Kritik und Rechtfertigung der schulischen Literaturinterpretation


Seminararbeit, 1997

15 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhult

1. AUSGANGSÜBERLEGUNGEN UND VORGEHENSWEISE

2. BEGRIFF DER INTERPRETATION

3. KRITIK AN DER INTERPRETATION

4. RECHTFERTIGUNG DER INTERPRETATION 4.1. Methodische Einzelprobleme des Interpretierens im Literaturunterricht

5. FAZIT

LITERATUR

1. Ausgangsüberlegungen und Vorgehensweise

Interpretieren ist seit jeher ein gängiges Verfahren im schulischen Deutsch- bzw.

Literaturunterricht mittels dessen sich die SchülerInnen über literarische Texte austauschen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Frage, ob das Interpretieren von literarischen Texten noch zweckmäßig ist, u.a. bedingt durch ein verändertes Rezeptionsverhalten in den vergangenen Jahren, das geprägt ist von der Verbreitung elektronischer Medien. Bevor ich im folgenden unterschiedliche Gesichtspunkte gegenüberstelle, muß zunächst geklärt werden, was unter 'Interpretation' zu verstehen ist. Sowohl bei der Interpretationskritik als auch bei deren Rechtfertigung muß danach gefragt werden, welche unterschiedlichen Auffassungen vom Umgang mit Literatur den jeweiligen Meinungen zugrunde liegen und welche Verfahren zur Verständigung über einen literarischen Text noch als 'Interpretation' bezeichnet werden können.

Bei der Interpretationskritik beziehe ich mich vor allem auf Susan Sontag, eine U.S.- amerikanische Kunstkritikerin, Schriftstellerin und Filmemacherin, die 1964 mit ihrem Essay "Against Interpretation" für Furore sorgte, und Hans Magnus Enzensberger, der 1988 die Kritik Sontags nochmals aufnimmt und diese in den Kontext des Literaturunterrichts einbindet.

Der Forderung nach Abschaffung der Interpretation bzw. der Modifizierung herrschender Interpretationsverfahren steht die Rechtfertigung der schulischen Literaturinterpretation gegenüber, die sich nicht darauf beschränkt, eingefahrene Interpretationsmethoden zu verteidigen, sondern vielmehr Aussagen darüber trifft, wie ein moderner Literaturunterricht gestaltet werden sollte. Kaspar H. Spinner widmet in einem Basisartikel der Zeitschrift Praxis Deutsch ein Kapitel den methodischen Einzelproblemen, die sich beim Interpretieren im Deutschunterricht ergeben. Diese methodischen Einzelprobleme werde ich am Ende zusammenfassen, da sie nützliche Hinweise für den Deutschunterricht liefern.

2. Begriff der Interpretation

Im Sinne Nietzsches gibt es keine Fakten, sondern nur Interpretationen. Dies bedeutet, daß die Interpretation kein eigenes Verfahren darstellt, sondern daß jede Wahrnehmung und Erkenntnis Interpretation ist. Der Mensch gilt als "interpretierendes Wesen". Axel Spree bezeichnet diese Auffassung als erkenntnistheoretischen Interpretationsbegriff.1 Demgegenüber ist der technische Interpretationsbegriff ein regelgeleitetes Verfahren der Auslegung, Deutung und Erklärung in den Kunst- und Literaturwissenschaften, in der Philosophie, bei der theologischen Bibelexegese und bei der juristischen Anwendung von Gesetzen. Im Sinne des technischen Interpretationsbegriffes gibt es im Gegensatz zum erkenntnistheoretischen die Möglichkeit, gar nicht zu interpretieren, auch dann, wenn ein Text gelesen wird.2

Für die Auseinandersetzung mit der schulischen Literaturinterpretation erscheint es mir wenig sinnvoll, den Interpretationsbegriff im Sinne Nietzsches zu verwenden, denn wenn es nicht möglich ist, nicht zu interpretieren, wäre die Forderung nach Abschaffung bzw. Erneuerung der Interpretation hinfällig. Auch in der Fachliteratur findet sich vor allem der technische Interpretationsbegriff. So ist für Wilpert die Interpretation die [...]allgemein erklärende Auslegung und Deutung von Schriftwerken nach

sprachlichen, inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten (Aufbau, Stil, Metrik). Besonders eine Methode der modernen Literaturwissenschaft, die durch möglichst eindringliche, tiefe Erfassung eines dichterischen Textes in seiner Ganzheit als untrennbare Einheit von Gehalt und Form meist werkimmanent rein aus sich heraus, ohne Seitenblicke auf biographisches oder literaturgeschichtliches Wissen, zu einem vertieften Verständnis des Sprachkunstwerks führen, die Dichtung als Dichtung erschließen will.3

Über die Erklärung des Interpretationsbegriffes hinaus, stellt Wilpert dar, wie zu interpretieren ist:

Sie [die Interpretation] beginnt mit Textkritik, Feststellung des Wortsinns, Behandlung und Aussagewert der benutzten Gattung, evtl. des Versmaßes, reflektiert die Entstehung, die sprachliche Bildwelt, die Motive und schreitet weiter zur Ausdeutung des symbolischen Gehalts und der Struktur- und Formanalyse in ihrer wechselseitigen Bezogenheit, kann auch schließlich zur Einordnung eines Werkes in literarische Gattungen und Epochen führen, ist jedoch stete Voraussetzung jeder solchen Gruppierung und damit unerläßlicher Ausgangspunkt der modernen Literaturwissenschaft.4

Eine andere Sichtweise von Interpretation liefert Schütte. Im Gegensatz zu Wilpert liegt der Fokus bei ihm nicht auf dem künstlerischen Werk, das ausgelegt werden soll, sondern auf dem Lesepublikum und dem kommunikativen Akt. Für Schütte ist die Interpretation eine analytische Form sprachlichen Handelns, die darauf abzielt, Lese-Erfahrung darzustellen und sich mit anderen LeserInnen darüber zu verständigen.

Sie [die Interpretation] versieht die Lese-Erfahrung und die kritische Stellungnahme mit Begründungen, fragt nach den Ursachen der literarischen Wirkung [...]. Das ist ein Arbeitsprozeß, in dem der Vorgang des Verstehens - und mit ihm der gelesene Text - methodisch rekonstruiert werden.5

Durch den Verzicht auf deduktiv-nomologisch festgelegte Deutungsregeln erweitert sich der Spielraum des Interpretierens, so daß auch operative Verfahren im Umgang mit literarischen Texten Teil der Interpretation sein können.6

3. Kritik an der Interpretation

In ihrem Essay Gegen Interpretation (Against Interpretation) wirft Susan Sontag der "modernen" Interpretation die einseitige Betonung des inhaltlichen Aspektes vor, zu Lasten der Form und der Sinnlichkeit.7 Ihre Kritik beruht auf der Diagnose einer unzureichenden Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit des (post-)modernen Menschen, die bedingt sind durch allgemeine Reizüberflutung, die massenweise Verbreitung von Kunstwerken und das Festhalten an künstlerischen Standards vergangener Epochen bei gleichzeitiger Vernachlässigung und Geringschätzung der zeitgenössischen Kunst.8 Mit anderen Worten, wenn die Erlebnisfähigkeit des Menschen eingeschränkt ist, kann ein Kunstwerk nur noch vorwiegend rational erfaßt werden und nicht sinnlich. Die Sinnlichkeit ist aber laut Sonntag Voraussetzung für eine angemessene Rezeption. Durch die Überbetonung der sachlich- analytischen Ebene "grabe" die Interpretation im modernen Stil nach einem Subtext9, der als der eigentliche Text gilt, wodurch das einzelne Werk zerstört wird.10 "Wirkliche Kunst", nach Sontags Verständnis, wirkt auf das Publikum irritierend. Durch die Reduktion auf ihren Inhalt und dessen Interpretation wird sie "gezähmt" und manipulierbar gemacht, worunter am meisten die Literatur leidet, vor allem dann, wenn der/die AutorIn selbst keine Aussage über sein Werk macht. Als Beispiel führt Sontag Kafkas Werk an, das "zum Opfer einer Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten geworden" ist.

Diejenigen, die Kafkas Werk als soziale Allegorie lesen, sehen in ihm Fallstudien der Frustration und des Irrsinns der modernen Bürokratie. Diejenigen, die es als psychoanalytische Allegorie lesen, sehen in ihm den verzweifelten Ausdruck von Kafkas Angst vor dem Vater, seiner Kastrationsangst, seines Gefühls der eigenen Impotenz, seiner Traumhörigkeit. Diejenigen schließlich, die sein Werk als religiöse Allegorie lesen, erklären, daß K. in Das Schlo ß Zugang zum Himmel sucht, daß Josef K. in Der Proze ß von der unerbittlichen und geheimnisvollen Gerechtigkeit Gottes gerichtet wird.11

Sontag unterstellt den Interpretierenden hier eine Beliebigkeit, die sich weniger an der Textoberfläche als vielmehr an der eigenen Konstitution und Weltanschauung orientiert.12

Sontag spricht der Interpretation ihre Legitimität ab und stellt darüber hinaus die Möglichkeit in Frage, Interpretationen überhaupt erstellen zu können, da die Ablösung des Inhalts vom Kunstwerk eine Kompetenz zur Segmentierung in interpretationswürdige und zu vernachlässigende Aspekte voraussetzt.

Vor aller Interpretation sollte die ästhetische Erfahrung13 stehen. Stattdessen tritt, Sontag zufolge, an die Stelle der Lektüre literarischer Texte die Lektüre von Interpretationen, was vor dem Hintergrund schulischer Erfahrung nicht völlig von der Hand zu weisen ist, denn oftmals erscheint die Literaturinterpretation als Annäherung an standardisiert angelegte (Unterrichts-) Ziele.

Sontag plädiert für eine Kunstkritik, die dem Kunstwerk dient, statt sich an seinen Platz zu drängen. Ein "verstärktes Interesse für die Form in der Kunst", ein "beschreibendes und kein vorschreibendes Vokabular", die Verschmelzung von inhaltlichen Erwägungen mit formalen und insbesondere eine "präzise" und "scharfsichtige" Beschreibung der äußeren Erscheinungsform eines Kunstwerks könnten dieser Forderung Rechnung tragen.14 Susan Sontag spricht sich deutlich gegen die Interpretation aus und fordert stattdessen eine Kunstkritik. Interpretation so verstanden wie bei Schütte,15 als eine analytische Form sprachlichen Handelns, kann dieser Forderung gerecht werden.

Der Kritik von Sontag schließt sich Enzensberger an, der sich gegen die Interpretation als bewußtem intellektuellem Akt, dem bestimmte Deutungsregeln zugrunde liegen, ausspricht.16 Er bemängelt an Universitäten und Schulen das hartnäckige Festhalten an der fixen Idee von der "richtigen Interpretation".17 Daß auch der Text selbst kein Beleg ist für die "richtige Interpretation" begründet er mit der Tatsache, daß unzählbar viele, völlig unkontrollierbare, Faktoren in den Akt des Lesens eingehen, wie die soziale und psychische Geschichte des/der LeserIn, seine/ihre Erwartungen und Interessen, die augenblickliche Verfassung und die Situation, in der gerade gelesen wird.18 Somit hätte nach Enzensbergers Verständnis noch die absurdeste Textauslegung ihre Berechtigung, weil sie am Text selbst nicht überprüfbar ist. Da die ästhetische Erfahrung und das Textverstehen an die Subjektivität des/der einzelnen LeserIn gebunden sind, müßte die (wissenschaftliche) Interpretation konsequenterweise auf ein Urteil über das Werk verzichten. Einleuchtend ist sicherlich die Tatsache, daß es die eine einzig wahre und richtige Interpretation nicht gibt. Wenn es aber auch keine falsche gibt, wie soll man sich dann über Literatur verständigen?

Enzensberger sieht die Lektüre als anarchischen Akt, der es dem/der LeserIn erlaubt, "Sätze gegen den Strich zu lesen, sie mißzuverstehen, sie fortzuspinnen und auszuschmücken mit allen möglichen Assoziationen, Schlüsse aus dem Text zu ziehen, von denen der Text nichts weiß, sich über ihn zu ärgern, sich über ihn zu freuen, ihn zu vergessen, ihn zu plagiieren und das Buch, worin er steht, zu einem beliebigen Zeitpunkt in die Ecke zu werfen."19 Was für die private Lektüre selbstverständlich ist, wird in der Institution Schule eingeschränkt, bedingt durch die Rahmenlehrpläne und Prüfungen, die sich in Noten ausdrücken. Weder auf die Existenz von Rahmenlehrplänen und Prüfungen noch auf den Zwang, Noten vergeben zu müssen, kann der/die LehrerIn Einfluß nehmen. Wenn der Lehrplan die Interpretation vorschreibt, sollte der/die LehrerIn den SchülerInnen vermitteln, daß verschiedene Aussagen über den Text möglich sind, da es "richtig" und "falsch" im absoluten Sinne nicht gibt. Der Spielraum, innerhalb dessen der Literaturunterricht stattfindet, sollte möglichst groß sein. Wenn es nur darum geht, "die richtige Interpretation im Kopf des Lehrers [sic] zu erraten, um sie möglichst genau zu reproduzieren",20 was Enzensberger dem Literaturunterricht unterstellt, dann ist dieser Spielraum falsch genutzt und das literarische Werk verkommt zum bloßen Interpretationsmaterial.

Auch Volker Klotz wirft der Literaturwissenschaft die Vernachlässigung der Poesie zugunsten von "hochtrabenden Meta-Verlautbarungen" vor.21 Ein Germanistikstudium, das hauptsächlich aus der Lektüre von wissenschaftlicher Sekundärliteratur besteht, produziert lustlose DeutschlehrerInnen, die die Werke der DichterInnen nur aus Zusammenfassungen kennen. Anstatt Forschung als Selbstzweck zu betreiben, fordert Klotz eine Literaturwissenschaft, die nach dem ästhetischen Gebrauchswert für die LeserInnen fragt und die zu erfahren sucht, welchen Nutzen die Poesie den Menschen liefert und die Menschen der Poesie. Damit nähert sich die Literaturwissenschaft der Kunst und "maßt sich an", zu vermuten, welche Art von Poesie der 'Masse' "schönere Sensationen bescheren könnte als die bisher gewohnten".22

Diese von ihm geforderte Literaturwissenschaft, die er als plebiszitär bezeichnet, befaßt sich mit Poesie, die über die deutschen Grenzen hinausgeht, ebenso mit populären Werken, nicht um sie ideologiekritisch zu sezieren, sondern um sie zu durchschauen und durchschaubar zu machen, welche Faszination sie ausüben.

Abenteuer-Romane wie auch Operetten - üblicherweise von jenen, die sie kaum kennen, abgetan als Beschwichtigungsfutter für Zukurzgekommene - entfachen mehr lustvoll kritische Energien als beispielsweise Romane von Thomas Mann oder Tragödien von Hebbel. Wer unverkrampft und intensiv auf derlei Künste eingeht, kann an und mit ihnen überraschende Entdeckungen machen.23

Wie auch Susan Sontag plädiert Klotz für die ästhetische Erfahrung als Ausgangspunkt jeder Rezension und entwirft darüber hinaus eine seiner Meinung nach geeignete Methode, einen Text zu erschließen:

Der Poet als einer aus der Masse steigt produzierend aus ihr heraus, um zu ihr zu kommen im Produkt. Das ist auch der Weg für den, der das Produkt erschließt. [...] Vom Einzelwerk zu den größeren Zusammenhängen, denen es zugehört oder die es bedingen: biographische, epochale, gattungsgeschichtliche, soziale, institutionelle, politische. Aber auch beim Entriegeln des Einzelwerks [...] vom Einfachen zum Verzwickten, vom Offensichtlichen zum Verdeckten. Jede Kunst kommt zu allererst als sinnlich faßbares Ereignis auf die Leute. Will ich sie näher bringen, komme ich ihnen entgegen, wenn ich gleichfalls von diesem sinnlichen Startpunkt ausgehe.24

Die in den Lehrplänen formulierte Annahme, literarische Texte würden dadurch gewinnen, daß man sie interpretiert, bezeichnet Ayren als Irrtum. Er hält es zwar für sinnvoll, wenn der/die LehrerIn die Texte auswählt, Hintergrundwissen vermittelt und, falls notwendig, über Aufbau und Organisation des Textes spricht, warnt aber davor, das Hauptgewicht auf das Lernen von Gattungsbegriffen und die Einordnung in Entwicklungsreihen zu legen, da SchülerInnen noch nicht über das notwendige Vorwissen verfügen, um damit etwas anfangen zu können..25

Ayren plädiert für eine vorurteilsfreie, spontane Annäherung an den Text, die durch keine Vorgaben eingeengt wird. Die SchülerInnen sollen sich kreativ entfalten können z.B. durch eigene literarische Gestaltungsversuche. Problematisch hierbei ist, wie der/die LehrerIn die Einfälle oder das Verhältnis von gutem Willen und Mängeln in der Ausführung bewerten soll.

4. Rechtfertigung der Interpretation

Unter dem Begriff 'Rechtfertigung' soll im folgenden nicht die Verteidigung dessen, was zuvor an der Interpretation kritisiert wurde, verstanden werden, d.h., daß auch in der Verteidigung der schulischen Interpretation eine Methodenkritik implizit vorhanden ist. Kritik und Rechtfertigung unterscheiden sich weniger durch ihren Inhalt als vielmehr durch ihre Perspektive. Während die Kritik vom Negativimage der Interpretation ausgeht und ihre Schwachstellen offenlegt, geht es bei der Rechtfertigung um die Frage, wie ein, an den SchülerInnen-Bedürfnissen ausgerichteter, Literaturunterricht sinnvoll gestaltet werden kann. Für Spinner behält das Interpretieren seine Berechtigung, wenn man dessen Funktion angemessen bestimmt.26 Die Funktion des Interpretierens ist für ihn die "intersubjektive Einigung" der am Interpretationsgespräch Beteiligten, d.h., daß die SchülerInnen, wenn sie über einen literarischen Text sprechen, aufeinander eingehen müssen, ihre eigenen Deutungen erläutern und andere Deutungen prüfen sollen.

Die ästhetische Wirkung formaler Elemente, die Vergegenwärtigung des erzählten Geschehens und subjektive Erfahrungen, Fragen und Einsichten sollten Gegenstand eines Interpretationsgesprächs sein.

Wichtig beim Interpretieren sei es, den Bezug zum Text immer wieder herzustellen bzw. zu wahren. Im Vordergrund sollte die Lust am Entdecken stehen anstatt des Zwangs zur Deutung.

Spinner unterscheidet zwischen 'Interpretieren' und 'Interpretation', da für ihn der Prozeß im Vordergrund steht und nicht die Interpretation als Resultat des Interpretierens. Gleichzeitig räumt er ein, daß es die institutionellen Vorgaben der Schule erschweren, dies zu ermöglichen, u.a. bedingt durch die ungleichen Machtverhältnisse zwischen SchülerInnen und LehrerInnen. Der/die LehrerIn hat immer die Möglichkeit, seine/ihre eigene Deutung mit Sanktionen durchzusetzen. Idealerweise wird der/die LehrerIn nicht auf einer einzigen Deutungsmöglichkeit beharren und stattdessen den Unterricht dazu benutzen, ein "verständigungsorientiertes Gespräch" zu schaffen.

Interpretieren ist, so gesehen, mehr als nur Mittel, um Texte besser zu verstehen; es ist auch Modell für eine Verständigung, bei der keiner dem anderen seine Ansicht aufzwingt.

Je wissenschaftlicher sich allerdings eine Interpretation gibt, desto mehr stützt sie sich in der Regel auf textanalytische Argumentation und gibt sich damit den Anschein von Exaktheit und Objektivität - nicht selten verbunden mit einem Verlust an Vermittlung von Bedeutungsfülle.

Die Auseinandersetzung über den Sinn eines Textes hält dazu an, analysierend genauer auf Struktur, Funktionen usw. zu achten. Nur sollte, solange es ums Interpretieren geht, das Analysieren nicht zum Selbstzweck werden und die lebendige Frage nach dem Sinn verdrängen.27

Im Gegensatz zu Wilpert, der die Textanalyse als "Voraussetzung und Grundlage der Interpretation" bezeichnet28, trennt Spinner das Interpretieren von der Textanalyse als ein Verfahren, das eigenen Erkenntniszielen folgt.29

Interpretieren, aufgefaßt als Modell für eine Verständigung über einen literarischen Text, findet lt. Spinner schon in der Primarstufe statt, wenn z.B. GrundschülerInnen das "Verhalten von Figuren diskutieren, persönliche Erfahrungen mit erzähltem Geschehen vergleichen und in sprachspielerischen Elementen den Grund für das Vergnügen an einem Text entdecken".30

4.1. Methodische Einzelprobleme des Interpretierens im Literaturunterricht

Ein Kapitel widmet Spinner den methodischen Einzelproblemen des Interpretierens, von denen ich im folgenden einige kurz zusammenfassen werde, da sie nützliche Anregungen für den Literaturunterricht liefern.31

1. Der/die LehrerIn sollte im Gespräch auf einen Wechsel zwischen entfaltenden und reduzierenden Interpretationsakten achten.32 Damit wird zum einen vermieden, daß "der Text in seiner konkreten Anschauungsfülle aus dem Blick der Interpretierenden entschwindet" und zum anderen, daß sich die SchülerInnen "verzetteln" und sich mit ihren Assoziationen vom Text entfernen. Spinner weist ausdrücklich darauf hin, daß "es keine Regel dafür gibt, ob reduzierende oder ob entfaltende Interpretationsakte am Anfang bzw. am Schluß zu stehen haben."33 Damit wendet er sich gegen ein festes Verlaufsschema, wie es u.a. bei Wilpert vorgegeben wird.34

2. Die Beurteilung von Interpretationsleistungen sollte sich nicht an 'richtig' oder 'falsch' ausrichten, sondern daran, ob die interpretierenden Aussagen aspektreich sind und ob sich die Begründungen für die Deutungen nachvollziehen lassen.35

3. Die Frage nach der Autorintention impliziert die Annahme, daß der Text nicht nur eine wörtliche Bedeutung hat, sondern Ausdruck einer oft nur indirekt erschließbaren Botschaft sein kann. Die Frage nach der wahren Autorintention kann kaum zu einem sicheren Ergenbnis führen, v.a. nicht in der Schule, da die wirkliche Autorintention allenfalls durch das Studium biographischer Quellen erschließbar ist. Akzeptabel hingegen findet Spinner die Frage nach der Autorintention in Form von Vermutungscharakter, z.B. "Was könnte wohl der Autor gemeint haben?" oder "Was könnte wohl die Wirkungsabsicht des Autors gewesen sein?"36

4. Die Textkohärenz sollte die Richtlinie für ein Interpretationsgespräch sein, d.h. die Deutungen sollten daraufhin überprüft werden, ob sie mit dem Text in Übereinstimmung gebracht werden können und ob die verschiedenen Deutungen sinnvoll aufeinander bezogen werden können. Der/die LehrerIn sollte die SchülerInnen dazu anhalten, Widersprüche in ihren Deutungen selbst aufzulösen, indem er/sie auf die entsprechenden Textstellen verweist, und "Verbindungen zu den Aussagen anderer Schüler [sic]" herstellt.37

5. Um im Interpretationsgespräch Widersprüche aufzulösen und um darzustellen, warum Interpretationen extrem unterschiedlich sein können, hält es Spinner für sinnvoll, den Kontext eines Werkes zu benennen, indem z.B. biographisches Wissen über den/die AutorIn vermittelt wird. Auch hier müssen Text und Kontext in eine plausible Beziehung zueinander gebracht werden.. Ebenso kann der/die LehrerIn durch die Bereitstellung von Kontexten auch zu weiterführenden Interpretationen anregen. Spinner führt als Beispiel ein Gedicht von Eichendorff an, daß man z.B. vor dem Hintergrund dichtungstheoretischer Aussagen der Romantik betrachten oder "in eine literaturhistorische Reihe motivgleicher Gedichte" stellen könnte.38 Die Kontexte sollten lediglich zur "Erhellung des Textes" dienen und nicht umgekehrt, so daß der Text "zum Beleg für soziologische, psychologische, historische Theorien gemacht wird".39

6. Die Deutung von Symbolen und der Form eines Textes hält Spinner dann für sinnvoll, wenn sie zu Einsichten in Sinnzusammenhänge führen.40 Dies bedeutet, nicht jeder Text eignet sich für eine Symbolanalyse.

7. Die Anwendung operativer und produktiver Verfahren erhöht die Aktivität und Kreativität der SchülerInnen beim Interpretieren. Das Ersetzen von Wörtern in einem Text, die Veränderung des Tempus, die Umstellung von Sätzen und die Streichung von Wörtern, Sätzen oder ganzen Satzteilen zählt Spinner zu den operativen Verfahren. Für ihn sind sie Bestandteil des Interpretierens, da die Sinnveränderung des Textes auf Aspekte aufmerksam machen kann, die möglicherweise vorher nicht wahrgenommen wurden. Produktive Verfahren unterscheiden sich laut Spinner von den operativen insofern, daß durch ihren Gebrauch die SchülerInnen zu eigenen Texten gelangen. Somit reichen sie über das Interpretieren hinaus. Zu den produktiven Verfahren zählt Spinner z.B. die Weiterführung einer unvollständig ausgehenden Geschichte, das Verfassen eines Paralleltextes oder die Umschreibung einer Erzählung. Diese Vorgehensweise kann für das Interpretieren förderlich sein, da "das Selber-Schreiben auf der Grundlage vorgelegter Texte zur genauen Lektüre und zum vertieften Verstehen anhält".41

8. Als problematischste Methode im Umgang mit literarischen Texten bezeichnet Spinner die schriftliche Interpretation. Auch wenn man kritisieren kann, daß durch die Verschriftlichung von Gedachtem Deutungen festgeschrieben werden und der "dialogische Charakter des Interpretationsprozesses" verloren geht, muß sich der/die LehrerIn konstruktiv damit auseinandersetzen, da spätestens in der Sekundarstufe II die schriftliche Interpretation von den SchülerInnen verlangt wird. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist die Frage danach, wie es sich vermeiden läßt, daß die SchülerInnen zur Sekundärliteratur greifen und versuchen, die Ansicht des/der LehrerIn möglichst exakt zu reproduzieren, auf Kosten der eigenen Meinung und vor allem des Primärtextes, dessen ästhetische Wirkung in den Hintergrund tritt. Spinner betont, wie wichtig es ist, "daß die Schüler [sic] schriftlich eine selbst verantwortete und auf den Text bezogene Sinndeutung so entfalten, daß sie argumentativ begründet und für einen Leser [sic] nachvollziehbar ist."42 Unterschiedliche Deutungen der einzelnen SchülerInnen zu einem Text sollten zugelassen werden und deren Beurteilungen sich ausschließlich an der Kohärenz orientieren. Für SchülerInnen mit wenig Interpretationserfahrung sollten die Aufgaben so formuliert sein, daß sie die Kohärenzherstellung herausfordern.

Das kann z.B. dadurch erfolgen, daß man einen bestimmten Textaspekt aufgreift und ihn durch den Bezug auf den übrigen Text oder einen anderen Textaspekt interpretieren läßt (z.B.: "Zeigen Sie, welchen Sinn man den

Landschaftsschilderungen im Hinblick auf das erzählte Geschehen zuschreiben kann", "Zeigen Sie, welches Licht die Schlußszene auf die gesamte Geschichte wirft").43

Einen Vorteil der schriftlichen Interpretation sieht Spinner darin, daß sich die SchülerInnen "in Ruhe und umsichtig mit einem Text beschäftigen und schrittweise ihre Deutung entfalten können."44 Das Interpretieren folgt demnach nicht nur dem kommunikativen Zweck des Schreibens, als Medium, sich einem/einer LeserIn mitzuteilen, sondern ist auch heuristisches Schreiben, also das Schreiben um der Erkenntnis willen.

5. Fazit

In seinem Essay stellt Enzensberger pointiert die Frage, warum SchülerInnen nicht zwangsverpflichtet werden, Popkonzerte zu besuchen und, anstatt Gedichte zu interpretieren, aufgefordert werden, "die 'richtige' Interpretation von Pink Floyd zu 'erarbeiten'".45 Wahrscheinlich hätte eine Pink Floyd-Interpretation in den 80er Jahren mehr Zuspruch bei den SchülerInnen gefunden als die irgendeines Gedichtes, egal aus welcher Epoche. Zu prüfen ist dabei aber, ob das Desinteresse an Gedichten bzw., ganz allgemein, an literarischen Werken in diesen selbst begründet liegt oder das Resultat gängiger Unterrichts- und Interpretationsroutinen ist.

Auch wenn heutzutage die Literatur nicht mehr viele Menschen in "Wallung" zu versetzen vermag, sollte sie dennoch Bestandteil des Deutschunterrichts sein, weil sie zum einen kulturelles Erbe unserer Gesellschaft ist und zum anderen Erfahrungen für andere vermittelt. Ein guter Deutschunterricht sollte so konzipiert sein, daß er den SchülerInnen die Chance bietet, sich gestaltend mit Literatur auseinanderzusetzen. Eine Form der Aneignung des kulturellen Erbes der Literatur ist das Interpretieren, welches nur dann seinen Zweck erfüllt, wenn es nicht standardisiert angelegten (Lehr-)Zielen untergeordnet wird. Die Forderung nach aktivem, phantasievollem Umgang mit der in der Literatur anzutreffenden Sprache und die Erkenntnis, daß Lernprozesse individuelle Prozesse sind, widersprechen einem ausschließlich von der Lehrkraft gelenktem Unterricht. Dies bedeutet aber nicht, daß Unterrichtsziele obsolet sind, denn vielfältig angelegt können sie durchaus die Tatsache miteinbeziehen, daß aufgrund individueller Determinanten literarische Texte vom Publikum unterschiedlich aufgefasst werden. Die SchülerInnen gelangen zu einem besseren Verstehen des Textes, wenn sie nicht nur das aufnehmen, was der/die LehrerIn vermittelt (Fremdwissen), sondern selbst aktiv mit ihm umgehen, d.h. eigene produktive Erfahrungen mit ihm machen, entweder durch kreative Veränderungen oder durch Übernahme des wesentlichen Gestaltungsprinzips in einem eigenen Text.

Die Qualität der Interpretation ist unabhängig von der Übereinstimmung mit einem vorgegebenen Textsinn, sie hängt davon ab, inwieweit es dem/der jeweiligen InterpretIn gelingt, Gedanken und Gefühle über den Text bei sich selbst in Gang zu setzen, die auch von anderen LeserInnen oder HörerInnen als angemessen, aufschlußreich und interessant akzeptiert werden.

Literatur

Ayren, Armin (1985): Das Unbehagen am Literaturunterricht. In: Hoven, Herbert

(Hg.): Literatur und Lernen. Zur berufsm äß igen Aneignung von Literatur. Darmstadt. S. 128-142.

Enzensberger, Hans Magnus Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den

(1988):

Klotz, Volker (1985):

Schutte, Jürgen (1985):

Sontag, Susan (1964):

Spinner, Kaspar H. (1987):

Spree, Axel (1995):

Von Wilpert, Gero (1989):

Erzeugnissen der Poesie. In: Mittelma ß und Wahn. Frankfurt a.M.. S. 23-40.

Interpretieren? Zug ä nglich machen! In: Hoven, Herbert (Hg.): Literatur und Lernen. Zur berufsm äß igen Aneignung von Literatur. Darmstadt. S. 105-116.

Einf ü hrung in die Literaturinterpretation. Stuttgart.

Gegen Interpretation. In: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Ffm. 1995. S. 11-22.

Interpretieren im Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch. Heft 81 (1987). S. 17-23.

Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien.

Paderborn/München/Wien/Zürich.

Sachw ö rterbuch der Literatur. 7., verbesserte und erweiterte Aufl., Stuttgart: Kröner 1989.

[...]


1 Spree 1997.

2 Vgl. Spree 1997.

3 Wilpert 1989. S. 415 f.. Die werkimmanente Interpretation konzentriert sich ausschließlich auf das zu analysierende Einzelwerk und sucht nur in diesem nach Belegen und Beweisen der Untersuchung.

4 Ebd.

5 Schütte 1985. S. 10.

6 Unter operativen Verfahren soll z.B. die Weiterschreibung oder Umformulierung eines literarischen Textes verstanden werden. In der Literatur findet sich für operative Verfahren auch der Begriff 'produktive Verfahren'.

7 Siehe Sontag 1964.

8 Ebd. S. 22.

9 Sontag bezeichnet den Subtext als 'Untertext' und meint damit die vermeintliche Botschaft bzw. Aussage, die sich hinter der Oberfläche verbirgt.

10 Vgl. Sontag 1964. S.15.

11 Ebd. S. 16.

12 Es stellt sich die Frage, ob die gesellschaftskritischen, psychoanalytischen und religiösen Auslegungen von Kafkas Werk nicht auch ihre Berechtigung haben. Gerade die Tatsache, daß sie gleichzeitig existieren, zeigt, daß es bei der Interpretation nicht um die Suche nach alleingültigen Antworten gehen kann, sondern darum, die eigene Auslegung fundiert darzustellen und mit anderen in einen ergiebigen Diskurs zu treten.

13 Ästhetische Erfahrung ist die Wahrnehmung des Kunstwerkes in seiner Gesamtheit, seinem 'Sosein' und seiner Oberfläche. Vgl. Sontag 1964. S. 21.

14 Vgl. Sontag 1964. S. 21.

15 Siehe S. 2 dieser Arbeit.

16 Vgl. Enzensberger 1988.

17 Ebd. S. 33.

18 Ebd. S. 33 f.

19 Vgl. Enzensberger 1988. S. 33 f.

20 Ebd. S. 37.

21 Siehe Klotz 1988.

22 Ebd. S. 108.

23 Ebd. S. 110.

24 Klotz 1988. S. 111.

25 Ayren 1988. S. 132.

26 Vgl. Spinner 1987. S. 17.

27 Vgl. Spinner 1987. S. 18.

28 Vgl. Wilpert 1989. S. 28.

29 Vgl. Spinner 1987. S. 19. Das Ziel der Textanalyse ist für ihn die Ermittlung der Funktionszusammenhänge von Textelementen.

30 Ebd. S. 19.

31 Ebd. S. 19 ff..

32 Mit entfaltenden Interpretationsakten meint Spinner das "phantasierende Ausmalen erzählter Situationen und Figuren, Vermutungen über Hintergründe und Folgen des Geschehens und Übertragungen auf die eigene Erlebniswelt". Das Ordnen von verwandten Textaussagen, Zusammenfassungen, abstrahierende Verallgemeinerungen u.ä. bezeichnet er als reduzierende Interpretationsakte.

33 Vgl. Spinner 1987. S. 20.

34 Vgl. S. 2 in dieser Arbeit.

35 Vgl. Spinner 1987. S. 20.

36 Ebd. S. 20 f.

37 Ebd. S. 21.

38 Vgl. Spinner 1987. S. 21 f..

39 Ebd.

40 Ebd. S. 22.

41 Ebd.

42 Vgl. Spinner 1987. S. 23.

43 Ebd.

44 Ebd.

45 Vgl. Enzensberger 1988. S. 36.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Kritik und Rechtfertigung der schulischen Literaturinterpretation
Note
sehr gut
Autor
Jahr
1997
Seiten
15
Katalognummer
V97655
ISBN (eBook)
9783638961073
Dateigröße
457 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Frage, ob das Interpretieren von literarischen Texten noch zweckmaessig ist, u.a. bedingt durch ein verändertes Rezeptionsverhalten in den vergangenen Jahren, das geprägt ist von der Verbreitung elektronischer Medien.
Schlagworte
Kritik, Rechtfertigung, Literaturinterpretation
Arbeit zitieren
Simone Pefferkofen (Autor:in), 1997, Kritik und Rechtfertigung der schulischen Literaturinterpretation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/97655

Kommentare

  • Gast am 13.11.2001

    rgjlegwlgh.

    Du hast es ziehmlich unverstendlich geschrieben.

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Titel: Kritik und Rechtfertigung der schulischen Literaturinterpretation



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