Von der Entdeckung 1755 bis 1918:
Es war reiner Zufall, daß die Entdeckung der Handschrift C des Nibelungenlieds durch den Lindauer Arzt Jacob Hermann Obereit im Jahr 1755 in eine Zeit fiel, in der im patriotischrepublikanisch
gesinnten Geist der deutschsprachigen Intelligenzjia gerade die Übersetzungen von Macphersons Ossian-Dichtung, Mallets Übertragungen der Edda und Klopstocks sog. "Barditendichtung" begeistert aufgenommen wurden. Eine eigentliche Nationaldichtung wie
das Rolandslied in Frankreich oder Shakespears Königsdramen in England gab es allerdings nicht. Immerhin spielten Homers Epen seit dem Humanismus eine nicht wegzudenkende Rolle in der deutschen Geistesgeschichte, die Germanenideologie war aber immer eine
Angelegenheit einiger Gelehrter. Einer von ihnen, der Schweizer Johann Jacob Bodmer, gab bereits zwei Jahre nach dem Auffinden der Handschrift einen Teil als Druck heraus. Man ignorierte ihn mehr oder weniger. Auch sein zehn Jahre später veröffentlichter Versuch, sich mit einer Ausgabe des Liedes in Form von Hexametern beim deutschen Publikum Gehör zu verschaffen, stieß auf taube Ohren. Epen waren wieder aus der Mode gekommen und dem herrschenden Geist der Aufklärung, der sich als fortschrittlich begriff, blieb der Recours aufs Mittelalter fremd. Bodmers Schüler Müller (oder Myller) suchte mit einigem kaufmännischen Instinkt höchste Protektion – beim aufgeklärt absolutistischen König von Preußen, Friedrich II. Der antwortete gallig: Ihr urteilt, viel zu vortheilhaft, von denen Gedichten, aus dem 12., 13. Und 14. Seculo, deren Druck Ihr befördert habet; und zur Bereicherung der Teutschen Sprache so brauchbar haltet. Meiner Einsicht nach, sind solche, nicht einen Schuß Pulver, werth; und verdienten nicht aus dem Staube der Vergessenheit, gezogen zu werden. Auch die Geistesgrößen dieser Zeit, wie etwa Herder oder Goethe interessierten sich nicht wirklich für diese "Gedichte": Herder, der erklärte, zu den mittelhochdeutschen Epen habe ihm "Lust und Muße" gefehlt, und er habe "die wenigsten gelesen", und Goethe, der die Myllersche Ausgabe
"roh", d.h. unaufgeschnitten, liegen ließ, denn er blieb, wie er gesteht, "so stumpf dagegen wie die übrige Welt" [1].
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[1] Klaus von See, Das Nibelungenlied – ein Nationalepos?, in Die Nibelungen, hrsg. Joachim Heinzle und Anneliese Waldschmidt, Frankfurt 1991, p. 56
Inhaltsverzeichnis
- Von der Entdeckung 1755 bis 1918:
- Die Situation ändert sich schlagartig im Jahr 1806.
- Belle Alliance 1815 war das Ende von Napoleons Herrschaft über Europa.
- Die patriotisch-begeisterte Rezeption des Nibelungenlieds stellt sich als Strohfeuer heraus.
- Die eigentliche Nibelungenrezeption verlief zunächst einmal in zwei wenig populären Bahnen weiter.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text analysiert die Rezeption des Nibelungenlieds in Deutschland vom 18. bis ins 19. Jahrhundert und untersucht, inwiefern das Werk als "Nationalepos" verstanden und eingesetzt wurde.
- Die Entdeckung des Nibelungenlieds im 18. Jahrhundert
- Die Bedeutung des Werkes für die deutsche Nation im Kontext der Napoleonischen Kriege
- Die Interpretation des Nibelungenlieds in der Romantik
- Die Kritik an der patriotischen Instrumentalisierung des Stoffes
- Die Entwicklung der wissenschaftlichen Rezeption des Nibelungenlieds
Zusammenfassung der Kapitel
- Das erste Kapitel beleuchtet die Entdeckung des Nibelungenlieds im 18. Jahrhundert und die anfängliche Ablehnung des Werkes durch die Aufklärungsphilosophie.
- Das zweite Kapitel beschreibt die Bedeutung des Nibelungenlieds für die deutsche Nation im Kontext der Napoleonischen Kriege und die patriotische Instrumentalisierung des Stoffes.
- Das dritte Kapitel analysiert die Interpretation des Nibelungenlieds in der Romantik und die Rolle des Werkes in der deutschen Literatur und Kultur.
- Das vierte Kapitel beleuchtet die Kritik an der patriotischen Instrumentalisierung des Nibelungenlieds und die Auseinandersetzung mit der nationalen Deutung des Werkes.
- Das fünfte Kapitel betrachtet die Entwicklung der wissenschaftlichen Rezeption des Nibelungenlieds und die verschiedenen Ansätze zur Interpretation des Stoffes.
Schlüsselwörter
Nibelungenlied, Nationalepos, Patriotismus, Romantik, Aufklärung, Germanenideologie, Mittelalter, Geschichte, Literatur, Kultur, Rezeption, Interpretation
- Arbeit zitieren
- Stephanie Junkers (Autor:in), Dirk Puehl (Autor:in), 1998, Das Nibelungenlied als Nationalepos, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/94751