Vorzeitlicher Verlust der Eltern. Die Trauer von Kindern

Ein Vergleich der systemischen und personzentrierten Beratung zur Trauerbegleitung


Masterarbeit, 2020

88 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

I Theoretische Grundlagen

2 Bedeutung der Trauer
2.1 Umgang mit Tod und Trauer In der Gesellschaft
2.2 Stand der Forschung
2.2.1 Normale Trauer
2.2.2 Komplizierte Trauer
2.2.3 Depressionen und Traumatisierungen im Kindesalter

3 Das Todeskonzept von Kindern

4 Die Trauerverarbeitung im Kindesalter
4.1 Trauer und Verlust in der Bindungstheorie
4.2 Trauer und Verlust in der Psychoanalyse
4.3 Trauer und Verlust in den Entwicklungsaufgaben nach Erikson
4.4 Trauer und Verlust in der Stressforschung
4.5 Die Trauerphasen/Traueraufgaben

5 Einflussfaktoren auf die Trauerverarbeitung
5.1 Die Familie - der verstorbene und lebende Elternteil
5.2 Die Umstände des Todes
5.3 Das Copingmodell der Kognitiven Stresstheorie

II Vergleich der Beratungskonzepte

6 Beratungsansätze zur Trauerarbeit für Kinder
6.1 Systemische Beratung
6.1.1 Zum Verständnis systemischer Trauerarbeit
6.1.2 Methoden und Interventionen für Kinder
6.2 Personzentrierte Beratung
6.2.1 Zum Verständnis personzentrierter Trauerarbeit
6.2.2 Methoden und Interventionen für Kinder

III DISKUSSION

7 Ausblick und Implikationen für die Beratung

8 Literaturverzeichnis

„Nur in der Kindheit kann der Tod alle Möglichkeiten des Liebens und Geliebtwerdens vernichten“ (Bürgin, 1989: 56)

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Copingaufgaben

Abbildung 2: Copingmodell in der kognitiven Stresstheorie

Abbildung 3: Familienaktualisierungstendenz im Wandel

1 Einleitung

In der Bundesrepublik Deutschland leben circa 6.977.000 Millionen Kinder im Alter von 0-10 Jahren (Statistisches Bundesamt, 2012). Darunter liegt der Anteil an Waisenkindern bei 27.457, davon sind 27.263 Halbwaisen und 194 Vollwaisen. Somit ist jedes 254. Kind in Deutschland von mindestens einem elterlichen Verlust betroffen. Je höher das Lebensalter des Kindes ist, desto mehr steigt die Betroffenenzahl (DRVB, 2019, S. 163). Ein frühzeitiger elterlicher Verlust stellt somit nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ ein gesellschaftlich relevantes Problem dar. Tod und Trauer sind ein immanenter Bestandteil des Lebens, gleichwohl stellt der vorzeitige elterliche Verlust im Kindesalter eine existenzielle Verlusterfahrung dar, die mit keiner anderen Herausforderung im Leben vergleichbar ist (Tyrkas, 2017, S. 46).

Kinder werden mit ihrer Trauer häufig übersehen und nicht adäquat aufgefangen. Dabei haben gerade Heranwachsende – abhängig von ihrem Entwicklungsstand – besondere Bedürfnisse bei der Verarbeitung von Trauer (ebd.). Zu diesem Missstand hat auch die Kinderkommission des Deutschen Bundestages (2011, S. 8-14) Stellung bezogen und plädierte für eine gesellschaftliche Enttabuisierung des Todes und mehr nennenswerten Forschungen im deutschsprachigen Raum zum Umgang mit kindlicher Trauer. Forschungsergebnisse sollten Berücksichtigung in den Ausbildungscurricula der Pädagog*innen finden, gleichwohl müssten mehr koordinierte Netzwerke installiert werden, um die Familien in ihrer Trauerarbeit angemessen zu begleiten. Fundiertes Fachwissen zur Entwicklung von Kindern, den Trauerphasen und den Einflussfaktoren auf diese sowie die gesellschaftlichen Bedingungen sollen dazu beitragen, sich dem Thema Trauerarbeit anzunähern. Ausgehend vom eruierten Bedarf der Kinder ist die Leitfrage der vorliegenden Arbeit, inwiefern die Konzepte der systemischen und personzentrierten Beratung für die Trauerverarbeitung von Kindern indiziert sind.

Um das Thema im gegebenen Rahmen bearbeitbar zu machen, wurde die Fragestellung weiter spezifiziert. Es werden primär die entwicklungspsychologischen Aspekte des elterlichen Verlustes thematisiert, schwerpunktmäßig wird dabei die frühe und mittlere Kindheit bis zum Übergang in die weiterführende Schule fokussiert (0-10 Jahre). Diese Arbeit inkludiert eine Halb- und Vollverwaisung, obgleich ersteres quantitativ deutlich häufiger in Deutschland auftritt und dementsprechend in der Literatur umfassender behandelt wird. Dabei gilt es zu beachten, dass die Auswirkungen und Implikationen von sozialer Verwaisung sowie der Verlust eines Elternteils durch Trennung oder Scheidung nicht beleuchtet werden. Methodisch ist diese Arbeit literaturgestützt verfasst worden. Wie in Deutschland gebräuchlich wird der Begriff der Trauerbegleitung synonym zur Trauerberatung verwendet und konzeptionell zusammengeführt.

Im ersten Teil der Arbeit werden der Umgang mit Tod und Trauer in der westlichen Gesellschaft sowie eine Zusammenfassung zum Stand der Forschung als Annäherung an die Thematik dargelegt. Darauffolgend wird als Diskussionsgrundlage das Todeskonzept von Kindern in den verschiedenen Entwicklungsphasen dargestellt. Die entwicklungspsychologischen Grundlagen der Entwicklung von Kindern im Hinblick auf Trauer und Verlusterfahrungen werden im vierten Kapitel anhand ausgewählter Theorien dargestellt wie der Bindungstheorie von Bowlby, dem epigenetischen Entwicklungsmodell von Erikson sowie anhand von Ansätzen aus der Psychoanalyse und der Stressforschung beschrieben. Zudem werden die Trauerphasen und die Traueraufgabenmodelle erläutert und hinsichtlich ihrer Relevanz für die Trauerberatung bewertet. Der erste Teil dieser Arbeit schließt mit relevanten Einflussfaktoren auf die kindliche Trauerverarbeitung ab, die im fünften Kapitel dargestellt werden.

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird auf der Folie der im ersten Teil dargestellten Erkenntnisse zur Trauerforschung und entwicklungspsychologischer Konzepte zur Trauerverarbeitung im Kindesalter die systemische und personzentrierte Beratung vorgestellt, anschließend gegenübergestellt und diskutiert, um abschließend erste Implikationen für die Beratung zur Trauerbegleitung von Kindern darzustellen.

I Theoretische Grundlagen

2 Bedeutung der Trauer

2.1 Umgang mit Tod und Trauer In der Gesellschaft

Der Umgang mit dem Versterben, dem Tod und der Trauer ist heute in westlichen Gesellschaften kein den Alltag bestimmender Bestandteil des Lebens mehr (Lammer, 2014, S. 4f.). Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt über 80 Jahre, sodass sich innerhalb einer Kernfamilie nur noch circa alle 15-20 Jahre ein Todesfall ereignet. Somit sinkt auch das individuelle Risiko eines frühzeitigen elterlichen Verlustes, folglich ist das Thema der Trauerbewältigung ein ungewohntes. Die Faktizität der menschlichen Endlichkeit wird immer weiter abgewendet und verdrängt, einerseits durch den enormen medizinischen Fortschritt, andererseits ist das Sterben institutionalisiert worden. Die Menschen sterben zu 50 % in Krankenhäusern und zu 25-30 % in Seniorenheimen anstatt zu Hause im Beisein der Angehörigen, ein Abschied-Nehmen wird somit erschwert. Durch die „Individualisierung von Lebenslagen“, den damit einhergehenden Traditionsschwund und einer weitgehenden Konventionsfreiheit herrscht Unsicherheit im Umgang mit den Angehörigen eines Trauerfalls (Beck, 1986, zit. n. Lammer, 2014, S. 6f.).

Konträr dazu entstand Ende der 60er Jahre die Hospizbewegung, die zur Enttabuisierung des Themas Tod und Trauer beitragen will. In Deutschland gibt es mittlerweile etwa 1.720 ambulante und stationäre Hospize. Die Intention ist es, ein würdevolles Sterben für die Kranken und zeitgleich einen Raum des Abschiednehmens für die Angehörigen zu ermöglichen (Backhaus, 2017, S. 29f.). Ein würdevoller Umgang mit dem Thema Tod soll gewährleistet werden, indem die Hospitalisierung des Sterbens abgewandt wird, sodass möglichst viele Menschen im Kreis der Familie zu Hause oder im Hospiz und ohne Schmerzen die Schwelle zum Tod übertreten. Durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pflegepersonal, (Sozial-)Pädagog*innen, Psycholog*innen und Ärzt*innen wird die Begleitung trauernder Menschen sichergestellt. Die Hospizbewegung hält Einzug in die Trauerbegleitung durch Trauercafés, Trauergruppen, Selbsthilfeorganisationen sowie dem Angebot der Einzelgespräche für Hinterbliebene. Krankenhäuser, Seniorenheime und Palliativstationen bieten zunehmend Angebote für Trauernde an, diese Angebote sind allerdings derzeit nicht ubiquitär. Trotz der Hospizbewegung finden im 21. Jahrhundert Bestattungen häufig anonym ohne Trauerfeier oder mit zeitlich isolierter Trauerfeier statt (Lammer, 2014, S. 7). Durch die medizinischen Möglichkeiten ist die Konfrontation mit Trauer kein inhärenter Bestandteil des menschlichen Lebens mehr, es wird versucht über alle emotionalen Zustände die Kontrolle zu erlangen (ebd.). Intensive Traurigkeit kann aber eine erlösende Funktion haben, wie Studien zeigen (Horwitz & Wakefield, 2007, S. 225), und sollte daher nicht aus dem Leben verbannt oder pathologisiert werden (ebd.; s. Kap. 2.2.2).

Es gibt keine gewachsene gesellschaftliche Anerkennung für die Bedeutung der Erfahrungen von Trennung und Verlust in der Kindheit. Es gibt, so schien es mir oft, eine Art von flachem Bewusstsein über diese Art der Vorgänge. Die Flachheit besteht darin, dass etwas faktisch zwar anerkannt ist, aber nicht gefühlt werden kann […] (Lang-Langer, 2009, S. 10).

Durch die Permanenz des gesellschaftlichen Wandels ist eine Hospitalisierung und Individualisierung des Sterbens und der Trauer eingetreten, die den Zugang zu den Emotionen zusätzlich erschwert, somit steigt der Bedarf an professioneller, auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Trauerforschung basierenden Trauerbegleitung (Lammer, 2014, S. 7). Trauerforschung beschäftigt sich vornehmlich mit den Reaktionen auf eine Verlusterfahrung. Nachfolgend wird anhand empirischer Daten ein Einblick in den Stand der Forschung gegeben, differenziert nach Trauerarten, Trauerreaktionen und fokussiert auf trauernde Kinder.

2.2 Stand der Forschung

Zahlreiche Studien belegen, dass ein elterlicher Verlust einen deutlichen Risikofaktor in der Entwicklung eines Kindes darstellt. Die Ressourcen zur Verteilung von Lebenschancen werden zum Großteil durch die Eltern zur Verfügung gestellt. Wenn ein Elternteil stirbt oder sogar beide, sinken somit die Lebenschancen, insofern die Ressourcenausstattung nicht anderweitig gesichert werden kann, um die soziale Ungleichheit abzufedern (Hillmert, 2002, S. 44f.). Hillmert zeigte beispielsweise in seiner Studie auf, dass ein elterlicher Verlust mit Restriktionen auf emotionaler, kognitiver, sozialer als auch ökonomischer Ebene einhergeht, was die Bildungskarrieren der Heranwachsenden negativ beeinflusst (ebd., S. 50f.). Das Ausmaß der Restriktionen ist abhängig von der individuellen, der familiären Ressourcenausstattung und den vorhandenen Kompensationsstrategien.

Einer Studie der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zufolge leben circa 15 % der Kinder mit einem chronisch schwer erkrankten Elternteil zusammen, lediglich 56 % aller Kinder werden im Endstadium einer lebensbedrohlichen Erkrankung über den bevorstehenden Tod des Elternteils informiert und auf ihn vorbereitet (Tyrkas, 2017, S. 46). Trotz der gesellschaftlich steigenden Sensibilität für psychotherapeutische Behandlungen wird die Einbeziehung von nahen Angehörigen in die medizinische Versorgung aufgrund der ubiquitären Ökonomisierung und Bürokratisierung des Gesundheitswesens weiterhin vernachlässigt (Haagen et al., 2013, S. 3).

Eine Studie von Becker et al. (2010) kam zu dem Ergebnis, dass Ärzt*innen den Eindruck hatten, 7-mal länger mit den Angehörigen gesprochen zu haben, als dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Stattdessen wenden sie an einem Vollzeitarbeitstag 0,9 % ihrer Zeit für die Kommunikation mit Angehörigen auf, dies entspricht 20 Sekunden pro Patient (ebd., S. 3), was die Vermutung eines Bedarfs an Trauerbegleitung nahelegt.

Über die Wirkung von Trauerbegleitung auf Kinder bestehen derzeit keine aktuellen Forschungsergebnisse. Die Forschungsergebnisse zur Trauerbegleitung Erwachsener sind spärlich und zudem nur bedingt auf Kinder übertragbar. Ein Projekt des ALPHA Rheinlands (2009) untersuchte die Wirkung von Trauerbegleitung bei 134 Erwachsenen und kam zu dem Ergebnis, dass bezüglich der Trauersymptomatik der Betroffenen wenig Verbesserung zu verzeichnen war, sich jedoch das Kohärenzempfinden und der Umgang mit Gefühlen verbesserte (Wissert, 2009, o.S.). Eine generelle Wirksamkeit von Trauerbegleitung konnte jedoch bislang nicht bewiesen werden (ebd., s. Kap. 2.2.1). Zudem zeigte sich in einer Studie von Fortner (2000) bei „normaler Trauer“ eine signifikante Verschlechterung durch Trauerberatung, die ohne diese nicht aufgetreten wäre. Diese Studie wird vielfach in der Wirkungsforschung von Trauerbegleitung rezipiert, wurde allerdings nie publiziert (Wissert, 2009, o.S.; Langenmayr, 2013, S. 232).

Als besonders wirksam erweist Trauerberatung sich bei komplizierten Trauerverläufen und wenn die Initiative zur Trauerbegleitung intrinsisch motiviert ist. Zudem wurde in dem Projekt des ALPHA Rheinlands von Wissert (2009) festgestellt, dass eine Partizipationsmöglichkeit am Beratungsprozess zu einer verbesserten Wirksamkeit führt. Des Weiteren hat sich in einer Studie von Jerneizig und Langenmayr (1992) die personzentrierte Trauertherapie als effektiv erwiesen. Insbesondere Trauersymptomatiken wie Depressivität, Nervosität und Konzentrationsschwierigkeiten wurden dadurch gelindert. Auf somatischer Ebene zeigte die personzentrierte Trauertherapie den größten Effekt auf Schlafstörungen (Langenmayr, 2013, S. 229). Hier wird im Vergleich zur Untersuchung ALPHA Rheinlands die divergierende Forschungslage deutlich. Es gab bei der Untersuchung von Jerneizig und Langenmayr (1992) jedoch keine Kontrollgruppe. Bei einer Untersuchung von Black und Urbanowicz (1987) von 21 Familien, bei denen ein Elternteil starb und die infolgedessen regelmäßig an familientherapeutischen Sitzungen teilnahmen, zeigte sich nach einem Jahr ein signifikanter Unterschied zur Kontrollgruppe, insofern als die hinterbliebenen Elternteile weniger deprimiert waren und die Kinder weniger Nervosität zeigten (Langenmayr, 2013, S. 229).

Eine größer angelegte Studie von Allumbaugh und Hoyt (1999) mit 2.284 Trauernden stellte fest, dass die Beziehung zum/zur Verstorbenen relevant für die Effektivität der Beratung ist, sich aber insgesamt geringe bis moderate Effekte durch Trauerbegleitung konstatieren ließen (Langenmayr, 2013, S. 232).

Zusammenfassend stellt die derzeitige Studienlage fest, dass sich Trauerberatung bei der sogenannten „normalen Trauer“ (s. Kap. 2.2.1) als wenig effektiv erweist und somit nicht von Bedeutung ist. Lediglich bei „komplizierter Trauer“ ist eine professionelle Begleitung indiziert (Langenmayr, 2013, S. 232). Aufgrund der spärlichen Forschungslage ist dieser Forschungsstand allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Die unterschiedlichen Forschungsergebnisse sind sicherlich auch vor dem Hintergrund der schwankenden Qualität von Beratung zu interpretieren, da Trauerberater*innen nicht zwangsläufig ausgebildet sein müssen und Beratung bzw. Berater*in keine geschützten Begriffe sind (ebd., S. 233). Daher sind aktuellere Forschungen zur Trauerbegleitung dringend anzustreben, in denen nicht die generelle Wirksamkeit thematisiert wird, sondern die Wirkfaktoren von Beratung, sodass diese Eingang in die Qualitätssicherung und Steuerung von geeigneten Beratungssettings finden können. Nachfolgend wird zunächst „normale Trauer“ in Abgrenzung von „komplizierter Trauer“ dargestellt.

2.2.1 Normale Trauer

Der Begriff der Trauer hat seinen Ursprung aus dem angelsächsischen „drusian“ und bedeutet „schlaff sein, nachlassen, aufhören“ (mittelhochdeutsch: trure) (Kluge, 1967, S. 787). Das Trauern selber stellt eine normale Reaktion auf den Verlust eines nahestehenden Menschen dar (Lammer, 2014, S. 2f.). Trauern kann als „Gewahrwerden und schmerzliches Innesein von unterschiedlich langanhaltenden oder endgültigen Verlusten“ (Rehberger, 2004, zit. n. Haagen et al., 2013, S. 9) übersetzt werden. Trauer ist nicht pathologisch, sondern ein bedeutender psychohygienischer Prozess. Das Phänomen der Trauer kann viele Gesichter haben und divergierende diffuse Symptome aufweisen. Dies ist insbesondere von der altersspezifischen Entwicklung des Kindes und auch von seiner/ihrer Fähigkeit zur Emotionsregulation abhängig (Haagen et al., 2003, S. 28). Veränderungen auf psychischer, geistiger, physischer Ebene sind möglich, ebenso kann das (Sozial-)Verhalten andersartig sein (Lammer, 2014, S. 19f.). Zugleich sind Wahrnehmungsstörungen in Form von Derealisationen oder Depersonalisierungen beobachtbar sowie Schuldgefühle, Aggressivität und/oder Störungen der Hyperkinetik (ebd., S. 15). Die Beeinträchtigungen der Affekte kann zur zeitweisen Desorganisation des Verhaltens führen. Langfristig kann eine Verlusterfahrung jedoch auch persönliches Wachstum ermöglichen (Wittkowski & Scheuchenpflug, 2016, S. 107).

Säuglinge im Alter von 0 bis 2 Jahren reagieren meist nicht auf den Tod direkt, sondern auf dessen Implikationen. Die Trennung von der Bezugsperson und die Veränderungen in der Säuglingspflege als auch im Tagesablauf führen zu erhöhten Trennungsängsten und Regulationsstörungen (anhaltendes Weinen, Schreien, Apathie). Das Urvertrauen des Kindes wird empfindlich gestört, was sich auf die Beziehungsgestaltung im späteren Leben auswirken kann (Haagen et al., 2013, S. 25).

Kleinkinder im Alter von 3 bis 5 Jahren weisen häufig erhöhte Verlustängste sowie regressive Verhaltensweisen auf (z.B. Daumenlutschen, infantileres Sprachverhalten, Rückzug, Entwicklungsstagnation). Das Explorationsverhalten wird sekundär, wohingegen das Bindungssystem hoch aktiv ist (Haagen et al., 2013, S. 27f.; s. Kap. 4.1). Nach der weltweit anerkannten und aktuellen WHO-Diagnoseklassifikation der Medizin, die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10, engl.: International Statistical Classification of Diseases an Related Health Problems) ist eine ausgeprägte Trennungsangst im Kindesalter mit einer einhergehenden Beeinträchtigung des Sozialverhaltens der Klassifikation nach keine Anpassungsstörung oder Posttraumatische Belastungsstörung, sondern eine emotionale Störung (F93.0) (DIMDI 2020a, o.S.).

Zwischen dem 6. und dem 9. Lebensjahr ist die Trauer häufig durch somatische Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit oder depressiver Symptomatik gekennzeichnet. Ebenso können Emotionen von Wut oder Schuld gegenüber dem/der Verstorbenen oder anderen nahen Bezugspersonen auftreten, die den Tod nicht verhindern konnten. Diese Aggressionen können zu Konflikten in der Schule oder im sozialen Umfeld des Kindes führen (Haagen et al., 2013, S. 30).

Nach heutigem Erkenntnisstand ist die Symptomatik von Trauer höchst individuell ausgeprägt und verläuft nicht nach einem graduellen Phasenmodell. Ein Trauerprozess über eine Dauer von 2 bis 5 Jahren ist keine Seltenheit, wobei der Tiefpunkt der Trauer bei 76 % der Befragten in Deutschland perimortal eintritt (Lammer, 2014, S. 22). Zudem konnten auf physiologischer Ebene bei den Trauernden in den ersten zwei Wochen erhöhte Kortisolwerte und Blutdruckwerte festgestellt werden (Wagner, 2016, S. 250). Ebenso wird auf somatischer Ebene häufig über Schlaf- und Verdauungsstörungen, Enge in der Brust und Schluchzen berichtet (Wass, 2003, S. 102). Dies deutet auf die vielfältigen Ausdrucksformen von Trauer hin. In Prävalenzstudien weisen 65-95 % der Trauernden einen normalen Trauerverlauf auf, der durch eine kontinuierliche Abnahme der Trauersymptomatiken gekennzeichnet ist.

Nachfolgend wird die komplizierte Trauer in Abgrenzung zur normalen Trauer beschrieben.

2.2.2 Komplizierte Trauer

Der Ausdruck pathologische Trauer wird häufig synonym für komplizierte Trauer wie auch anhaltende Trauerstörung verwendet, wobei sich die beiden letzten Begrifflichkeiten vor allem im deutschsprachigen Raum etabliert haben. In der Forschung wird bisweilen kritisch diskutiert, ob langanhaltende Trauer eine eigenständige psychische Störung darstellt (Wagner, 2016, S. 251). Aufgrund fehlender empirischer Evidenz wurde die Aufnahme in den Katalog des DSM-5 vor drei Jahren verweigert (Wagner, 2016, S. 254f.). Bislang werden pathologische Trauerreaktionen im ICD-10 vornehmlich unter der Anpassungsstörung (F43.28) diagnostiziert (Wagner, 2016, S. 253). Es wird diskutiert, ob im ICD-11 die Diagnose „Anhaltende Trauerstörung“ mit folgender Symptomatik aufgenommen wird:

a) Das Diagnostische Kriterium für die anhaltende Trauerstörung ist dann erfüllt, wenn die Trauersymptomatik sich durch den Tod einer nahestehenden Person entwickelt hat.
b) Eine anhaltende Trauerstörung kann nur dann diagnostiziert werden, wenn die Trauerreaktion außerhalb der normativen Erwartungen des kulturellen Kontextes der Person liegen (mindestens also sechs Monate nach dem Tod).
c) Trennungsschmerz: das Gefühl von starker Sehnsucht und Suchen nach der verstorbenen Person, welches sowohl körperliches als auch emotionales Leiden fast täglich hervorruft.
d) Psychosoziale Schwierigkeiten: Die Belastungen haben klinischen Krankheitswert und behindern die betroffene Person in allen wichtigen Lebensbereichen.
e) Zusätzlich sollten fünf oder mehr der folgenden Symptome täglich oder zu einem beeinträchtigenden Ausmaß auftreten

1) Unsicherheit bezüglich der eigenen Gefühle oder der Rolle im Leben
2) Schwierigkeiten, den Verlust zu akzeptieren
3) Vermeidung von Erinnerungen an den Verlust
4) Unfähigkeiten, anderen Menschen seit dem Verlust zu vertrauen
5) Gefühl von Verbitterung und Wut in Bezug auf den Verlust
6) Schwierigkeit, mit dem Leben voranzugehen
7) Emotionale Taubheit
8) Einsamkeitsgefühle und Sinnlosigkeit seit dem Tod
9) Gefühl von Schock und Erstarrung seit dem Verlust (Jordan & Litz, 2014, S. 182)

Diese Symptomatik ist somit vor allem gekennzeichnet durch starken, anhaltenden und nicht abflachenden Trennungsschmerz sowie traumatische Beschwerden. Deren Prävalenz liegt international bei 15-20 % (Wittkowski & Scheuchenpflug, 2016, S. 108). Für die Aufnahme der anhaltenden Trauerstörung in den ICD-11 spricht die Ermöglichung einer frühzeitigen professionellen Hilfe, um Chronifizierungen zu vermeiden (Wagner, 2016, S. 253f.).

Dies ist im Hinblick auf die Steuerung von gezielten Interventionsangeboten für hinterbliebene Kinder mit einer anhaltenden Trauerstörung essenziell. Eine anhaltende Trauerstörung respektive komplizierte Trauer im Kindesalter zeigt sich auf Affektebene u.a. dadurch, dass regressive Verhaltensweisen für mehr als einige Wochen anhalten und eine manische Fröhlichkeit beim Kind entsteht. Auf physischer Ebene tritt eine plötzliche psychosomatische Krankheit beim Kind auf, die länger als ein halbes Jahr anhält (Spiegel, 1973, S. 84). Zudem konstituieren sich auf der sozial-kognitiven Ebene neue Verhaltensweisen wie beispielsweise ein massiver Leistungseinbruch in der Schule, eine gänzliche Schulabstinenz oder der Verweigerung von Fremdbetreuung wie in der KiTa. Dies geht häufig mit Rückzugstendenzen oder der Angst einher, vom überlebenden Elternteil vorübergehend getrennt zu sein. Suizidgedanken und -absichten sind bei Kindern, die einen nahestehenden elterlichen Verlust erlitten haben, ebenso konstatiert worden, so sind bei Kindern im Alter von 8 bis 13 Jahren drei von vier Suizidversuche im Zusammenhang mit dem Verlust eines nahestehenden Menschen evoziert (Spiegel, 1973, S. 84f.). Die motivationalen Gründe des kindlichen Suizidversuchs sind vielschichtig: Sie liegen in dem Wunsch nach Wiedervereinigung mit dem/der Verstorbenen, der Flucht vor dem Schmerz sowie der Selbstbestrafung aufgrund ambivalenter Gefühle gegenüber dem Verstorbenen. Die Versagung dieser ambivalenten Gefühle kann bis in den Selbsthass münden, der autoaggressives Handeln hervorruft. Des Weiteren kann ein Suizidversuch von dem Wunsch nach Aufmerksamkeit durch die überlebende/n Bezugsperson/en geleitet sein.

Gegen eine eigenständige klinische Diagnoseaufnahme spricht, dass sich die anhaltende Trauerstörung bis auf die Persistenz der Symptomatik in ihren Ausprägungen äquivalent zu normaler Trauer verhält und ihre Symptome nicht eindeutig von dieser abgrenzbar sind (Wagner, 2016, S. 254). Zudem berücksichtigt das Zeitkriterium von sechs Monaten den Verlust eines Elternteils in der Kindheit nicht hinreichend. Für die Trauergruppe der Kinder ist ein längerfristiger Trauerprozess nicht ungewöhnlich, sodass es dabei noch weniger indiziert erscheint, vorschnell eine pathologische Trauer zu diagnostizieren. Eine Langzeitstudie von Melhem et al. (2011), welche die Reaktionen von 182 Kindern im Alter zwischen 7 und 18 Jahren bei einem vorzeitigen elterlichen Verlust untersuchte, ergab, dass nach drei Jahren 10,4 % der Betroffenen anhaltende Trauersymptomatiken aufwiesen. Bei 30,8 % der Probanden zeigten sich hingegen nach neun Monaten noch starke Trauerreaktionen, die langsam mit der Zeit abnahmen (ebd., S. 911).

Kinder und Jugendliche mit anhaltender Trauer weisen ein erhöhtes Risiko für eine komorbide Störung auf. Die häufigsten Begleiterkrankungen stellten Funktionsstörungen und/oder eine Depression dar. Bei langanhaltender Trauer des überlebenden Elternteils ist das kindliche Risiko für eine Komorbidität ebenso erhöht. Die physische und psychische Gesundheit des verbliebenen Elternteils ist einer der entscheidendsten Prädikatoren für das Wohlergehen des Kindes (Melhem et al., 2011, S. 917f.). Eine Studie von Bylund-Grenklo, Fürst, Nyberg et al. (2016), in der 13- bis 16-jährige Jugendliche in einem Zeitraum von sechs bis neun Jahren nach dem Tod eines Elternteils durch Krebs untersucht worden sind, kam zu dem Ergebnis, dass 49 % der Jugendlichen unter unverarbeiteter Trauer litten, sodass keine oder nur eine geringe Trauerlinderung zu verzeichnen war (ebd., S. 3095f.). Diese Jugendlichen hatten ein signifikant erhöhtes Risiko für Schlaflosigkeit, Müdigkeit und einer depressiven Erkrankung, insbesondere wenn die Erinnerung an den sich ereigneten Tod vermieden wurde.

Somit lässt sich festhalten, dass komplizierte Trauer an sich nicht pathologisch ist, sich jedoch bei einer Anhäufung von Risikofaktoren eine Pathogenität entwickeln kann (Lammer, 2014, S. 25). Zur Abwendung eines pathologischen Trauerverlaufs ist eine generelle Wirksamkeit von präventiven Trauermaßnahmen für alle Trauernden empirisch nicht nachgewiesen, die Maßnahmen wirkten nur bei Trauernden, bei denen bereits eine anhaltende Trauerstörung konstatiert wurde (Wagner, 2016, S. 254).

Die Studienlage deutet darauf hin, dass bei Kindern der Verlust eines Elternteils eine tendenziell langanhaltendere Trauerreaktion hervorruft. Wenn eine professionelle Trauerbegleitung indiziert ist, so sollte diese nicht nur das Kind, sondern auch den verwitweten Elternteil adressieren. Ein Zeitkriterium von sechs Monaten als Maß einer normalen Trauer ist demnach in Anbetracht verschiedener Trauergruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und einer Studienlage, die darauf hindeutet, dass Trauer generell ein längerer Prozess ist als angenommen, der allerdings in der westlichen Welt nur noch wenig Platz findet, kritisch zu hinterfragen (Wagner, 2016, S. 255). Trauer ist zwar ein schmerzliches, dennoch ein dem menschlichen Dasein inhärentes Gefühl, welches im 21. Jahrhundert zunehmend zu einer Depression oder anderen psychischen Erkrankungen transformiert wurde, sodass der Bereich legitimer Emotionen immer kleiner wird. Auf Dauer schadet Trauer dem Organismus, gleichwohl liegt sie in der menschlichen Natur (weiterführend Horwitz & Wakefield, 2007, S. 217-219).

Normalität (normale Trauer) und Anomalität (pathologische Trauer) befinden sich in einem Kontinuum, deren Unterteilung immer durch eine gewisse Willkür gekennzeichnet ist, die auf gesellschaftlichen und sozialen Werten beruht (Horwitz & Wakefield, S. 225; Lammer, 2014, S. 25). Aufgrund der dem Kind innewohnenden Sprunghaftigkeit und der eingeschränkten Möglichkeit zur Effektregulation ist die Grenze zwischen normaler und pathologischer Trauer bei Heranwachsenden fließend (Haagen et al., 2013, S. 40). Folglich ist es nach derzeitigem Erkenntnisstand ratsamer, von „erschwerter“ oder „komplizierter“ Trauer zu sprechen statt von pathologischer (Lammer, 2014, S. 25). Erst bei einer Kumulation von Risikofaktoren entwickelt sich die komplizierte Trauer derart pathogen, dass eine psychische Erkrankung entsteht, die von komplizierter Trauer zu differenzieren ist. Depressionen und Traumatisierungen sind die am häufigsten mit einem Verlust einhergehende Symptomatik, daher werden diese nachfolgend erläutert (Wittkowski & Scheuchenpflug, 2016, S. 108).

2.2.3 Depressionen und Traumatisierungen im Kindesalter

Die Bewältigungsmöglichkeiten des Kindes können bei einem derart fundamentalen Verlust wie dem elterlichen Tod versagen. Insofern die Bewältigungsmechanismen des Kindes dysfunktionale Ausprägungen annehmen, die die (Weiter-)Entwicklung des Kindes gefährden oder ein behandlungsbedürftiger, subjektiver Leidensdruck entsteht, ist von einer komplizierten Trauer die Rede, die verschiedene Symptomatiken evozieren kann (Haagen et al., 2013, S. 41).

Die Grenze zwischen Trauer und Depression ist nicht ganz eindeutig. Doch Trauer schwächt sich mit der Zeit ab und ist objektbezogen, wohingegen sich die Trauer in einer Depression nicht mehr lokalisieren lässt (Finke, 2010, S. 92). Hinzu treten Emotionen wie Schuldgefühle, Scham und ein Selbstwertverlust, zudem werden Aggressionen über den Verlust oft ausgespart. Sie würden eine gesunde Abgrenzungsenergie bilden, die jedoch mit einem depressiven Selbstkonzept unvereinbar sind. Die Depressive Episode ist nach dem ICD-10 ein psychopathologisches Syndrom innerhalb der diagnostischen Kategorie der Affektiven Störungen (F30-F39), die nach Ausprägungsgrad, begleitenden Symptomen und rezidivierendem Charakter klassifiziert wird (Leitliniengruppe Unipolare Depression, 2015, o.S.). Trauerreaktionen bei Kindern, deren „hervorstechendes Merkmal eine kurze oder längere depressive Reaktion oder eine Störung anderer Gefühle und des Sozialverhaltens [sind]“ gelten als Anpassungsstörung (F43.2) (DIMDI 2020b, o.S.). Der frühe Verlust eines Elternteils in der Kindheit begünstigt die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken (Lang-Langer, 2009, S. 15). Zudem leben Kinder, die sich in einer psychiatrischen Behandlung befinden, häufiger in Familien mit mindestens einem chronisch erkrankten Elternteil (Haagen et al., 2013, S. 41). Das Erscheinungsbild einer Depression im Kindesalter ist vielfältig.

Eine sehr typische Trauerreaktion bei Kindern ist die Verleugnung des existenziellen Verlustes (Lang-Langer, 2009, S. 87). Demzufolge wirken die hinterbliebenen Kinder häufig eher unauffällig und überangepasst und eine depressive Episode tritt erstmalig im Erwachsenenalter in Erscheinung (ebd., S. 15). Ebenso zeigt sich bei manchen Kindern nach einer mehrjährigen Latenzphase, in der das Kind keine behandlungsbedürftigen Symptome aufwies, unvorhergesehen eine prolongierte Trauerrektion mit einer physischen und/oder psychischen Symptomatik. Eine Studie von Worden (1996) gelang zu dem ähnlichen Ergebnis, dass nach etwa zwei Jahren die psychischen Auffälligkeiten nach einem elterlichen Verlust steigen (Haagen et al., 2013, S. 41f.).

Ein völlig unerwarteter Tod oder der Verlust beider Elternteile kann ein Trauma des Kindes evozieren. Die Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10, F43.1) ist eine Reaktion auf schwere Belastung/en (DIMDI 2020a, S. o.S.). Wenn das bedrohliche Ereignis die individuellen Bewältigungsressourcen übersteigt, kommt es zu „einer dauerhaften Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“ mit der Folge, dass die traumatische Erfahrung fragmentiert – und im Selbst nicht integriert wird (Cohen & Mannarino, 2004, zit. n. Haagen et al., 2013, S. 42f.). Ein elterlicher Verlust ist existenziell bedrohlich, „Kinder sind sich ihrer Abhängigkeit bewußt, und diejenigen, die früh im Leben ein Trauma erlitten, haben Angst“ (Kübler-Ross, 1998, S. 81).

Die Symptome einer Traumatisierung (im Kindesalter) sind weitreichend, die häufigsten sind Verhaltensstörungen, ein dauerhaft aktiviertes Bindungssystem bzw. starke Verlustängste, depressive Verstimmung, Angststörungen, Alpträume mit mythischen Phantasien (s. Kap. 3), somatoforme Störungsbilder, AD(H)S, Schuldgefühle, Flashbacks, Reinszenierung des Geschehenen im Spiel sowie ein Verlust des Urvertrauens mit einer pessimistischen Zukunftserwartung (Haagen et al., 2013, S. 43).

Die kindliche Entwicklung verläuft nicht linear, sondern in Phasen. Demnach kann sich der elterliche Verlust in der aktuellen Entwicklungsphase nicht bemerkbar machen, in der darauffolgenden allerdings in Stagnation oder Unfähigkeit, die anstehenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, münden (ebd.; s. Kap. 4).

Nachfolgend wird das Todeskonzept von Kindern näher erläutert, denn fundiertes Wissen über das altersspezifische Verständnis vom Tod bildet die Grundlage zur Entwicklung von Einfühlungsvermögen in die kindliche Trauerverarbeitung.

3 Das Todeskonzept von Kindern

Das kindliche Verständnis von Tod ist abweichend von dem eines Erwachsenen. Über die genauen Verständnisqualitäten von Kindern existieren divergierende Annahmen in der Entwicklungspsychologie. Mit dem Erleben und Verhalten des Menschen bezüglich der eigenen Sterblichkeit beschäftigt sich vornehmlich die Thanatopsychologie. Der Gegenstand der Thanatopsychologie ist interdisziplinär und widmet sich auch dem Umgang mit Tod und Trauer bei Hinterbliebenen (Wittkowski, 2000, o.S.). Das Konzept vom Tod umfasst: […] die Gesamtheit aller kognitiven Bewußtseinsinhalte (Begriffe, Vorstellungen, Bilder), die einem Kind oder einem Erwachsenen zur Beschreibung und Erklärung des Todes zur Verfügung stehen. Das Todeskonzept beinhaltet eine kognitive Komponente, an der primäre Wahrnehmung und Denken beteiligt sind, sowie eine emotionale Komponente, welche die mit einzelnen kognitiven Inhalten des Todeskonzepts verbundene Gefühle abdeckt (Wittkowski, 1990, S. 44).

Nachfolgend wird die Entwicklung des Todeskonzeptes von Kindern bis zum 10. Lebensjahr chronologisch und komprimiert dargestellt, unter Kontextualisierung ausgewählter, in Psychologie, Medizin und Erziehungswissenschaften bedeutenden Paradigmen.

Der Pionier der Psychoanalyse Sigmund Freud sprach dem Kind sowohl ein Verständnis für die Bedeutung des Todes als auch eine Furcht vor diesem ab: „Gestorben sein heißt für das Kind, […], soviel wie ‚fort sein‘, […]. Es unterscheidet nicht, auf welche Art diese Abwesenheit zustande kommt“ (Freud, zit. n. Tyrkas, 2017, S. 50). Zu einer gegenteiligen Erkenntnis gelang die Kinderpsychoanalytikerin Melanie Klein (1882-1960). Trotz ihrer freudianischen Ausrichtung ging sie davon aus, dass die Angst vor dem Tod die ursprünglichste und existenziellste Furcht im Leben ist und dieser alle anderen Ängste entspringen (Tyrkas, 2017, S. 51; s. Kap. 4.4).

Der Erforschung der emotionalen Reaktionen auf Trennung und Verlust im Säuglings- und Kleinkindalter hat sich vor allem der Kinderarzt John Bowlby gewidmet. Die Trennungsangst verhält sich seiner Ansicht nach äquivalent zur Todesangst und zeigt sich schon bei Säuglingen ab einem Alter von sechs bis dreizehn Monaten. Demnach geht auch Bowlby (zit. nach Tyrkas, 2017, S. 51) davon aus, dass die Angst vor dem elterlichen Verlust die ursprünglichste sei. Zudem entdeckte Bowlby bei Kindern einen spielerischen Umgang mit dem Thema Tod, welches sich durch das „Erforschen“ von toten Insekten oder der Vorliebe für Versteckenspielen äußert.

„Das wiederholte Auftauchen und Verschwinden des Objektes erzeugt für einen kurzen Moment den Verlust des Selbst. Dann folgt die Freude über das Wiederauftauchen. Der Säugling erfährt für den Moment eine limitierte Angstlust bei Verleugnung der dauerhaften Nichtexistenz des Objektes“ (Tyrkas, 2017: 51).

Dem Paradigma der angeborenen Angst folgend betrachtet der Psychoanalytiker und Vertreter der experimentellen Psychotherapie Irvin Yalom (2005) ebenso wie John Bowlby die Trennungsangst von der Mutter als Urangst im menschlichen Dasein, die mit der Todesangst einhergeht. Bei einem elterlichen Verlust ist der Objektverlust existenziell, da der Verlust eine Bedrohung des eigenen Überlebens darstellt und somit das Selbst fragil werden lässt (Tyrkas, 2017, S. 52).

Bis zum 3. Lebensjahr können Kinder den Tod kognitiv noch nicht begreifen, was ihn für das Kleinkind emotional umso bedrohlicher erscheinen lässt (Schwarz 2003, S. 198). Sie haben kein Konzept vom Tod und können demnach zwischen Tod und Trennung nicht unterscheiden (Haagen, Möller & Bürgin, 2013, S. 25). Die Trauerreaktionen äußern sich in dieser Entwicklungsstufe demnach auf einer elementaren Ebene in Ess-und Schlafstörungen, Wut, Zorn, Unlust, Apathie und/oder Angst, ebenso wie dem Suchen und Warten auf die/den Verstorbene/n (ebd.; Schwarz, 2003, S. 198; s. Kap. 4.1).

Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass das Todeskonzept in einem zweistufigen Modell erworben wird. Die erste Phase beginnt im Alter von vier bis zehn Jahren und die zweite über das zehnte Lebensjahr hinaus. Empirisch belegt ist, dass die Subkonzepte der Universalität, Irreversibilität, Non-Funktionalität und Kausalität des Todeskonzeptes sowohl sequentiell als auch gleichzeitig erworben werden (Wittkowski, 2000, o.S.; Wass, 2003, S. 88-91). Die erste Phase im Alter von vier bis zehn Jahren, in der sich das prämoderne Todeskonzept ausbildet, wird nachfolgend anhand der kognitiven Theorie Jean Piagets (1896-1980) erläutert. Kinder sind in einem Alter von drei bis fünf Jahren in der Phase des präoperationalen Denkens verhaftet (Schwarz, 2003, S. 199). Die präoperationale Denkweise ist:

- magisch, mythisch
- finalistisch – alles ist auf ein Ziel hin orientiert
- animistisch – alles ist belebt
- anthropomorph – alles trägt menschliche Züge
- egozentrisch – das Kind bezieht alles auf sich
- das Zeitverständnis ist mangelhaft (Schwarz, 2003, S. 199).

Somit impliziert das Denken der Kinder in dieser Altersstufe, dass der Tod reversibel und lediglich eine Form der Regeneration sei. Sie glauben nicht an die völlige Non- Funktionalität des Körpers (ebd.). Sie können in dieser Altersspanne zwischen den diametralen Zuständen des Lebens und des Todes nicht differenzieren, ihrer Auffassung nach kann ein Mensch beispielsweise auch „ein bisschen tot sein, ein Mensch sterbe nur durch absichtsvolles Handeln wie Tötung oder den eigenen Wunsch, nicht mehr leben zu wollen. Dies mündet in Aussagen wie beispielsweise ‚Warum wollte Papa tot sein?‘“ (Haagen et al., 2013, S. 27). In dieser „magischen Phase“ von Kindern, geprägt von mythischem Denken wie z.B. Animismus, präsentiert sich der Tod für sie vor allem symbolisch durch Dunkelheit und furchteinflößende Tiere und Geister (Tyrkas, 2017, S. 51). Spiritualität gilt als Ressource in der Konfrontation mit existenziellen Themen (ebd., S. 58). Bei Kindern dient die Symbolik von Engeln und anderen Fabelwesen dazu, die innere Repräsentanz des verstorbenen Elternteils aufrechtzuerhalten (Tyrkas, 2017, S. 58).

Durch den Egozentrismus und das magische Denken in der präoperationalen Phase ist zudem die Entwicklung von Allmachtsphantasien möglich, die das Kind zu dem Glauben (ver-)führen, es habe Macht über Leben und Tod (Schwarz, 2003, S. 199f.). Daher entwickeln Kleinkinder häufig Schuld- und Versagensgefühle, wenn die Mutter und/oder der Vater verstorben ist/sind. Das mangelnde Zeitverständnis mündet in dieser Altersstufe zu einer gewissen Sorglosigkeit gegenüber dem Tod. Der Respekt vor dem Tod entwickelt sich erst mit dem Verständnis des Universalitätsprinzips, welches hier meint, dass Zeit endlich und linear ist und somit der Tod unvermeidlich. Mit dem zunehmenden Erwerb des Todeskonzeptes wächst parallel zum Alter des Kindes die Angst vor der eigenen Sterblichkeit. Sie gehört zu den existenziellsten Emotionen und ihre Verdrängung begünstigt eine pathogene Eigendynamik (Wittkowski, 2000, S. o.S.; Wass, 2003, S. 91; Schwarz, 2003, S. 202).

Im Alter zwischen dem fünften bis zum siebten Lebensjahr bildet sich dieses Verständnis der Universalität des Lebens bzw. Todes aus, noch vor dem Verständnis der Non-Funktionalität. Zeitgleich befindet sich das Kind nach Piaget im Übergang zum konkret-operationalem Stadium (Schwarz, 2003, S. 200). Erst ab einem Alter von acht bis elf Jahren entwickelt sich ein „erwachsenes“ Verständnis vom Tod, welches impliziert, dass Kinder nur Pflanzen, Tiere und Menschen als sterbliche Lebewesen verstehen, die den Gesetzen der Irreversibilität, Non-Funktionalität und Kausalität des Todes unterliegen (Tyrkas, 2017, S. 51; Wittkowski, 2000, o.S.; Haagen, Möller & Bürgin, 2013, S. 23). Innerhalb des jeweiligen Alters existieren jedoch signifikante Unterschiede über das Verständnis gegenüber dem Tod, zudem entspricht das Entwicklungsalter nicht zwangsläufig dem chronologischen Alter (Schwarz, 2003, S. 197; Wass, 2003, S. 89).

Zudem regt der Tod eines Elternteils die Weiterentwicklung des Denkens durch den Äquilibrationsprozess maßgeblich an (Schwarz, 2003, S. 198). Bei der Äquilibration werden die neuen Erfahrungen in das bisherige Weltbild integriert. Dies hat die Ausbildung neuer kognitiver Strukturen zur Folge, in dem der Organismus des Kindes das Weltbild um neues Wissen adaptiert.

Ein weiterer Einflussfaktor auf die Entwicklung des Todeskonzepts ist der sukzessive Anstieg des Medienkonsums, welcher zu einer Abstraktion des Sterblichkeitsverständnisses führt. Die Distanz durch Film und Fernsehen verschleiert die Ernsthaftigkeit des Todes. Zudem leben in Kinderserien und -filmen die Held*innen am Ende meist wieder, was das Verstehen der Irreversibilität des Todes behindert. Deshalb sollten Angehörige über die entwicklungsspezifischen Bedürfnisse von Kindern informiert werden. Unbedachte oder gut gemeinte Aussagen wie „Der Papa ist an Krebs gestorben“ oder „Die Mama ist jetzt im Himmel“ führen zu falschen Vorstellungen bei den Kindern. Bedingt durch das präoperationale Denken stellen sich die Kinder das Gesagte wortwörtlich vor und entwickeln Furcht vor dem Meer oder es manifestieren sich Schlafstörungen aus Angst, die Mutter könnte plötzlich aus dem Himmel fallen oder der ganze Himmel könnte über sie einbrechen, da er schon zu viele Menschen aufgenommen habe (Schwarz, 2003, S. 197). Auch Äußerungen wie „Wir haben den lieben Papa leider verloren“ sollten gegenüber Kindern bis zum zehnten Lebensjahr vermieden werden, denn das Kind entwickelt die Annahme, es könne den Papa beim gründlichen Suchen schon wiederfinden. Allgemein berichten Kinder häufig von Halluzinationen, bei denen sie den Vater oder die Mutter gesehen und mit ihm/ihr am Bettrand geredet haben (Spiegel, 1973, S. 172). Am hilfreichsten ist es, mit Kindern authentisch und ehrlich über den Tod zu kommunizieren (Bowlby, 2006, S. 261; Wass, 2003, S. 100). Dies schließt die Vermittlung religiöser Vorstellungen z.B. von einem Leben nach dem Tode ein, solange diese einem authentischen Glauben entspringen. Dennoch sollte zwischen Überzeugungen und rationalem Todesverständnis differenziert werden, denn auch Kinder können, obwohl sie die Irreversibilität des Todes begriffen haben, an ein Leben nach dem Tod glauben (Wass, 2003, S. 89f.).

In der Theorie existieren divergierende Annahmen über den Verlust und seine Qualitäten. Im nachstehenden Kapitel wird als Grundlage für die im zweiten Teil dieser Arbeit anstehenden Diskussion die Trauerverarbeitung von Kindern anhand ausgewählter (entwicklungs-)psychologischer Konzepte dargestellt.

4 Die Trauerverarbeitung im Kindesalter

4.1 Trauer und Verlust in der Bindungstheorie

Im Folgenden wird der bindungstheoretische Ansatz zum Verlust oder Trennungsereignis eines Elternteils bei Kindern in den ersten Lebensjahren dargestellt. Das Bindungsverhalten wird abgeleitet aus der Bindungstheorie, die von John Bowlby (1907-1990) und Mary Ainsworth begründet (1913-1999) wurde (Burchartz, Hopf & Lutz, 2016, S. 112). Die Bindungstheorie beschäftigt sich seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts mit den Auswirkungen mangelnder mütterlicher Fürsorge (Bowlby, 1953 2005; zusammenfassend Stegmaier, 2008). Aus dieser bindungstheoretischen Perspektive werden mögliche Konsequenzen auf das Bindungsverhalten aufgezeigt, die beim elterlichen Verlust auftreten können. Bowlbys Theorie impliziert, dass der Säugling das angeborene Primärbedürfnis hat, nach Bindung zu streben und zu suchen. Je sicherer die Bindungsqualität eines Kindes ist, desto leichter und nachhaltiger lässt sich das Bindungsbestreben zu Gunsten des Explorationsverhaltens deaktivieren (Burchartz et al., 2016, S. 112). Das Streben nach Bindung wird vor allem durch eine Trennung von der primären Bezugsperson aktiviert. Ontogenetisch entscheidet sich bei Menschen in den ersten sechs Lebensmonaten, wer die primäre Bezugsperson ist, abhängig von den bisherigen Interaktionserfahrungen. Fortan ist das Band bis zum dritten Lebensjahr spezifisch an diese Person gebunden, gleichwohl können ab dem ersten Lebensjahr auch andere Bezugspersonen für das Kind bedeutsam werden, es zeigt jedoch eine deutliche Präferenzordnung (Bowlby & Schomburg, 1982, S. 64f., 161). Bei Sicherheit und Wohlbefinden schaltet sich das Explorationsverhalten des Kindes ein, welches essenziell für die Lern- und Weiterentwicklung des Kleinkindes ist. Im Alter von circa zwei Jahren nimmt das Explorationsverhalten bei einem natürlichen Entwicklungsverlauf deutlich zu, wobei sich das Kind noch seiner Bindung zur primären Bezugsperson rückversichert, z.B. durch Blicke oder aufsuchenden Körperkontakt während der Erkundungsphase (Stegmaier, 2008; Bowlby & Schomburg, 1982, S. 161). Das Bindungsverhalten hat gegenüber dem Explorationsverhalten des Kindes Priorität (Burchartz et al., 2016, S. 112).

Die Bindungstheorie wurde von Bowlbys Schülerin Mary Ainsworth 1969 modifiziert und erweitert, sie entwarf drei Kategorien zur Differenzierung kindlicher Bindungsstrategien, denen später eine weitere durch Main und Salomon (1986, zit. n. Stegmaier 2008, o.S.) hinzugefügt wurde (vgl. Bowlby & Schomburg, 1982, S. 137, 43). In ihrer Studie wurden Kinder im Alter von 12 Monaten in einer sogenannten standardisierten „fremden Situation“ gefilmt und untersucht, welchem Bindungstyp sie entsprechen (Stegmaier, 2008). In dieser „fremden Situation“ befindet sich das Kind in einem mit Spielzeug ausgestatteten fremden Raum, zusammen mit seiner Mutter. Nun werden verschiedene Szenarien durchgespielt, die wie folgt aussehen: Eine fremde Person tritt ein und nimmt mit der Mutter und dem Kind Kontakt auf. Insgesamt verlässt die Mutter jeweils zweimal für maximal drei Minuten den Raum, einmal mit und einmal ohne die fremde Person, die beim Kind zurückbleibt. Der/die Fremde kommt in der zweiten Sequenz erneut in den Raum, nachdem das Kind kurze Zeit allein war. Zum Schluss kehrt die Mutter zurück und der/die Fremde geht endgültig. Anhand des Verhaltens, welches das Kind bei der Wiedervereinigung mit der Mutter zeigt, wird der Bindungstyp des Kindes charakterisiert aufgrund der Annahme, dass das Bindungssystem vom Kleinkind durch die plötzliche Trennung aktiviert wird (Gebauer & Hüther, 2005, S. 40f.).

Es wird zwischen vier verschiedenen Bindungsstilen bzw. -qualitäten unterschieden, welche das Kind im späteren Leben in der Form von Bindungsrepräsentanzen internalisiert hat (Burchartz et al., 2016, S. 112), diese werden in der nachfolgenden Ausführung näher beschrieben (Stegmaier, 2008, o.S.; Bowlby, 1953 2005, S. 25-28). Die unsicher vermeidende Bindung entspricht dem A- Bindungstyp. Dabei vermeiden Kinder auffällig den Kontakt und kompensieren den Stress der Trennung durch ein oberflächliches Explorationsverhalten. Die Trennung lässt sie äußerlich unbeeindruckt, sie isolieren sich und verhalten sich ablehnend oder resigniert gegenüber der Bezugsperson.

Die sichere Bindung entspricht dem sogenannten B-Bindungstyp. Kennzeichnend für Kinder mit diesem Bindungsverhalten ist, dass sie Nähe und Distanz zur Bezugsperson adäquat regulieren können. Sie reagieren auf Trennung mit angemessener Trauer und Irritation und lassen sich daraufhin schnell wieder von ihrer Bezugsperson trösten und beruhigen.

Der unsicher ambivalente C-Bindungstyp verhält sich paradox und anhänglich gegenüber der Bezugsperson. Die Trennung verunsichert das Kind sehr und sein/ihr Bindungsbestreben ist außergewöhnlich aktiv, indem sie weinen, zur Tür laufen, um sich schlagen und sich kaum beruhigen lassen. In der Wiedervereinigung mit der Mutter1 verhalten sie sich dann insofern ambivalent, als sie abwechselnd anklammerndes und aggressiv-abweisendes Verhalten zeigen und nur schwer emotionale Balance und Einklang mit der Mutter finden. Das Verhalten der Eltern von unsicher-ambivalent gebundenen Kindern ist durch ein inkonsistentes Interaktionsverhalten gekennzeichnet. Es wird geschätzt, dass etwa 10-25 % der ein- bis anderthalbjährigen Kinder ein ambivalentes Beziehungsmuster aufweisen (Gebauer & Hüther, 2005, S. 115f.). Beispielhaft dafür steht das Verhalten der primären Bezugsperson, die ihr Kind mit Kontaktangeboten überschüttet, wenn es gerade keinen Bedarf dazu hat und es wiederum ignoriert, wenn das Kind traurig, ängstlich oder verzweifelt ist. Der vierte Bindungstyp ist die desorganisierte Typ-D Bindung. Diese Bindungsqualität wird durch ein desorientiertes, nicht auf die primäre Bezugsperson bezogenes Verhalten gekennzeichnet. Es äußert sich in apathischen Verhaltensweisen des Kindes wie Erstarren, Sich-im-Kreis-Drehen, Schaukeln und/oder anderen Selbstberuhigungsstrategien, die unter dem Begriff „Hospitalismus“2 zusammengefasst werden. Kindlicher Hospitalismus zählt nach dem ICD-10 zur Anpassungsstörung (F43.2) (DIMDI 2020b, o.S.). Manchmal vermischen sich bei dieser Bindungsqualität Verhaltensweisen aus den anderen Bindungstypen, weshalb dieser Typus schwer zu diagnostizieren ist.

Bei unsicher gebundenen Kindern des Typs A, C und D bestätigen sich beim Tod eines Elternteils ihre schlimmsten Befürchtungen, daher ist von einem atypischem Trauerverlauf auszugehen (Bowlby & Schomburg, 1982, S. 171). Der unsicher-vermeidende Bindungstyp A wird eine Verlusterfahrung verdrängen und der Trauerprozess beginnt mitunter erst mit jahrelanger Verzögerung, dennoch ist eine latente Anspannung und depressive Verstimmung erkennbar (ebd., S. 171). Bei dem unsicher-ambivalentem Bindungstyp C wird ein Trauerfall von starken Wutgefühlen, Selbstvorwürfen, Verzweiflung und Depression begleitet, diese Affekte treten länger als bei normaler Trauer auf. Ein solches Bindungsmuster wird auch als Angstbindung bezeichnet, welche durch eine Überabhängigkeit an andere gekennzeichnet ist. Zu diesem Bindungsstil neigen vermehrt Mädchen, die einen mütterlichen Verlust vor dem zehnten Lebensjahr erlitten haben (vgl. Bowlby, 2006, S. 291). Der Desorganisierte Bindungstyp D tendiert beim elterlichen Verlust dazu, diesem nahezu keine Bedeutung zuzumessen und die Trauer findet demnach kaum ihren Weg. Kinder mit diesem Bindungsmuster haben gelernt, dass ihnen ihre Sehnsucht nach Liebe und Fürsorge versagt geblieben ist (Bowbly, 2006, S. 229f.). Somit ist das Bindungssystem weitgehend deaktiviert worden und im späteren Leben wird jeder Versuch, eine affektive Bindung einzugehen, von ihnen selbst sogleich wieder sabotiert. Kinder, die im ersten Lebensjahr eine sichere Bindung dem Bindungstyp B entsprechend zu ihrer „Mutterfigur“ aufbauen konnten, aktivieren bei dem Verlust eines Elternteils Verhaltensweisen des Suchens nach der Bindungsperson. Diese können sich in zielloser Überaktivität, dem Herbeirufen des Verstorbenen und dem Herumwandern, in der Hoffnung die Person zu finden, kanalisieren (Bowlby & Schomburg, 1982, S. 67). Ersteres wurde auch bei neurologischen Untersuchungen konstatiert, statt depressiver und apathischer Symptomatik, die eher mit Trauer konnotiert sind, wurde eine Hypermotilität (im Gehirn) festgestellt (Spiegel, 1973, S. 195). Erweist sich das Suchen und Herumirren nach der Bezugsperson als erfolglos, beginnt das Kind die Endgültigkeit des Verlustes zu realisieren und passt sich sukzessiv mittels adaptiven Lernens an die neuen Situationsbedingungen an (Lammer, 2014, S. 43f.). Solange die Aggressionen und das Suchen vorherrschend sind, hat der/die Hinterbliebene den Tod noch nicht als endgültig realisiert. Bevor das Kind loslässt, wechseln sich Hoffnung und Verzweiflung eine lange Zeit ab und werden oft von Wutanfällen und destruktiven Verhaltensweisen begleitet (Bowlby & Schomburg, 1982, S. 87).

[...]


1 Wenn der Vater die primäre Bezugsperson des Kindes darstellt, kann das Bindungssystem ebenso an ihn gekoppelt sein. Dies war jedoch zurzeit von Bowlbys und Ainsworth selten, die daher durchgängig Mütter im Blick hatten.

2 Hospitalismus beschreibt die psychischen und körperlichen Schäden und Defizite, die Kinder infolge von andauernder Deprivation entwickeln. Häufig wurde dieser Begriff auch bei Kindern verwendet, die über längere Zeit in Kliniken oder Heimen untergebracht waren, in denen die liebevolle emotionale Bindung zu mindestens einer konstanten Bezugsperson gefehlt hat (Hellbrugge 1966: 385f.).

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Vorzeitlicher Verlust der Eltern. Die Trauer von Kindern
Untertitel
Ein Vergleich der systemischen und personzentrierten Beratung zur Trauerbegleitung
Hochschule
Universität Bielefeld  (Hochschule)
Note
1,0
Autor
Jahr
2020
Seiten
88
Katalognummer
V956407
ISBN (eBook)
9783346316820
ISBN (Buch)
9783346316837
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Trauer, Trauerarbeit, Beratung, personzentriert, systemisch, Entwicklungspsychologie, Kinder, Jugendliche, Tod
Arbeit zitieren
Diana Schmidt (Autor:in), 2020, Vorzeitlicher Verlust der Eltern. Die Trauer von Kindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/956407

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