widerkehrend fehlt Kindern im Grundschulalter ein Zugang zur Schriftsprache. Das Zurechtfinden in visuell-asthetischen Bildwelten fallt diesen Kinder zumeist leichter. Ihnen wird vom Bilderbuch eine Moglichkeit geboten, mit dessen Hilfe eigene fiktive Geschichten zu erzahlen, ohne bereits iiber einen ausreichenden Zugang zur Schriftsprache zu verfugen (vgl. ebd. S. 9). Bilderbiicher ermoglichen Kindern ein asthetisches Lesevergniigen, dass nicht hinter den Anspriichen auf eine gewisse Komplexitat und Tiefe zuriickbleiben muss, wie es aufgrund ihrer geringeren Lesefahigkeit in rein schriftlich gehaltenen Texten notwendig ist. Die Forderung der technischen Lesefahigkeit und der dazu dienlichen Motivation kann gewahrleistet werden, bevor entsprechende Fertigkeiten im Bereich der Schriftsprache erworben sind. Diese entstehen parallel, ohne den Kindern einen Zugang zu bereits komplexeren literarischen Inhalten zu verwehren. Fur die Motivationsaufgabe des Literaturunterrichts erweist sich der Weg iiber das Bild, als eigenstandige narrative Einheit, zur Vermittlung differenzierter Inhalte als sinnvoll (vgl. ebd. S. 10). Dies zeigt sich auch darin, dass sich Kinder, wenn sie vor die Wahl gestellt werden, meist fur die Darstellungen entscheiden, die einen anspruchsvolleren Aufbau bieten. Diese wecken die Neugierde und veranlassen damit eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, die den asthetischen Bildungsprozess fordert. Sowohl die Lesemotivation, als auch das tiefere Verstandnis literarischer Texte, profitieren auf diese Weise vom Einsatz der Bilderbiicher (vgl. ebd. S. 11).

[...]

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Details

Titel
Text-Bildbeziehungen in Martin Baltscheits "Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor"
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,3
Jahr
2019
Seiten
57
Katalognummer
V906179
ISBN (eBook)
9783346232069
ISBN (Buch)
9783346232076
Sprache
Deutsch
Schlagworte
text-bildbeziehungen, martin, baltscheits, geschichte, fuchs, verstand
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Text-Bildbeziehungen in Martin Baltscheits "Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/906179

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