In der vorliegenden Arbeit betrachte ich Benjamins geschichtsphilosophische Thesen als Versuch die Erkenntnis und das Aufdecken der Wirkung wahrer Leidursachen durch Analyse und Aufarbeitung kollektiver Geschichte zu ermöglichen. Da dieser Versuch dem Versuch der Psychoanalyse ähnelt, die statt der kollektiven Geschichte die Geschichte des Individuums analysiert, werde ich bei meiner Untersuchung auf Überlegungen und Begriffe der Psychoanalyse rekurrieren, von denen angenommen werden kann, dass sie Benjamin nicht unbekannt gewesen sind. Auf Leselisten des Autors möchte ich deshalb verzichten, weil diese erwiesenermaßen unvollständig sind. Bevor ich Benjamins Geschichtstheorie im Hinblick auf ihre Potentiale untersuche, möchte ich zeigen, dass die Geschichtstheorie Benjamins sowohl zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung 1940 als auch heute nicht nur relevant, sondern gleichermaßen viabel ist. Um dies zu beweisen, stelle ich zunächst die gemeinsamen Merkmale soziopolitischer und psychosozialer Strukturen in den 1930er Jahren und heute heraus.
Ziel der Arbeit ist zu zeigen, inwieweit Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen relevant für aktuelle Diskussionen zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung, Ressentiments (Rassismus, Sexismus, Antijudaismus etc.) oder Fortschritts-, Herrschafts-, Historismuskritik etc. ist. Seit der ersten, von Peter Bulthaup 1975 herausgegebenen Sammlung von Aufsätzen zu Benjamins Thesen, hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung vorwiegend auf den Widerstreit der beiden wichtigsten Denkrichtungen konzentriert: Theologie (Sholem) und Marxismus (Brecht)1. Meine Untersuchung beginnt ihre Suchbewegung auf der Grundlage eines marxistisch-materialistischen Verständnisses, mit der Absicht psychoanalytisches Gedankengut in den Thesen Benjamins zu erfassen bzw. daraus abzuleiten und für einen künftigen Diskurs nutzbar zu machen.
Inhaltsverzeichnis
- Arbeitshypothese und Vorgehen
- Merkmale soziopolitischer Strukturen in den 1930er Jahren und heute
- Merkmale psychosoziale Strukturen in den 1930er Jahren und heute
- Zuvor noch eine Bemerkung
- Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen – Eine (psycho)analytische Geschichts-theorie
- Abgrenzung vom Fortschrittsbegriff der Moderne
- Abgrenzung vom konservativen Historismus
- Eingedenken als Mittel materialistischer Geschichtsschreibung
- Neue Perspektiven durch materialistische Geschichtsschreibung
- Archäologie der Erinnerung
- Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen im Kontext der materialistischen Geschichtsauffassung. Sie analysiert, wie Benjamin die Krisen der Moderne, insbesondere den Aufstieg des Faschismus, durch eine neue Sichtweise auf die Geschichte zu bewältigen suchte.
- Kritik am Fortschrittsbegriff und der Universalgeschichte
- Analyse der soziopolitischen und psychosozialen Strukturen der 1930er Jahre
- Bedeutung des Eingedenkens und der Materialität der Geschichte
- Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse in Benjamins Denken
- Relevanz von Benjamins Thesen für aktuelle Debatten über Vergangenheitsbewältigung und Ressentiments
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel stellt die Arbeitshypothese und das Vorgehen der Arbeit dar. Es wird die Frage aufgeworfen, inwieweit Benjamins Thesen relevant sind für die Analyse der soziopolitischen und psychosozialen Strukturen der 1930er Jahre und der Gegenwart. Das zweite Kapitel beleuchtet die Gemeinsamkeiten der soziopolitischen Strukturen in den 1930er Jahren und heute. Es wird der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und die Erosion des Vertrauens in die Regierung als Parallelen herausgestellt.
Das dritte Kapitel widmet sich den psychosozialen Strukturen der 1930er Jahre und der Gegenwart. Es wird der Einfluss des neoliberalen Marktradikalismus auf die Gesellschaft diskutiert und die Rolle des Fortschrittsoptimismus als Ideologie der Herrschaftsordnung beleuchtet.
Das fünfte Kapitel analysiert Benjamins geschichtsphilosophische Thesen im Detail. Es werden die Kritik am Fortschrittsbegriff, die Abgrenzung vom konservativen Historismus, die Bedeutung des Eingedenkens und die Möglichkeiten einer neuen, materialistischen Geschichtsschreibung erläutert.
Schlüsselwörter
Materialistische Geschichtsschreibung, Walter Benjamin, Psychoanalyse, Faschismus, Fortschrittskritik, Eingedenken, Herrschaftskritik, Ressentiments, Vergangenheitsbewältigung, Soziopolitik, Psychosoziale Strukturen.
- Arbeit zitieren
- Lukas Treiber (Autor:in), 2020, Materialistische Geschichtstheorie. Ein psychoanalytisches Projekt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/935291