Medien - Kultur - Wirklichkeit: Grundlagen und Weiterführung konstruktivistischer Perspektiven


Hausarbeit, 2002

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Grundlegende Annahmen des Konstruktivismus
2.1 Neurobiologische und kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse
2.2 Philosophisch-erkenntnistheoretische Argumentationslinie

3. Der soziokulturelle Konstruktivismus
3.1 Kultur
3.2 Medien
3.3 Kultur und Medien
3.4 Kultureller Wandel: neue Wirklichkeit
3.4.1 Modularisierung von Wirklichkeit
3.4.2 Modalisierung von Wirklichkeit
3.4.3 Virtualisierung von Wirklichkeit

4. Schlussbetrachtung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Über Jahrhunderte hinweg beschäftigte sich die Epistemologie als Teildisziplin der Philosophie mit dem Problem des Verhältnisses von menschlicher Erkenntnis und Wirklichkeit. Dabei wurde zumeist als selbstverständlich vorausgesetzt, dass eine solche Wirklichkeit unabhängig und außerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens existiert: Die Wirklichkeit ist gegeben und der Mensch kann auf dem steinigen Weg der Erkenntnis Zugang zu ihr erlangen, sie erkennen.

Diese Vorstellung der Erkennbarkeit der „wirklichen“, „wahren“ Welt kritisiert der Konstruktivismus[1], indem er dem Menschen die Möglichkeit des direkten Zugangs zur Wirklichkeit abspricht und Wirklichkeit bzw. das vermeintliche Wissen über sie anstatt dessen als Ergebnis von unbewussten und „unwillkürlichen“[2] Konstruktionsprozessen im Individuum selbst –und ausschließlich dort- konzipiert. Der Mensch kann die Wirklichkeit also nicht erkennen, er bringt sie vielmehr selbst subjektiv konstruierend hervor[3].

Ganz neu ist diese Problematisierung von Wirklichkeit und Erkenntnis in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte nicht -Originalität wird von aktuellen Vertretern konstruktivistischer Konzepte allerdings auch nicht beansprucht. Siegfried J. Schmidt zitiert Xenophanes und Demokrit ebenso, wie er eine Traditionslinie von Kant über Nietzsche, Simmel, Cassirer u.a. zieht.[4] Eine Neubegründung erfuhren vorhandene konstruktivistische Ansätze jedoch v.a. durch die Arbeiten des Psychologen Ernst von Glasersfeld, des Kybernetikers Heinz von Foerster, der Biologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela und im Anschluss an diese Gerhard Roth, deren neurophysiologische und kognitionswissenschaftliche Untersuchungen der Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisprozesse die bis dahin vorhandenen v.a. philosophisch-erkenntnistheoretischen Ansätze konstruktivistischer Argumentation in hohem Maße plausibilisierten[5].

Die vorliegende Arbeit stellt zunächst in Abschnitt 2 die Grundlagen der konstruktivistischen Auffassung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wirklichkeit vor. Dazu werden zunächst relevante neurophysiologische Erkenntnisse (2.1) und anschließend die philosophisch-erkenntnistheoretische Argumentation (2.2) beschrieben. Anschließend wird in Abschnitt 3 der soziokulturelle Konstruktivismus von Siegfried J. Schmidt als Beispiel eines gleichermaßen evolvierenden wie elaborierten konstruktivistischen Versuchs, die in Abschnitt 2 ausgeführten Prinzipien des Konstruktivismus für i.w.S. gesellschaftliche Phänomene fruchtbar zu machen, vorgestellt. Hierbei liegt der Schwerpunkt der Ausführungen auf den Aspekten Medien und Kultur, deren Beziehung zu beleuchten eine der wesentlichen Bestrebungen des Kommunikationswissenschaftlers Schmidt ist. Dabei werden in Abschnitt 3.4 exemplarisch einige Hypothesen Schmidts zu Entwicklungen in der Konzeption von „Wirklichkeit“ vorgestellt.[6]

2. Grundlegende Annahmen des Konstruktivismus

2.1 Neurobiologische und kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse

Gemeinhin wurde und wird Wahrnehmung als getreue Abbildung der Außenwelt durch die Sinnesorgane und das Gehirn aufgefasst. Bereits diese Annahme wird von Neurobiologen bestritten: „Es ist nicht die Aufgabe des Gehirns und der Sinnesorgane, die Umwelt möglichst exakt und vollständig abzubilden oder die Welt zu erkennen, ‚so wie sie ist’. [...] Es ist vielmehr ihre Aufgabe, den Organismus zum Zweck des Überlebens und der Fortpflanzung an der Umwelt zu orientieren“[7].

Aufgabe des Wahrnehmungsapparates, bestehend aus Sinnesorganen und Gehirn, ist es also, die Umwelt nach Reizzusammenhängen -seien es Nahrung, Feinde, Geschlechtspartner etc.- „abzusuchen“, die für den Organismus von Interesse sind. In diesem Sinne betreibt das Gehirn die Reduktion von Umweltkomplexität und zwar notwendigerweise nach Kriterien, die sich aus dem spezifisch für die Spezies i.w.S. Überlebensnotwendigen bzw. „Interessanten“ ergeben: „Das Überleben eines Organismus erfordert Reaktion auf die bedeutungsvollen Ereignisse in der Umgebung [...]. Da die Umgebung niemals für sich bedeutungsvoll ist, muss jeder Organismus selektiv, d.h. nach seinen eigenen Bedürfnissen und seinen eigenen internen Kriterien (mögen diese angeboren oder erlernt sein) mit ihr umgehen. Wahrnehmung im Dienste der Verhaltenssteuerung ist stets Auswahl und Bewertung, niemals Erkennen ‚objektiver’ Gegebenheiten“[8].

Schon in dieser selektiven Tätigkeit deutet sich eine Konstruktionsleistung des Gehirnes an. Noch virulenter erscheint sie jedoch, betrachtet man die Art und Weise, wie das neuronale System Reize der Außenwelt an das Gehirn vermittelt.

Umweltreize werden nämlich in einen unspezifischen „neuronalen Code“[9] umgewandelt, indem sie in elektrische Entladungen „übersetzt“ bzw. verrechnet und so über die Nervenbahnen an das Gehirn geleitet werden. Diesem Prinzip der undifferenzierten Codierung zufolge codieren die Nervenzellen der Sinnesorgane keine Informationen über die Natur einer Erregungsursache, sondern lediglich über deren Intensität.[10] Das Gehirn „empfängt“ also von den Sinneszellen unspezifische, nur unterschiedlich frequente, elektrische Entladungen und konstruiert aus ihnen Modalität und Qualitäten der Umweltreize: „Aus der Unspezifität der Antworten der Sinnesrezeptoren gegenüber den spezifischen Umweltereignissen folgt aber die für die Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie fundamentale Tatsache, dass alle Eigenschaftsunterschiede der Wahrnehmungsinhalte nach Modalitäten (Sehen, Hören, Fühlen usw.), den primären (Farbe, Bewegung, Tonhöhe) und sekundären Qualitäten (eine bestimmte Farbe, ein bestimmter Klang) und auch den Quantitäten (Intensitäten) nicht direkt mit den Eigenschaften der Umweltereignisse verbunden sind; sie sind also prinzipiell konstruierte Eigenschaften[11].

Wie das Gehirn diese Konstruktion zu betreiben hat, wird von den Umweltreizen also nicht vorgegeben, das Gehirn ist insofern ein operational geschlossenes System. Es ist nur energetisch offen, indem es über die Sinneszellen „irritiert“, also zur Tätigkeit angeregt werden kann. Die Kriterien, auf Grund deren Selektion und Konstruktion ablaufen, d.h. der Modus der angeregten Tätigkeit, entstammen hingegen dem System selbst[12], das System agiert selbstreferentiell. In diesem Sinne konzipiert von Foerster Erkennen als rekursiven Errechnensprozess, also das sich ausschließlich innerhalb eines kognitiven Systems abspielende fortlaufende und auf sich selbst Bezug nehmende „Errechnen von Errechnungen“[13].

Die dieser Auffassung zugrunde liegenden Überlegungen wurden bereits in den 1960er Jahren von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela angestellt und zur Theorie autopoietischer Systeme ausgebaut. Maturana und Varela betrachten lebende Systeme als autopoietisch, d.h. selbsterzeugend, selbstorganisierend, selbsterhaltend und selbstreferentiell. Sie sind informationell und operational geschlossen, energetisch (und materiell) jedoch offen.[14]

Die energetische Offenheit autopoietischer Systeme bildet auch die Grundlage der strukturellen Kopplung, desjenigen Konzeptes, welches die aufgrund des bisher Gesagten anzunehmende „autistische“ Isolation des Systems aufzuheben vermag: Systeme können durch Pertubationen aus ihrer Umwelt zu internen Strukturveränderungen angeregt werden. Dabei sind die Pertubationen (z.B. Reize der Sinneszellen) lediglich Auslöser der Veränderung, sie bestimmen aber nicht deren Qualität und Quantität. Diese legen ausschließlich Organisation und Struktur des (bekanntlich selbstreferentiellen und operational geschlossenen) Systems fest. Strukturell gekoppelt sind System und Umwelt (oder zwei Systeme) dann, wenn wechselseitige Pertubationen raumzeitlich so eng aufeinander abfolgen, dass „die strukturell determinierten Zustandsveränderungen der gekoppelten Organismen in ineinander verzahnten Sequenzen aufeinander abgestimmt sind“[15]. Das Prinzip der operationalen Geschlossenheit der beteiligten Systeme ist jedoch nicht verletzt, da die strukturelle Kopplung lediglich aus wechselseitigen Pertubationen im oben ausgeführten Sinn besteht, so dass lediglich ein temporales, kein kausales Wechselverhältnis besteht.[16]

[...]


[1] Der ubiquitäre Hinweis, dass „der Konstruktivismus“ als einheitliches Theoriegebäude samt zugehöriger Forschergemeinde und Lehrbuch (noch) nicht existiert, darf auch hier nicht fehlen (vgl. u.a. Schmidt (2000) S.14).

[2] von Glasersfeld (1994), S.17

[3] Hier nun ist der angemessene Ort, den missverständlichen Begriff ‚Konstruktivismus’ zu erläutern, wie es Siegfried J. Schmidt nicht müde wird, bei jeder Gelegenheit zu tun. ‚Konstruktion’ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht planvolles, bedachtes und bewusstes Vorgehen eines Akteurs, sondern der Begriff bezeichnet Prozesse, „in deren Verlauf Wirklichkeitsentwürfe sich herausbilden, und zwar keineswegs willkürlich, sondern gemäß den biologischen, kognitiven und soziokulturellen Bedingungen, denen sozialisierte Individuen in ihrer sozialen und natürlichen Umwelt unterworfen sind. Über viele dieser Bedingungen kann ein Individuum überhaupt nicht verfügen. [...] Wirklichkeitskonstruktion widerfährt uns mehr als dass sie uns bewusst wird [...].“ Schmidt (1994a), S.5

[4] vgl. Schmidt (2000), S.17. Watzlawick erweitert die Liste noch um einige Namen mehr: Er nennt zusätzlich u.a. Vico, Dilthey, Husserl, Wittgenstein, Piaget, Schrödinger, Heisenberg, Kelly, Goodman „und viele andere namhafte Denker“ vgl. und zit. Watzlawick (1994), S.10.

[5] Das Verhältnis von neurophysiologischen Erkenntnissen und philosophisch-theoretischen Argumentationen ist ein schwieriges. Obwohl vielerorts als gegenseitiges Begründungs verhältnis dargestellt, betonen u.a. Schmidt und Roth die prinzipielle Unabhängigkeit der philosophischen von der empirisch-neurowissenschaftlichen Argumentationslinie. In ihrem Sinne begründen sie sich nicht, sie plausibilisieren sich wechselseitig. vgl. Schmidt (2000), S.22; Schmidt (1994a), S.593

[6] Auf weitere und weit reichende Konsequenzen konstruktivistischer Positionen für die Kommunikationswissenschaft, die sich außerhalb des hier eng umgrenzten Themas (Verhältnis Medien-Kultur-Wirklichkeit) befinden, wie z.B. detaillierte Beschreibungen der konstruktivistischen Auffassung von Kommunikation, Verstehen und sich daraus ergebende Konsequenzen für die Rezipienten- und Kommunikatorforschung gehe ich in dieser Arbeit nicht ein.

[7] Roth (1992), S.281

[8] Roth, ebd., S.317

[9] Roth, ebd., S.288

[10] vgl. Foerster (1994), S.43; Er reformuliert damit eine Entdeckung Johannes Müllers.

[11] Roth (1992), S.290; Hervorhebungen durch den Verf.

[12] vgl. Roth/Schwegler (1992), S.107f. zit. nach Schmidt (1996), S.11

[13] vgl. Foerster (1994), S.46

[14] vgl. Maturana/Varela (1987), S.50ff., S.100

[15] Maturana (1985), 150f.; zit. nach Schmidt (1996), S.6

[16] vgl. Maturana/Varela (1987), S.85ff., S.27

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Medien - Kultur - Wirklichkeit: Grundlagen und Weiterführung konstruktivistischer Perspektiven
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut f. KMW)
Veranstaltung
Einführung in die Kommunikationswissenschaft
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
19
Katalognummer
V9677
ISBN (eBook)
9783638163132
ISBN (Buch)
9783638787260
Dateigröße
547 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit referiert zunächst die Voraussetzungen und historische Entwicklung der konstruktivistischen Erkenntnistheorie (des Konstruktivimus) allgemein und stellt dann das Konzept des soziokulturellen Konstruktivismus von Siegfried J. Schmidt vor, wobei der besondere Akzent auf dem Verhältnis von Kultur, Medien und Wirklichkeit liegt.
Schlagworte
Konstruktivismus, Siegfried J. Schmidt
Arbeit zitieren
Felix Frey (Autor:in), 2002, Medien - Kultur - Wirklichkeit: Grundlagen und Weiterführung konstruktivistischer Perspektiven, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/9677

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