Fernbehandlung durch Ärzte. Zulässigkeit der Durchführung und Werbung nach aktuellem Rechtsstand


Seminararbeit, 2020

32 Seiten, Note: 15


Leseprobe


Gliederung

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

A. Einleitung
I. Methodik der Arbeit
II. Bedeutung
1. Definition der Terminologie
2. Historische Bedeutung und Entwicklung
a) Wurzeln der Verbote der Fernbehandlung und darauf abzielender Werbung
b) Folgen einer Fernbehandlung: Die Entmachtung von König Ludwig II
c) Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert
d) Entwicklungen von 2000 - 2020
aa) Gesetzliche Entwicklung
bb) Gesetzesvorhaben zur Fernbehandlung aus dem Koalitionsvertrag 2018
cc) Das Fernbehandlungsverbot in NRW (Westfalen-Lippe)
dd) Aktuelle Situation in NRW (Westfalen Lippe)
(1) Der Goldstandard und die unterstützende Fernbehandlung
(2) Die ausschließliche Fernbehandlung
ee) Bis Dezember 2019 geltendes Werbeverbot für Fernbehandlungen
3. Gesellschaftliche Bedeutung
a) Fernbehandlung durch Ärzte
b) Fernbehandlung durch Künstliche Intelligenz (KI)

B. Rechtliche Phänomenologie der Fernbehandlung
I. Zivilrechtliche Grenzen der Fernbehandlung
1. Allgemeine Voraussetzungen für zulässiges ärztliches Handeln
a) Medizinische Indikation
b) Besonderheiten zu verschiedenen Formen der Aufklärung
aa) Die Aufklärung
bb) Behandlungsaufklärung
c) Einwilligung
2. Allgemeine Grenzen der Sorgfaltspflicht
3. Besonderheiten und Voraussetzungen der ausschließlichen Fernbehandlung gem. § 7 Abs. 4 S. 3 BOÄ-WL
a) Die Problematik der Fernaufklärung
aa) Problematik des einfach gelagerten Falles
bb) Problematik der schriftlichen Aufklärungsform
b) Die Standardwahrung
c) Dokumentation
4. Haftung für Diagnose- und Befunderhebungsfehler in der Fernbehandlung.
a) Diagnosefehler
b) Befunderhebungsfehler
5. Haftung aufgr. vollbeherrschbarer Risiken
6. Privatautonome Abweichungen innerhalb der Fernbehandlung
7. Möglichkeiten der Haftung zu entgehen
II. Strafrechtliche Grenzen der Fernbehandlung
1. Verletzung von Privatgeheimnissen § 203 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 Nr. 1 StGB
2. Verletzung von Leib und Leben
III. Datenschutz

C. Rechtliche Phänomenologie der Werbung für Fernbehandlungen

D. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abkürzungsverzeichnis

Abs. Absatz

AGB(en) Allgemeine Geschäftsbedingung(en)

Art. Artikel

aufgr. auf Grund

Az. Aktenzeichen

BÄK Bundesärztekammer

BGB Bürgerliches Gesetzbuch

BGH Bundesgerichtshof

BMVÄ Bundesmantelvertrag für Ärzte

BO Berufsordnung

BOÄ-WL Berufsordnung für Ärzte Westfalen-Lippe

bspw. beispielsweise

bzgl. bezüglich

bzw. beziehungsweise

DÄBl. Deutsches Ärzteblatt

Dr. Doktor

DVG Digitales Versorgungsgesetz

Ebd. Ebenda

EDV Elektronische Datenverarbeitung

gem. gemäß

GesR Zeitschrift für Gesundheitsrecht

GG Grundgesetz

HeilBerG Heilberufsgesetz

hins. hinsichtlich

Hs. Halbsatz

HWG Heilmittelwerbegesetz

idR. in der Regel

iVm. in Verbindung mit

Jhd. Jahrhundert

KI Künstliche Intelligenz

LG Landgericht

MBOÄ Musterberufsordnung für Ärzte

MedR Medizinrecht (Zeitschrift)

mglw. möglicherweise

NJW Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)

NJW-RR Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift)

MMW Münchener Medizinische Wochenschrift (Zeitschrift)

Nr. Nummer

NRW Nordrhein-Westfalen

o.Ä. oder Ähnliches

OLG Oberlandesgericht

Prof. Professor

S. Satz

s.o. siehe oben

sog. sogenannt

SGB Sozialgesetzbuch

StGB Strafgesetzbuch

u.A. unter Anderem

UWG Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb

v.a. vor allem

vgl. vergleiche

z.B. zum Beispiel

z.T. zum Teil

Genderhinweis: Allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird ausschließlich die männliche Sprachform verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter.

Fernbehandlung: Zulässigkeit der Durchführung und Werbung nach aktuellem Rechtsstand

A. Einleitung

„Am Telefon und durch die Hose, stellt man keine Diagnose."1

Ergänzend: „Und auch per EDV ist viel zu ungenau."2

Diese geflügelten Worte dienen wohl auch als Eselsbrücken für Ärzte zur Erhaltung des höchstmöglichen Gesundheitsschutzes der Patienten und zur Erhaltung der Qualität der Behandlung an sich. Ärzte sollen demzufolge gerade nicht aus der Ferne, ohne direkten Kontakt mit dem Patienten und seiner Erkrankung bzw. den Symptomen (am Telefon) eine Diagnose stellen. Ebenso wenig soll eine Diagnosenstellung ohne genauere Betrachtung - Inaugenscheinnahme3 - des Krankheitsbildes im direkten Kontakt (also nicht durch die Hose) erfolgen. Der Arzt soll bei einer Anamnese am besten mit all seinen Sinnen gegenwärtig sein und sich ein möglichst umfassendes, individuelles Bild von seinen Patienten und deren Leiden machen, damit er eine standesgerechte Behandlung vornehmen kann.4 Vorherrschend ist also stets das Bild eines Arztes, der in seiner Praxis von Patienten aufgesucht wird und im direkten Gespräch und einer kurzen Untersuchung seine Arbeit verrichtet, indem er abschließend eine Diagnose stellt und jedem etwa über Rezepte für Medikamente und Anleitungen zur Genesung verhilft.

Zweck dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, ob die Durchführung einer Fernbehandlung nach aktuellem Rechtsstand zulässig sein kann, welche Grenzen es mglw. zu beachten gilt und welche Formen des Werbens dafür zulässig sein können.

I. Methodik der Arbeit

Eine umfassende Darstellung der Zulässigkeit aller Varianten der medizinischen Fernbehandlung ist in diesem Rahmen nicht möglich. Sofern sinnig, ist der fallbezogene Ausgangspunkt dieser Arbeit der am häufigsten vorkommende und relativ leicht zugängliche Fall der Fernbehandlung eines in Deutschland in NRW (Westfalen-Lippe) lebenden erwachsenen herzkreislaufkranken Menschen männlichen Geschlechts5 - in rein ärztlicher Fernbehandlung. Denn nicht jedes Fachgebiet und nicht alle Gesundheitszustände eignen sich für eine Fernbehandlung.6 Bezug genommen wird insbesondere auf ärztliche Tätigkeiten - ohne Auslandsbezug.

Ebenso wird der differenzierte Blick auf die Zulässigkeit der Durchführung bzw. Schaltung von Werbung für Fernbehandlungen geworfen.

II. Bedeutung

1. Definition der Terminologie

Wenn man den Begriff Fernbehandlung näher untersucht, um eine Einordnung oder Definition vorzunehmen, stößt man auf bedeutungsähnliche Worte, wie etwa Telemedizin. Telemedizin - lat. tele = fern daher auch Fernmedizin7 - wird von der AG-Telemedizin als Sammelbegriff für verschiedenartige ärztliche Versorgungskonzepte verstanden, die über räumliche Entfernungen oder zeitlichen Versatz (asynchron) hinweg erbracht werden. Hierbei werden Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt, damit verschiedene Akteure aus dem Gesundheitswesen zusammenwirken können. Sie ist gerade kein eigener Zweig der echten wissenschaftlichen Medizin, sondern Ausdruck vieler Methoden digitaler Gesundheitsversorgung8 auf verschiedenen Ebenen wie etwa zwischen Arzt und Apotheker, Patienten o.Ä.9 Die Telemedizin umfasst Felder wie Telediagnostik und Teletherapie.10

Dann gibt es eine Vielzahl von „telematischen"11 Begriffen wie Telerobotik und Telechirurgie in der operativen Medizin. Spezialisten müssten vom Patienten nicht mehr persönlich aufgesucht werden. Durch den Einsatz von Operationsrobotern könnten Operationen aus der Distanz ausgeführt werden.12

Die Fernbehandlung ist legal definiert in § 9 HWG. Sie setzt eine Erkennung von Krankheiten voraus, die nicht auf eigener Wahrnehmung beruht, etwa, weil sie aus der Distanz über fernmündlichen Kontakt erkannt wurde.13 Die Vorschrift regelt aber nicht die Fernbehandlung sondern die Werbung dafür.

In der Literatur wird die Fernbehandlung als Teilbereich der Telemedizin beschrieben. Charakteristisch ist die Überwindung zeitlicher und räumlicher Grenzen zur medizinischen bzw. gesundheitlichen Versorgung eines konkreten Patienten, etwa durch das Stellen einer Diagnose14 und Ausstellen von Rezepten 15 oder auch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen16. Dabei können eine Vielzahl an Medien verwendet werden. Das Begriffsverständnis ist also nahezu identisch. Eine sog. ausschließliche Fernbehandlung nach § 7 Abs. 4 S. 3 BOÄ-WL erfolgt nur über elektronische Kommunikationsmedien, also ohne vorherigen direkten Arzt-Patienten-Kontakt.17 Dagegen ist keine Fernbehandlung gegeben, wenn der Fernbehandelnde ganz allgemeine Erörterungen medizinischer Fragen ohne Bezug zum konkreten Patienten und dessen Krankheitsbild vornimmt. Oder etwa, wenn er nur eine Begutachtung einer Therapieempfehlung vornimmt, die ein Kollege gestellt hat oder dessen Diagnose abstrakt erläutert.18

Der Begriff der Fernbehandlung wird von Einzelnen auch gänzlich abgelehnt mit der Begründung, dass eine echte Behandlung über Telekommunikationsmittel gar nicht möglich sei, weshalb sie den Begriff der Fernkonsultation bevorzugen.19 Diesem Begriffsverständnis wird nicht gefolgt, um terminologisch keine Konfusion zu provozieren.

2. Historische Bedeutung und Entwicklung

a) Wurzeln der Verbote der Fernbehandlung und darauf abzielender Werbung

Im Zeichen der Volksaufklärung wurden in den 1840er Jahren illustrierte Medien verbreitet, die sich den Themen der Gesundheit und Medizin widmeten.20 Dabei wurde die Fernbehandlung unter dem Begriff der Briefkastenmedizin als individuelle postalische medizinische Beratung diskutiert.21 Ärztliche Autoren illustrierter Zeitschriften haben dafür den interessierten Lesern auf deren Nachfragen Ratschläge erteilt.22

Es wurde die Gefahr erkannt, dass der Leser zur Selbstdiagnose verleitet werden könnte, deshalb wurde 1875 schließlich im Münchener Kodex ein Verbot des öffentlichen Ankündigens brieflicher Behandlung festgelegt.23

In dieselbe Zeit fallen Verbote in regionalen Standesordnungen, so etwa in der Karlsruher Standesordnung.24 In § 2 der besagten Standesordnung für Mitglieder des ärztlichen Kreisvereins Karlsruhe wurde postuliert, dass die bloße Ankündigung brieflicher Behandlung gegen die Würde des ärztlichen Standes verstoße,25 das Werben für Fernbehandlungen war also untersagt.26

Ende des 19. Jhd. war die Briefkastenmedizin in Ärztekreisen generell als unseriös erkannt. Ein Beleidigungsprozess eines Arztes, gegen ein Fachblatt, in dem dieser als Kurpfuscher bezeichnet worden war, wurde gleichwohl von ihm gewonnen. Zur Zulässigkeit der Briefkastenmedizin äußerte sich das Gericht indes nicht.27

Schließlich zogen die Standesordnungen Westfalens und Bayerns 1899 und 1909 nach die Briefkastemedizin zu verbieten.28

b) Folgen einer Fernbehandlung: Die Entmachtung von König Ludwig II.

Erinnert sei hier an die fatale Fernbehandlungsmaßnahme in Bayern im Juni 1886, als Prinz Luitpold seinen Neffen, König Ludwig II., über vier Ferngutachten für verrückt und nichtregierungsfähig erklären ließ, um ihn dadurch abzusetzen. Der behandelnde Arzt Prof. von Gudden hatte sich lediglich auf die Aussagen von Mitarbeitern des Königs gestützt, ohne sich selbst ein Bild zu machen, mit tödlichen Folgen.29

c) Entwicklungen im zwanzigsten Jahrhundert

Im zwanzigsten Jahrhundert gab es verschiedene Ansätze die medizinische Fernbehandlung gesetzlich zu regeln.

So 1926 § 3 der Standesordnung für die deutschen Ärzte (Fernbehandlungs-verbot);30 weitere Gesetze folgten (1927 Salvarsanfall § 7 Abs. 2 S. 2 Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten).31

Durch die Machtergreifung der Nazis und die Gleichschaltung entstand am 05.11.1937 die BO für die Deutschen Ärzte, in deren Rahmen. Fernbehandlungen mit Erlaubnis möglich waren.32

Nach 1945 wurde im Rahmen der Dezentralisierung, die Gesundheitsgesetzgebung in die Hände der Länder gelegt, vgl. Art. 74 Nr. 19 GG iVm. Art. 72 Abs. 1 GG, soweit der Bund nicht von seiner Gesetzgebungskompetenz gem. Art. 70 I GG Gebrauch machte.33 Die Bundesländer geben also durch Heilberufs- und Kammergesetze Rahmen vor, jedoch werden die Detailfragen der Selbstverwaltung den Heilberufskammern überlassen. Die empfehlenden Vorgaben der Musterberufsordnung der BÄK werden dabei nur als Orientierungshilfe verstanden. Dieses autonome Satzungsrecht führt zu einer regional unterschiedlichen Ausgestaltung,34 was man auch an den Fernbehandlungen sehen kann. Diese auch als Standesrecht bezeichneten materiellen Rechtsordnungen gelten verpflichtend für ihre Mitglieder und können auch im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung von Bedeutung sein,35 z.B. zur Beurteilung von standeskorrektem Arbeiten insbesondere im Rahmen von Sorgfaltspflichtverletzungen36.37 Die Einhaltung des Standesrechts der Heilberufe wird in NRW durch die Berufsgerichte gem. § 61 HeilBerG überwacht.

Ein BGH-Urteil aus 1979 zeigt auf, dass bei fernkommunikativem Erstkontakt immer auch das Risiko gegeben sei, dass gerade die Ernsthaftigkeit der Erkrankung und damit auch die Erforderlichkeit einer unmittelbaren Inaugenscheinnahme des Patienten durch den Arzt mit fatalen Folgen verkannt wird.38 Das Urteil befasste sich mit einem Fall, in welchem der Patient zu Hause verstorben war, nachdem sich der Arzt auf den telefonischen Kontakt mit dessen Ehefrau beschränkt und einen -objektiv gebotenen- Hausbesuch unterlassen hatte.39

Mitte der 90er war die Möglichkeit einer Befundung digitaler Aufnahmen aus der Ferne für die Zivilbevölkerung erstmals möglich. Dabei wurde gefordert, dass zusätzlich ein überwachender Facharzt unmittelbar anwesend sein sollte,40 oder innerhalb einer Zeitspanne von höchstens zehn Minuten zugegen war. Danach haftete der Chefarzt als Träger der Endverantwortung und daneben stand auch eine Haftung des Krankenhauses.41

d) Entwicklungen von 2000 - 2020

aa) Gesetzliche Entwicklung

Um die Entwicklung von Digital Health42 und damit auch die der Fernbehandlung voranzutreiben, wurden seit 2003 verschiedene Regeln erlassen.43

Vorreiter in der Liberalisierung der Fernbehandlung war Sommer 2016 Baden-Württemberg, wo ihre ausschließliche Form im Rahmen eines Modellvorhabens durch eine Änderung der BO zugelassen wurde.44 Die Kassenärztliche Vereinigung beschloss schließlich April 2018 die Einführung des Modellvorhabens mit dem Namen docdirekt.45

Im April 2018 vollzog die Landesärztekammer in Schleswig-Holstein den Schritt für ihren Kammerbezirk zur Liberalisierung der Fernbehandlung und erlaubte als Erste in ihrer BO auch die ausschließliche Fernbehandlung.46 Brandenburg und das Saarland zeigten sich dagegen als entschiedene Gegner der ausschließlichen Fernbehandlung, weil man dies als Eingriff in die ärztliche Kunst ansah und einen Kontrollverlust befürchtete.47

Im Rahmen des 121. Deutschen Ärztetags wurde Mai 2018 nach intensiver Beratung eine generelle Lockerung des bis dahin geltenden ausschließlichen Fernbehandlungsverbotes beschlossen und demzufolge der § 7 Abs. 4 MBO-Ä dahingehend geändert, dass eine unterstützende Fernbehandlung generell erlaubt wurde sowie eine ausschließliche Fernbehandlung unter den strengen Voraussetzungen des eingefügten Satz 3.48

bb) Gesetzesvorhaben zur Fernbehandlung aus dem Koalitionsvertrag 2018

Die Bundesregierung sieht vor, die einschränkenden Regelungen zur Fernbehandlung auf den Prüfstand zu stellen und Bürokratie in Diagnostik und Dokumentation abzubauen.49

cc) Das Fernbehandlungsverbot in NRW (Westfalen-Lippe)

In NRW gestattete die alte Fassung des § 7 Abs. 4 BOÄ-WL von 2015 die ausschließliche Fernbehandlung nicht. Fernbehandlungen bedurften nach Satz 2 zwingend eines vorausgehenden direkten Arzt-Patienten-Kontakt.50

dd) Aktuelle Situation in NRW (Westfalen Lippe)

Am 30.06.2018 entschied sich die Ärztekammer Westfalen-Lippe auf Kammerversammlung zu einer Öffnung für die Fernbehandlung, welche am 04.12.2018 bekannt gemacht wurde.51

(1) Der Goldstandard und die unterstützende Fernbehandlung

In § 7 Abs. 4 S. 1 BOÄ-WL ist nach wie vor der auch als Goldstandard 52 bezeichnete direkte persönliche Kontakt zwischen Arzt und Patient bei Beratungen und Behandlungen niedergelegt. Satz 2 gestattet Ärzten insbesondere zur Therapie unterstützend Telekommunikationsmedien zu verwenden.53

Insofern ist wichtig zu verstehen, was Kommunikationsmedien iSd. § 7 Abs. 4 BOÄ-WL sein sollen. In Anlehnung an den Begriff der Fernkommunikationsmedien aus § 312c Abs. 2 BGB sind dies alle Kommunikationsmittel, die zur ärztlichen Beratung und Behandlung eingesetzt werden können, ohne dass der Arzt und der Patient gleichzeitig körperlich an einem bestimmten Ort anwesend sind - dies sind also Medien wie zB. Telefon, Fax, E-Mail, Video-Chat aber auch Printmedien wie etwa Briefe.54

(2) Die ausschließliche Fernbehandlung

Als Ausnahme kann neuerdings ein Arzt gemäß der strengeren Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 S. 3 BOÄ-WL sogar ganz ohne vorherigen Kontakt eine Beratung oder Behandlung nur über elektronische Telekommunikationsmittel in ärztlich vertretbaren Einzelfällen und unter Wahrung besonderer Sorgfalt vornehmen.55

ee) Bis Dezember 2019 geltendes Werbeverbot für Fernbehandlungen

Vor Dezember 2019 galt bundesweit gem. § 9 HWG ein generelles Verbot zur Werbung für Fernbehandlungen. Dieser Gefährdungstatbestand diente vorrangig dem Schutz der Volksgesundheit und des individuellen Gesundheitsinteresses. Grundlegend war der Gedanke, dass Fernbehandlungen gefährlicherweise verkürzte und damit bedenkliche Behandlungsformen seien. Deshalb sollten werbliche Reize ausgeschlossen werden und somit den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit aus § 15 Abs. 1 Nr. 6 HWG erfüllen.56 Zwischenzeitlich konnte eine Fernbehandlung nach § 7 Abs. 4 BOÄ-WL also zulässig gewesen sein, die Werbung dafür galt aber als strikt verboten.57 So zum Beispiel Werbung durch öffentliche Behandlungsangebote in Internetforen.58

Mit Urteil vom 16.07.2019 beschloss das LG München, dass die geschaltete Werbung der Privatversicherung Ottonova, die mit Partnerärzten über eine App u.A. Krankschreibungen ermöglichte, gegen das Werbeverbot von Fernbehandlungen verstoße (§ 9 HWG) und deshalb wettbewerbswidrig sei (§ 3a UWG), wogegen Ottonova wiederum in Berufung ging; Dieses Verfahren ist vor dem OLG München gegenwärtig noch anhängig.59

Aber auch hier fand eine Öffnung im Dezember 2019 hins. der Werbung für Fernbehandlungen statt. § 9 HWG wurde dahingehend um einen weiteren Satz ergänzt.60 Unter den von nun an in Satz 2 genannten Voraussetzungen ist auch eine Werbung für Fernbehandlung möglich.

3. Gesellschaftliche Bedeutung

a) Fernbehandlung durch Ärzte

Die verlässlichsten statistischen Daten ergeben sich aus den Auswertungen des Modellprojekts docdirect. So sind die Nutzerkonten von April 2018 bis März 2019 von knapp unter 500 bis auf über 3500 angestiegen, wobei die Nutzung der verschiedenen Kontaktwege relativ ausgeglichen ist.61 Es zeichnet sich augenscheinlich eine wachsende Nutzung unter den Patienten ab.

Aber auch unter den Hausärzten kann in den letzten Jahren ein starker Anwuchs der Digitalisierung verzeichnet werden, insbesondere in den Bereichen Erstellung elektronischer Medikationspläne (2018 - 2019 von 44% auf 63%).62

Als Beispiel möge auch die Senkung der Mortalität bei Herzpatienten dienen.63

b) Fernbehandlung durch Künstliche Intelligenz (KI)

Wenn man eine Einbeziehung von Robotik und KI für Fernbehandlungen in Erwägung zieht, besteht durchaus die Möglichkeit, dass ein Computer auf Grundlage eingegebener Daten, selbstständig eine Diagnose bzgl. einer Krankheit stellen kann.64 Fraglich ist wie sich die Akzeptanz in der Bevölkerung darstellt.

In einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahre 2018 zeigt sich eine Mehrheit von 38% für eine allein von einem Menschen gestellten Diagnose einer Krankheit. Die Minderheit war für eine computerunterstützte Diagnosestellung.65

[...]


1 Hahn, Telemedizin, S. VII.

2 Dr. med. Thomas G. Schaetzler, 03.12.2011 Kommentar auf: https://www.aerzteblatt.de/forum/108056 (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).

3 Clever, MMW, S. 42.

4 Vgl. Kalb, GesR 2018, 481, 485.

5 Siehe Häufigste Todesursache 2017, Anzahl der Gestorbenen nach ausgewählten Todesursachen, auf: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/todesfaelle.html (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).

6 Hahn, MedR 2018, 384 f.

7 Dochow, MedR 2019, 636, 637.

8 Digitalisierung der Lebenswelt, Schnell/Dunger, S. 172.

9 vgl. Telemedizinische Methoden in der Patientenversorgung - Begriffliche Verortung, S.2 unter folgendem Link: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Telemedizin_Telematik/Telemedizin/Telemedizinische_Methoden_in_der_Patientenversorgung_Begriffliche_Verortung.pdf (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).

10 Dochow, MedR 2019, 636, 638.

11 Vgl. Dochow, MedR 2019, 636, 637.

12 Dochow, MedR 2019, 636, 637 f.

13 MedR-Komm/ Mand § 9 HWG Rn. 8.

14 Hahn, Telemedizin, S. 1.

15 Ex/Amelung, G&S 2018 , S. 29 (siehe Tabelle).

16 Hahn, Telemdizin, S. 50.

17 MedR-Komm/ Rehborn, § 7 MBOÄ, Rn. 10.

18 Vgl. Hahn, Telemedizin, S. 5 f.

19 Ebert, Klartext 2018, 4, 5.

20 Locher, Bayrisches Ärzteblatt, 2017, S. 514 f.

21 Hahn, MedR 2018, 384, 387.

22 Hahn, MedR 2018, 384, 387.

23 Kalb, GesR 2018, 481.

24 Kalb, GesR 2018, 481.

25 Heinze, Aerztliches Vereinsblatt für Deutschland, 1876, S. 147.

26 Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991, S. 288.

27 Locher, Bayrisches Ärzteblatt, 2017, S. 514 f.

28 Kalb, GesR 2018, 481.

29 DÄBl., 108(25): A-1439 / B-1211 / C-1207.

30 Hahn, MedR 2018, 384, 387.

31 RGBl. 1927, Teil I, S. 62.

32 Locher, Bayrisches Ärzteblatt, 2017, S. 514, 515; Taupitz, Die Standesordnung der freien Berufe, 1991, S. 288 f.

33 Hahn, Telemedizin, S. 3.

34 Hahn, Telemedizin, S. 4.

35 MedR-Komm/ Rehborn Präambel Rn. 4 f.

36 Vgl. Stellpflug, GesR 2019, 76 f.

37 Vgl. MedR-Komm/ J. Prütting/Merrem, § 630a BGB Rn. 76.

38 Hahn, MedR 2018, 384, 385.

39 BGH, NJW 1979, 1248 f.

40 Ulsenheimer/Heinamann, MedR 1999, 197, 198 mwN.

41 Ulsenheimer/Heinamann, MedR 1999, 197, 198.

42 Ex/Amelung, G&S, 2018, S. 26.

43 Katzenmeier, MedR 2019, 259, 264.

44 Etezadzadeh, Smart City - Made in Germany, S. 186; so auch Braun, MedR 2018, 563.

45 Ebert, Klartext 2018, 4, 8.

46 Braun, MedR 2018, 563 f.

47 Katzenmeier, MedR 2019, 259, 267; Kindel, ÄrzteZeitung, 02.05.2018.

48 Braun, MedR 2018, 563, 564.

49 Vgl. Koalitionsvertrag von 2018, S. 101 f., Zeilen 4726 - 4732, abrufbar hier: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1 (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).

50 Braun, MedR 2018, 563.

51 MBl. NRW. 2018 S. 716.

52 MedR-Komm/ Rehborn § 7 MBOÄ Rn. 11 mwN.

53 MedR-Komm/ Rehborn § 7 MBOÄ Rn. 10.

54 Vgl. Braun, MedR 2018, 563 f. mwN.

55 Vgl. MedR-Komm/ Rehborn, § 7 MBOÄ Rn. 10.

56 Braun, MedR 2018, 563, 565.

57 LG München I, WRP 2019, 1621-1625.

58 Vgl. OLG Köln, Urt. v. 10.8.2012, 6 U 235/11, II.2.b; Kalb, GesR 2018, 481, 485.

59 Az.: 33 O 4026/18; Vgl. Die (Un-)Zulässigkeit der Werbung für digitale Fernbehandlung unter: https://medizinrecht-blog.de/digitalisierung/die-un-zulaessigkeit-der-werbung-fuer-digitale-fernbehandlung/ (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).

60 Artikel 5 DVG vom 09.12.2019 BGBl. I S. 2562.

61 Vgl. Pressegespräch docdirect, Downloadlink: https://www.kvbw-admin.de/api/download.php?id=3222 (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).

62 Vgl. Krüger-Brand, Deutsches Ärzteblatt PP 2019, 541, 542 siehe Tabelle.

63 Kolbek, medical-tribune, S. 1; vgl. https://telemedizin.charite.de/forschung/fontane/tim_hf2/ (zuletzt aufgerufen am 01.03.2020).

64 Vgl. Sommer, E-Health-Com, Heft. 6, 2019, S. 26 ff.

65 Vgl. Grzymek/Puntschuh, Was Europa über Algorithmen weiß und denkt, siehe Abbildung S. 27 f.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Fernbehandlung durch Ärzte. Zulässigkeit der Durchführung und Werbung nach aktuellem Rechtsstand
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
15
Autor
Jahr
2020
Seiten
32
Katalognummer
V953393
ISBN (eBook)
9783346296900
ISBN (Buch)
9783346296917
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Gewidmet meinen lieben Eltern: Dr.-Ing. Dieter Renneckendorf Gisela Hillebrand-Renneckendorf
Schlagworte
fernbehandlung, ärzte, zulässigkeit, durchführung, werbung, rechtsstand
Arbeit zitieren
Peter Renneckendorf (Autor:in), 2020, Fernbehandlung durch Ärzte. Zulässigkeit der Durchführung und Werbung nach aktuellem Rechtsstand, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/953393

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Fernbehandlung durch Ärzte. Zulässigkeit der Durchführung und Werbung nach aktuellem Rechtsstand



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden