Edward Gibbons Araber - Herkunft, Bedeutung und Wirkung im Kontext des europäischen Orientbildes der Spätaufklärung


Hausarbeit, 1998

62 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Im Werk selbst
1.1 Die Wüstensöhne
1.2 Der arabische Prophet
1.3 Die adäquate Religion
1.4 Die Araber in Gibbons Modell

2. Im literarischen Kontext
2.1 Der Historiker als Literat?
2.2 Der Araber in der Literatur
2.3 Der Araber als politisch-philosophisches Motiv
2.4 social mask und Inszenierung

3. Im politischen Kontext
3.1 1776 bis 1788
3.2 Leben und Werk Gibbons
3.3 Barbarei und Revolution
3.4 Die Erfindung des Arabers und andere ideologische Produktionen

4. Exkurs: Geschichtskritische Betrachtung
4.1 Universalgeschichte als Problem
4.2 Gibbons historischer Wert
4.3 Epos und Quelle

5. Im Kontext abendländischer Fremdwahrnehmung
5.1 Passend zum modernen bürgerlichen Weltbild
5.2 Ungleiche Brüder: ein Vergleich mit Raynal
5.3 Zurück ins Mittelalter: Der Araber als Terrorist

Fußnoten

Literaturliste / Quellen

Einleitung

Nach Glasnost und der Auflösung des Sowjet-Systems im modernen Weltsystem1, das seit dem 16. Jahrhundert ein europäisches ist und spätestens im 19. Jahrhundert ein kapitalistisches wurde, läßt sich auf politisch-ökonomische Weise die westliche Feindbildproduktion von dorther kaum noch befruchten. Es ist daher nicht erstaunlich, daß ein religiös-kultureller Weg beschritten wird, auf dem "der Orient", "der Araber" und "der Islam" wieder ins Visier geraten, womit Fragen nach der europäischen, d.i. westlichen Wahrnehmung dieses "Orients" auch in geschichtlicher Perspektive aktueller kaum sein könnten. Im Folgenden soll die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts am Beispiel Edward Gibbons daraufhin untersucht werden, wodurch diese Wahrnehmung in der Periode der Aufklärung spezifisch gekennzeichnet war, wobei die Frage nach der Besonderheit des Beitrags Gibbons zum abendländischen Arabienbild den roten Faden liefert auf dem Gang durch den verwirrenden Komplex vielfältiger und widersprüchlicher Zusammenhänge, den allerdings fast jedes größere historische Thema aufwirft.

Eingangs will ich nicht mehr als den materialen Gehalt von Gibbons "The Coming of Islam"-Kapitel sowie dessen Stellung innerhalb des gesamten Epos´ vom "Decline and Fall of the Roman Empire" referieren. Fast von selbst drängt sich dabei der literarische Kontext im spätaufgeklärten Europa auf: Die verschiedenen Erfindungen von Orientalen, Muslimen, Arabern (neben Gibbon tragen -nur z.B.- Gallands 1001 Nacht, Beckfords Vathek, Voltaires Mahomet, Mozart, Puccini oder auch Lady Montagu dazu bei) zwischen "Sarazenen" und "Türken", aber auch Edlen Wilden und Indianern; Um einen genaueren Begriff von Gibbons "Arabern" zu gewinnen, ist unabweisbar der politische Kontext im Zentrum des britischen Empire vor seinem historischen Hintergrund zu berücksichtigen: dem Siebenjährigen "Weltkrieg", den Problemen mit unruhigen Kolonien (Amerika, Indien, Irland), der französisch-revolutionären Herausforderung und v.a. Gibbons eigene Stellung in politischer Hinsicht. In einem dritten Schritt müssen wir den scheinbar unpolitischen Literaten, der als Historiker des Römischen Reiches unsterblich wurde, kritisch in einen geschichtswissenschaftlichen Kontext einordnen, um Wert und Wirkung seiner "Araber" und seines "Decline and Fall" insgesamt zu erfassen. So erscheint ein Punkt erreichbar, von dem aus unter fremdwahrnehmungstheoretischen Aspekten die zeitgenössische wie die langfristige Leistung Gibbons untersucht und ihre Herkunft, Bedeutung und Wirkung abschließend beurteilt werden kann.

Zitiert wird dabei aus 3 verschiedenen Ausgaben von Gibbons History, nämlich den Editionen Lows (Teil 1), Dawsons (Teil 2) und Hutchins´ (folgende), wo möglich auch aus der einzig verfügbaren deutschsprachigen -gekürzten- Ausgabe des Greno-Verlags, in der -unter vielem anderen- auch das relevante 50.Kapitel fehlt. Das unterstreicht nebenbei Scheibes wohl immer noch gültiges Diktum "Von deutscher Gibbon-Forschung kann man nicht sprechen."2 - ein Fakt, der das Entstehen der vorliegenden Arbeit nicht eben begünstigte.

Die Araber...haben in Armuth und Verachtung geschmachtet, bis Mohammed diesen wilden körpern die Seele des Enthusiasmus einhauchte.*

1. Im Werk selbst

Zunächst ist klarzustellen, daß "The History of the Decline and Fall of the Roman Empire" und ihr Autor nicht wegen des 50. Kapitels "The Coming of Islam" weltberühmt wurden (und es bis heute geblieben sind), sondern wegen der großartigen Konzeption einer Universalgeschichte als Triumph von Barbarei und Religion über die aus eigener Schuld geschwächte und degenerierte Bürgerrepublik, die zeitgenössisch überdies eine exakt bestimmbare Funktion ausfüllte. Eingebettet in diesen Zusammenhang kommt Gibbons Arabern (und später den Türken) im Osten eine den Barbaren des Westens vergleichbare Rolle als unverweichlichte und glaubenssichere Totengräber Roms respektive Konstantinopels zu. Freilich spielen sie diese Rolle in spezifischer Weise, unterschieden nicht nur von Goten und Germanen, Tataren oder Türken, sondern auch vom tradierten Bild des `Sarazenen´3, zu dem Gibbon eine deutliche Distanz verrät: "The Arabian tribes were confounded by the Greeks and Latins under the general appellation of Saracens, a name which every Christian mouth has been taught to pronounce with terror and abhorrence."4 (654) Gibbon zeichnet ein differenzierteres Bild, das sich v.a. durch die historisch objektivierende Anordnung und die Einordnung in sein Großmodell innovativ ist und neue Akzente setzt. In nuce: "Mahomet, with the sword in one hand and the Koran in the other, erected his throne on the ruins of Christianity and of Rome. The genius of the Arabian prophet, the manners of his nation, and the spirit of his religion, involve the causes of the decline and fall of the Eastern empire;" (649)

1.1 Die Wüstensöhne

Den 3 Faktoren -prophet, nation, religon- gemeinsam ist der geoklimatische Ursprung: die Wüste, "this scene of misery" (651) und natürliche Heimat des Pferds, des Kamels, des Nomadentums, "a life of danger and distress" (652). Unabhängigkeit, soldatische Tugenden und wahre Mannhaftigkeit kennzeichnen den unter solchen Bedingungen Aufgewachsenen: "His speech is slow, weighty, and concise; he is seldom provoked to laughter, his only gesture is that of stroking his beard, the venerable symbol of manhood" (655) Er ist persönlich frei, z.B. "if the Arabian princes abuse their power, they are quickly punished by the desertion of their subjects, who had been accustomed to a mild and parental jurisdiction." (654) Und im Kollektiv "the nation is free, because each of her sons disdains a base submission to the will of a master." (655) Die Entbehrungen der Wüste und "the seperation of the Arabs from the rest of mankind" haben gleichermaßen spezifische "ideas of stranger and enemy" geformt, insbesondere auch das Bewußtsein, "the rich and fertile climates were assigned to the other branches of the human family; and that the posterity of the outlaw Ismael might recover, by fraud and force, the portion of inheritance of which he had been unjustly deprived." (655) Zum Räuber kommt der Rächer: "In private life every man, at least every family, was the judge and avenger of its own cause. The nice sensibility of honour...sheds its deadly venom on the quarrels of the Arabs: the honour of their women, and of their beards, is most easily wounded." (656) Städte, Handel, Gastfreundschaft, Großmut, kultureller Austausch milderten aber den "spirit of rapine and revenge", z.B. "the distant or hostile tribes resorted to an annual fair...30 days were employed in the exchange, not only of the corn and wine, but of eloquence and poetry." (657) Die ursprüngliche Religion der Araber "consisted in the worship of the sun, the moon, and the fixed stars" (658), in diesem Rahmen allerdings bemerkenswert flexibel: "Each tribe, each family, each independent warrior, created and changed the rites and the object of his fantastic worship" (659), "each Arab was free to elect or to compose his private religion." (661)

Einer dieser solchermaßen Freigeborenen war Mahomet aus dem Stamm der Koreish, einziger Sohn von Abdallah und Amina, geboren 570 in Mekka, mit 25 verheiratet mit der reichen Witwe Cadijah. Sehr detailliert nacherzählt Gibbon den Werdegang des zunächst nur im kleinen Kreis -quasi privat- missionierenden Arabers, den erst die erzwungene Flucht nach Medina mit 40 in die Prophetenrolle gleichsam nötigt. Die Parallelen zum in die Wüste geschickten biblischen Ismael liegen, ohne daß Gibbon dies explizit nennt, auf der Hand.

1.2 Der arabische Prophet

Hier erst nimmt der genius of the arabian prophet zum Koran das Schwert: "In the state of nature5 every man has a right to defend, by force of arms, his person and his possessions;...Mahomet, in the exercise of a peaceful and benevolent mission, had been despoiled and banished by the injustice of his countrymen" und erklärt so den "War against the Infidel" (678) ursprünglich den Koreish. "The Arab continued to unite the professions of a merchant and a robber; and his petty excursions for the defence or the attack of a caravan insensibly prepared his troops for the conquest of Arabia." (679) Diesen beschreibt Gibbon dann auch in der für sein gesamtes Werk typischen militärstrategischen Ausführlichkeit gepaart mit epischer Fabulistik, ein Beispiel: "But the friendship of Heraclius and Mahomet was of short continuance: the new religion had inflamed rather than assuaged the rapacious spirit of the Saracens (hier sind die syrischen, nicht die moslemischen Araber gemeint); and the murder of an enemy afforded a decent pretendence for invading, with three thousand soldiers, the territory of Palestine, that extends to the eastward of Jordan." (686) Hervorzuheben ist jedenfalls die historisch-objektivierende Rationalisierung des Siegeszugs Mahomets, den -bei aller religiösen Inspiration- der Feldherr und seine begeisterte Armee mit militärischen Mitteln vollzog. Im Rahmen der History entfällt damit aber auch eine -womöglich teuflische- Sonderrolle in religiöser Hinsicht.

Konsistenterweise zeichnet Gibbon `the character and private life of Mahomet´ ebenso rational vor dem Hintergrund des biographischen, sozialen, politischen (d.i. in erster Linie: feldzugsdynamischen) und historischen Kontexts. Heraus kommt ein von Verklärung wie Verteuflung gleich weit entferntes Porträt Mahomets als sendungsbewußtem militärisch-politischem Führer einer in Allah geeinten und relativ gleichgestellten Bruderschaft. "Of his last years ambition was the ruling passion...", so greift Gibbon das Negativbild Mahomets (nicht zuletzt reproduziert bei Voltaire6, wenngleich in generell antireligiöser Absicht) seiner Zeit auf, um es historisch zu erhellen, "the sins of Mahomet may be allowed as an evidence of sincerity. In the support of truth, the arts of fraud and fiction may be deemed less criminal...The decree of Mahomet, that, in the sale of captives, the mothers should never be seperated from their children, may suspend, or moderate, the censure of the historian." (690) Gibbon hält eine Fülle weiterer Beispiele bereit:

The good sense of Mahomet despised the pomp of royalty; the apostle of God submitted to the menial offices of the family; he kindled the fire, swept the floor, milked the ewes, and mendled with his own hands his shoes...Perfumes and women were the two sensual enjoyments which his nature required, and his religion did not forbid...(>The heat of the climate inflames the blood of the Arabs) Polygamy was reduced to four legitimate wives...If we remember the seven hundred concubines of the wise Solomon, we shall applaud the modesty of the Arabian (hier: Mahomet), who espoused no more than 17 or 15 wives. (691)

Schließlich: "His beneficial or pernicious influence on the public happiness...He breathed among the faithful a spirit of charity and friendship; recommended the practice of the social virtues; and checked, by his laws and precepts, the thirst of revenge, and the oppression of widows and orphans." (694)

1.3 Die adäquate Religion

Dieselbe rationalistische Profanisierung, die Gibbons Araber als `Nation´ wie als Mahomet erfahren, findet auch in der Darstellung des Islam als genuin arabische Relion statt, die keineswegs erst mit dem Propheten vom Himmel fiel. Zum Beispiel war auch die Bibel längst ins Arabische übersetzt, "in the story of the Hebrew patriarchs the Arabs were pleased to discover the fathers of their nation." (662) Ebensowenig fiel der Himmel auf den Propheten, sondern die Genese des Islam ist unauflöslich mit dem geoklimatischen, dem soziokulturellen, dem lokalbiographischen Kontext Mahomets verbunden und wird von Gibbon auch inhaltlich stets in diesen Zusammenhang gestellt: "The religion of the Koran might have perished in its cradle, had not Medina embraced with faith and reverence the holy outcasts of Mecca," (676) wo sich der Islam bewaffnete und seinen Gläubigen das Paradies versprach. "`But if we are killed in your service, what´, kolportiert Gibbon "the deputies of Medina, `will be our reward?´ `Paradise´, replied the prophet."(677) Die Paradiesvorstellung reflektiert ihrerseits den profanen Ausgangspunkt, zum einen in ihrer luxuriösen Sinnlichkeit die zwischen Entbehren und Begehren angelegten realen Lebensbedingungen der `Wüstensöhne´7; zum andern in ihrer Gestalt als Lohn des Todesmutes die zunächst objektiv prekäre politisch-militärische Situation der Herausforderer des regionalen Establishments.: "Whosoever falls in battle, his sins are forgiven: at the day of judgement his wounds shall be resplendant as vermilion, and odoriferous as musk; and the loss of his limbs shall be supplied by the wings of angels and cherubim." (679) Auch für die geschichtsmächtige Rolle der Ökonomie ist Gibbons Darstellung der arabischen Religion nicht blind: "Perhaps the Koreish would have been content with the flight of Mahomet, had they not been provoked and alarmed by the vengeance of an enemy who could intercept their Syrian trade." (679) Den Sieg der moslemischen Araber unter Mahomet `entzaubert´ Gibbon recht gründlich und unverkennbar genüßlich:

Are we surprised that a multitude of proselytes should embrace the doctrine and the passions of an eloquent fanatic? In the heresis of the church the same seduction has been tried from the time of the apostles to that of the reformers...Hundred fortunate usurpers have arisen from a baser origin, surmounted more formidable obstacles, and filled a larger scope of empire and conquest. Mahomet was alike, instructed to preach and to fight...His voice invited the Arabs to freedom and victory, to arms amd rapine, to the indulgence of their darling passions, in this world and the other...It is not the propagation, but the permanency of his religion, that deserves our wonder. (693)

1.4 Die Araber in Gibbons Modell

Und an dieser Stelle plaziert Gibbon sein 50. Kapitel in den Kontext seines universalhistorischen Modells, sprich: seine Araber in den Zusammenhang des Wechselspiels von Zivilisation und Dekadenz einerseits und Barbarei und Religion andererseits.

Had the impulse been less powerful, Arabia, free at home, and formidable abroad, might have flourished under a succession of her native monarchs. Her sovereignty was lost by the extend and rapidity of conquest...After the reign of three caliphs, the throne was transported from Medina...and the Bedoweens of the desert, awakening from their dream of dominion, resumed their old and solitary independence.(695) .

Dies markiert auch einen bemerkenswerten Unterschied zu allen anderen triumphierenden Barbarenvölkern von Goten über Vandalen bis hin zu Tataren, die nämlich ihrerseits durch die Eroberung der Zivilisation nicht nur korrumpieren, sondern als Ganzes in der Versenkung verschwinden. Die `old and solitary independence´ des freeborn Arabian aber bleibt im Kern bestehen, umfänglicher noch dessen genuine -nicht bloß angenommene- Religion:

The order, the discipline, the temporal and spiritual ambition of the clergy, are unknown to the Moslems;...From the Atlantic to the Ganges the Koran is acknowledged as the fundamental code, not only of theology but of civil and criminal jurisprudence...This religious servitude is attended with some practical disadvantage; the illiterate legislator had been often misled by his own prejudices and those of his country; and the institutions of the Arabian desert may be ill adapted to the wealth and numbers of Ispahan and Constantinople. (694)

So beschreibt Gibbon nicht nur ein seit 1000 Jahren vergangenes Arabien, sondern geht "unmerklich vom 7./8. Jahrhundert zu seiner Gegenwart, dem 18., über,"8 für die sein Araberbild gleichfalls Gültigkeit beansprucht. Bereits zu Beginn des 50. Kapitels aktualisiert Gibbon z.B. den `character of the Arabs´"in their last hostilities against the Turks" (653) oder durch: "The liberty of the Saracens survived their conquests." (655)

Zusammenfassend läßt sich Gibbons Araberbild demnach folgendermaßen skizzieren: Freigeborene, unabhängige und stolze Wüstensöhne mit allen Nomadentugenden des Kriegers, Räubers, Händlers und Selbstrichters versehen; in einer naturwüchsigen Patriarchaldemokratie freiwillig verbunden, oft blutig verfeindet und dennoch hochherzig, gastfreundlich, ehrenhaft und sogar kultiviert (Städte, Poesie, Feste als gemeinsame Fluchtpunkte in durchaus homerischer Manier); unverweichlichte Männer, deren engen Horizont ein begnadeter Visionär, politischer Führer und geschickter Feldherr durch Wort und Tat zur Einheit der arabischen Stämme in Allah erweitert - seinerseits ein Kind der Wüste und der Umstände; im Genie Mahomets findet die arabische `Nation´9 machtvollen Ausdruck nach innen wie außen, die unentdeckten Wüstentugenden erhalten im Islam ihre Beseelung wie ihre adäquate soziale Form; nach ihrer militärisch-politischen Überdehnung und der damit verbundenen Dekadenz -Tragik aller siegreicher Barbaren- fallen die Araber nicht in die Versenkung, sondern zurück auf die Füße ihrer `old and solitary independence´, was sie von allen anderen Nomadeneroberern abhebt. Ausgeschlossen aus diesem Bild sind die christlichen Klischees von Mohammed als Lüstling, Epileptiker, Betrüger oder Blutbader, nicht indem Gibbon entsprechende Fakten übergeht, sondern indem er sie in ihren sozialen, politischen und natürlich militärischen Kontext stellt und von dorther erklärt: So sind Mildtätigkeit, Schutz der Witwen und Waisen oder Polygamie z.B. ebenso ein sozialer Verdienst Mohammeds wie auch, "notwithstanding a vulgar prejudice" (673) die Himmelspforten beiden Geschlechtern offenstehen oder "the military laws of the Hebrews" als "still more rigid than those of the Arabian legislator" (678) nachgewiesen werden. Im direkten Vergleich der religionsbeschreibenden Abschnitte tritt an die Stelle der unterschwelligen Häme der dann auch heftig angefeindeten Kapitel 15 und 16 zum Christentum10 die aufklärende Erhellung seiner Entstehungsbedingungen und Funktionszusammenhänge. Gibbons Araberbild ist somit gerade durch seine historisch-objektivierende Distanz im Effekt ein positives, dies umso mehr als er schon die `Barbaren´ allgemein keineswegs negativ11 besetzt, sondern ihre ungezähmten männlichen Tugenden den Lastern einer verweiblichten, korrumpierten Zivilisation gegenüberstellt, die sie zurecht erobern. Die eigentliche Tragik ist die Degeneration der bewaffneten Republik - ein Prozeß, dem -wie gesehen- auch die siegreiche Urdemokratie arabischer Wüstenkrieger nicht entgeht.

I shall lead the Arabs to the conquest of Syria, Egypt, and Africa...*

2. Im literarischen Kontext

Im Licht des literarischen Kontexts lassen sich Gibbons Araber nun deutlicher in ihrer spezifischen Gestalt erfassen, aber auch der eigentlich schöpferische Anteil ihres Autors am Arabienbild der Spätaufklärung reduziert sich in dieser Perspektive - und wird dadurch transparenter. Zunächst erscheint es allerdings angebracht, die Verortung Gibbons in der Welt der Literaten (statt etwa der Zunft der Historiker) kurz zu rechtfertigen. `Kurz´ meint v.a., die in Abschnitt 4 ausführlich dargelegte historiographische Kritik hier nicht vorwegzunehmen. Es verweist aber gleichfalls auf die relative Leichtigkeit des Belegs durch Gibbons eigenes Zeugnis, die entsprechend epische Diktion seines Werks und die breite Übereinstimmung der Forschung in dieser Frage.

"The design of my first work, the Essay on the Study of Literature, was suggested by", heißt es in der Autobiography sehr bezeichnend, "a refinement of vanity, the desire of justifying and praising the object of a favourite pursuit...learning and language of Greece and Rome."12 15 Jahre später, während derer Gibbon außer seiner Warburton-Kritik und einigen Zeitungsartikeln nichts publizierte13, erscheint der 1.Band seiner History - und dessen `Design´ als literarisches Unternehmen als ebenso konstant wie sein implizit tragisches Motiv: "History is the most popular species of writing, since it can adapt itself to the highest or the lowest capacity. I had chosen an illustrious subject. Rome is familiar to the schoolboy and the statesman; and my narrative was deduced from the last period of classical reading."14

2.1 Der Historiker als Literat?

Den kompositorischen Rahmen, in den Gibbon unter anderem seine Araber zur Eroberung Syriens, Ägyptens und (Nord-)Afrikas führt, stellt "the greatest, perhaps, and the most awful scene in the history of mankind"15: das lange und tragische Sterben Roms vom Tod Marc Aurels 180 bis zum Fall Ost-Roms 1453 bzw. der Triumph von Barbarei und Religion. Formal schlägt sich der inszenatorische Zugang im vielgerühmten lateinischen Periodenstil nieder, in der ständigen Wiederkehr theatralischer Metaphern, in der Personalisierung von Geschichte durch zahllose Heldenfiguren sowie durch kollektive Rollenzuschreibungen an die Adresse ganzer Völker. Der Zusammenhang, in dem das oben zitierte Motto sich findet, mag das schlaglichtartig erhellen. Im 48.Kapitel legt Gibbon dem Publikum den Gang der restlichen 2 Bände offen: "At every step, as we sink deeper in the decline and fall of the Eastern empire, the annals of each succeeding reign would impose a more ungrateful and melancholy task...From the time of Heraclius the Byzantine theatre is contracted and darkened."16

"After this foundation following nations will pass before our eyes, and each will occupy the space to which it may be entitled by greatness or merit, or the degree of connection with the Roman world and the present age. I.The Franks; a general appellation which includes all the barbarians of France, Italy and Germany...II.The Arabs and Saracens...III.The Bulgarians, IV.Hungarians, and V.Russians..."17 und so fort bis X.den Türken.Gibbon selbst betonte stets den hohen Rang des Stils -"I was now master of my style and subject"18- und erkannte in der literarischen Qualität, nicht dem historischen Wert, den Schlüssel zur Unsterblichkeit jeden Geschichtswerks: "Tout ce que je dirai c´est remarquer qu´en gros les poetes se sont beaucoups mieux conservés que les historiens. Mettons en parallèle Salluste, Tite Live, et Tacite, les plus illustres des derniers, avec Virgile, Horace et Ovide, les plus célèbres d´entre les premiers."19

Da auch Gibbon den literarischen Grundzug seiner History nicht unterschlug, sondern im Gegenteil unterstrich, was zu seiner Zeit sein Werk ja nur aufwerten konnte20, sollte es kaum erstaunen, daß heute in der Forschung der legendäre Historiker des Römischen Reiches übereinstimmend als Literat gewürdigt wird. Ein willkürlicher Querschnitt, der gleichzeitig einen ersten Einblick in die mögliche Bandbreite wissenschaftlicher Sekundärliteratur eröffnet, wird hier genügen: "Gibbon´s history is first and foremost an epic narrative", befindet etwa Gossman21, with "heroes and heroines of innumerable subnarratives ranging in length from a few lines to a whole chapter and in most cases capable, in Gibbon´s own words, of furnishing `the subject of a very entertaining romance´ or `a very singular object for tragedy´". "Gibbon visibly enjoyed his sense of authorial mastery...took on the role of impresario of nations...is the conductor of huge symphonic movements, in which the scale of the events and the virtuosity of the author are matched," so Burrow22. "Zwar war er ein passionierter Schriftsteller", gibt Saunders zu, "hatte ausgeprägte Überzeugungen und Vorurteile...Aber hinter alledem stand der gelassene Historiker."23 "Und doch lebt das Werk nicht nur vom Glanz dieses oft gerühmten Stils", heißt es bei Christ, sondern von "der Verbindung philosophischer Reflexion und Wertung mit gelehrter wissenschaftlicher Darstellung, der aufgeklärt-kritischen und doch seriösen Behandlung des großen Themas."24 Wir haben es also in Gibbon mit einem Schriftsteller zu tun, der sich zwar mit dem vollen Recht des Sprachgebrauchs seiner Zeit als Historiker25 und Philosoph26 bezeichnen kann. Dennoch erscheint es heute angebrachter, sein Werk und darin seine Araber zunächst in literarischer Hinsicht näher zu bestimmen. So wenig Geschichte als Wissenschaft im modernen Sinn bereits entwickelt gewesen wäre27, so sehr war sie mit den literarischen Kategorien des Erfindens, Entdeckens und Erbauens verknüpft.

2.2 Der Araber in der Literatur

"The Decline and Fall may be called the epic of the Enlightenment, for it celebrates the triumph of human reason in Gibbon´s philosophic age,"28 in dem gelehrter Diskurs und republikanische Ideen -und damit der Rekurs auf die Antike- einen hohen Stellenwert einnahmen. Daß aus dieser Sicht auch Arabien und der Orient zunehmend positiv interpretiert wurden, war spätestens seit Gallands Übertragung der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht 1704 gängige Münze, in denen kultivierte Menschen aller Schichten im gemessenen und gebildeten Stil der klassischen Antike miteinander verkehren.

Freilich transportieren Gallands `arabische Erzählungen´ gleichfalls das traditionelle `Verkehrte-Welt´-Motiv in Gestalt eines -allerdings liebenswerten- sinnlich duftenden, zauberhaften Märchenlandes, das negativ ausgestaltet zu werden sich bestens eignet. Ein Beispiel liefert William Beckfords Horrorgeschichte Vathek. An Arabian Tale 1786, die die satanischen, grausamen und amoralischen Potenzen des Orientbildes als Exzeß des Bösen zelebriert. Die Ambivalenz des Arabers in der abendländischen Literatur des 18.Jahrhunderts wird auch an der Mohammed-Figur selbst deutlich. Henri Boulainvilliers´ 1730 posthum erschienenes Vie de Mahomet zeichnet ein für einen christlichen Theologen ungewöhnlich positives Bild des Propheten und der Araber, das in seiner historisch-ethnographischen Begründung Gibbons Argumentation durchaus vorwegnimmt: Die Genügsamkeit und Beständigkeit, Ernsthaftigkeit und Ruhe der Araber ist hiernach direkt mit der "Einsamkeit, nebst der Freyheit" der Wüste verknüpft,29 der Islam wird vor seinem eigenen kulturellen Hintergrund gewürdigt. George Sales Koranübersetzung 1736 stellt dann schon den unmittelbaren Zusammenhang zur praktischen Sozial- und Zivilordnung her. Demgegenüber wirkt freilich auch die mohammedfeindliche Tradition des Mittelalters -etwa in Prideauxs noch 1808 in 10.Auflage erschienenem Life of Mahomet von 1697- fort und wird in gewisser Weise sogar von Voltaire aufgegriffen, der seinen Mahomet 1741/42 als Inbegriff allen Religionsbetrugs anlegt, ein Geschütz im antiklerikalen Gefecht der Aufklärung gegen den Aberglauben30.

Wie sich die Ansätze eines kulturellen Relativismus in der Methode der `Einfühlung´ niederschlagen, wird gerade im deutschsprachigen Raum deutlich, z.B. mit Herders epochalen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1784-91 und -an dieser Stelle v.a. zu nennen- mit Mozarts 1782 uraufgeführtem Singspiel Entführung aus dem Serail, das den orientalischen Herrscher als `Besitzer´ der von arabischen Piraten entführten Constanze am Ende idealisiert und noch dem `bösen´ Wächter einen authentischen Charakter zuschreibt. Von Lessings 1779 erschienenem Nathan ebenso zu schweigen wie von Goethes Mahomets Gesang 1774; Romantisierende, humanisierende, kulturrelativierende und phantastische Elemente veränderten so das blutige Feindbild des Arabers in der Literatur ganz erheblich. Hinzu kamen empirische und wissenschaftliche Horizonterweiterungen durch Brief- und Reiseberichte etwa einer Lady Montagu posthum 1763 oder eines Carsten Niebuhr seit 1772. Nicht zuletzt wirkte sich auch das Motiv des `Edlen Wilden´ als Gegenentwurf zur korrumpierten und degenerierten Zivilisation im Europa des 18.Jahrhunderts auf eine Wahrnehmung und Darstellung des Arabers aus, von der ebenso Gibbon seinen Ausgang nimmt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 62 Seiten

Details

Titel
Edward Gibbons Araber - Herkunft, Bedeutung und Wirkung im Kontext des europäischen Orientbildes der Spätaufklärung
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,7
Autor
Jahr
1998
Seiten
62
Katalognummer
V91952
ISBN (eBook)
9783638060028
ISBN (Buch)
9783638952767
Dateigröße
635 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Araber, Herkunft, Bedeutung, Wirkung, Kontext, Spätaufklärung, Edward Gibbon, Geschichte, Wahrnehmung, Fremdwahrnehmung, Orientbild, Islam, Feinbildproduktion, geschichtswissenschaftlich, kritisch, Erfindungen, Abendland, Aufklärung
Arbeit zitieren
M.A. Jürgen Krämer (Autor:in), 1998, Edward Gibbons Araber - Herkunft, Bedeutung und Wirkung im Kontext des europäischen Orientbildes der Spätaufklärung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/91952

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