Literarisches Portfolio

Zu Platons "Politeia", von Grimmelshausens "Der Abenteuerliche Simplicissimus", Novalis "Wenn nicht nur Zahlen und Figuren", Friedrich Schillers "Über die ästhetische Erziehung des Menschen"


Essay, 2013

44 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Platon: „Politeia“
Gedanken über Platons Gerechtigkeitsutopie aus heutiger Sicht
Reflexion

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: „Der Abenteuerliche Simplicissimus“
Brief in die Vergangenheit
Reflexion

Novalis: „Wenn nicht nur Zahlen und Figuren“
Zeitungsartikel: „Immer noch Ärger über die neue bunte Freiheit“
Reflexion

Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ Eine Erläuterung zu Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ und Untersuchungen über ihre aktuelle Gültigkeit
Reflexion

Kurt Schwitters: „An Anna Blume“
An Anna Blume
Der neue Kunstbegriff der Dadabewegung am Beispiel von Kurt Schwitters Merzgedicht „An Anna Blume“
Parodie für Anna

Hermann Hesse: „Der Steppenwolf“
Untersuchungen über die Suche nach Sinn und Identität
Reflexion

Jean Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft“
Figurenkonstellation
Reflexion

Michael Ende: „MOMO“
Die grauen Herren oder die Anfänge des großen Unheils
Reflexion

Judith Hermann: „Sommerhaus, später“
Rezension
Analyse

Dirk Bernemann und Charles Bukowski: Mal was anderes
Die Bukowskis unserer Zeit? Kommentar über Provokation in der Literatur am Beispiel von Dirk Bernemann

Literaturverzeichnis

ca. 370 v. Chr.

Platon: „Politeia“

* Platon: Der Staat - Politeia (Vollständige deutsche Ausgabe als eBook), Be-artnow Verlag, 2010.

Gedanken über Platons Gerechtigkeitsutopie aus heutiger Sicht

Die Politeia ist das bedeutendste Werk Platons. Es zählt zu den wichtigsten Überlieferungen der Philosophiegeschichte und stellt außerdem das erste Konzept zur politischen Philosophie dar. Die Politische Philosophie philosophiert normativ über die Ziele und Zwecke des menschlichen Zusammenlebens, sowie über die Bedingungen dafür. Der griechische Philosoph Platon setzt sich mit der Frage nach einem idealen Staat auseinander und bezieht in seine Überlegungen zahlreiche Lebensbereiche, wie Ethik und Pädagogik mit ein. Wichtige Texte der Literatur, wie der philosophische Grundlagentext „das Höhlengleichnis“ sind in der Politeia enthalten.

Der Begriff der Gerechtigkeit ist bei Platon für mich der wichtigste Bestandteil. Er stellt jedoch keinen konkreten dar, da er, aus verschiedenen Perspektiven heraus betrachtet, auch verschiedene Konsequenzen zur Folge haben kann. Der Ausgangspunkt des Philosophen ist dabei insofern relevant, als er von einem natürlichen Zustand des Menschen ausgeht, auf welchen aufgebaut wird.

In der Politeia stellt Platon sein Prinzip der Gerechtigkeit vor. Die Einheit von Vernunft, Mut und Besonnenheit, aufrecht gehalten von einer ungleichen Gerechtigkeit, sind für Platon Faktoren für einen idealen Staat. Eine Gesellschaft, in der alle tun wozu sie Begabungen haben und in der ungleiche Menschen so auch ungleich behandelt werden, klingt tatsächlich zunächst gerecht und wunderbar, da es hingestellt wird, als könnten alle auch tun was sie möchten. Dies gilt bei Platon jedoch nicht. Für mich scheitert die Gerechtigkeitsvorstellung schon daran, dass es in einem Staatssystem keine Instanz geben kann, die entscheidet wem, was das seine, oder ihre ist. Denn kein Mensch kann ohne die Fähigkeiten, über die entschieden wird, selbst zu besitzen, darüber richten. Auch geht die Freiheit verloren, wenn es nicht wählbar ist die “Berufung“ zu wechseln. So dann gälte nämlich nicht länger „jedem das Seine“.

Platon entwirft ein System der totalen Kontrolle über das Leben der Menschen. Zwar stellt er es nicht so dar, doch lässt es sich nicht leugnen, dass ein jeder Mensch in diesem System völlig eingeschränkt in der persönlichen Freiheit ist. „Jedem das Seine […]“ gilt nämlich nicht im Sinne von jedem/jeder sein/ihr Wille, sondern eher jedem/jeder sein/ihr Schicksal. In Platons idealem System sollen Kinder ab einem bestimmten Alter nach ihrem Wesen und ihrer Fähigkeit ausgewählt und einem bestimmten Stand zugeteilt werden. Aus diesem dürfen sie dann Zeit ihres Lebens nicht mehr ausbrechen. Die hierarchisch geordneten Stände bestehen aus dem unteren Nährstand, zu welchem Bauern, Handwerker und Händler gehören. Ihre besondere Fähigkeit soll die Besonnenheit sein. Den nächsthöheren Stand bildet der Wehrstand, also die Soldaten, die sich durch Mut auszeichnen. Ganz oben steht der Lehrstand, natürlich von Philosophen besetzt, deren Fähigkeit die Vernunft ist. Diese sind lediglich für das Allgemeinwohl zuständig und dürfen keine Familien haben. Frauen und kleinere Kinder sind völlig ausgeschlossen von diesem System, sie sind sozusagen Allgemeingut.

Das System ist auf seine Art ziemlich genial entworfen, zunächst scheint es, als könnte es funktionieren. Auch denke ich, dass Platon vermutlich schon das Allgemeinwohl im Sinne hatte und weniger das Erklimmen der Spitze dieser Hierarchie als Philosoph. Dennoch ist es schwer vorzustellen, dass sich Menschen freiwillig zu Teilen dieses Konstrukts machen lassen. Eine totalitäre Herrschaft, die totale Kontrolle wäre notwendig um es durchzusetzen.

Reflexion

Ich habe die Politeia ausgewählt, da ich mich gern mit philosophischen Schriften beschäftige, es aber in meiner Freizeit selten freiwillig tue. Auch wollte ich diesem Portfolio ein Werk, welches unendlich lange vor unserer Zeit geschrieben wurde, hinzufügen. Es war mir nicht möglich die Politeia vollständig zu lesen, sodass ich mich auf ausgewählte Textpassagen beschränkte. Ich halte die Beschäftigung mit philosophischen Texten persönlich relevant fürs Denken an sich.

Auch viele Schulfächer beinhalten philosophische Anteile. In Deutsch und auch in Fremdsprachen ist es der generelle Umgang mit Texten. Philosophische Texte sind literarische Texte und um sie verstehen zu können, müssen allgemeine Wertvorstellungen bekannt und verinnerlicht sein.

Philosophische Erkenntnisse begegnen und lenken uns ununterbrochen. Auch wenn die Philosophie zunächst theoretisch und ohne Möglichkeit zur tätigen Umsetzung scheint, ist vieles von ihr Benanntes und Entschlüsseltes, und sicher auch einiges Erkanntes, in unserem täglichen Leben wiederzufinden.

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: „Der Abenteuerliche Simplicissimus“

*Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. SWAN Buch-Vertrieb GmbH, Kehl, 1993.

Brief in die Vergangenheit

Hoch verehrter Herr Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, oder wäre es Ihnen lieber ich redete Sie mit German Schleifheim von Sulsfort an, als der Sie vorgaben den Simplicissimus geschrieben gehabt zu haben. Ja, in meiner Zeit ist ihr wahrer Name als Verfasser des „Simplicissimus“ kein Geheimnis mehr. Bereits 1838 wurden Ihre Spielereien entschlüsselt, sodass immerhin beinah zweihundert Jahre lang nicht bekannt war, wer hinter Ihren zahlreichen Pseudonymen steckte.

Ich schreibe Ihnen nun diesen Brief in die Vergangenheit, um meine Bewunderung dem Schreiber des ersten deutschen Abenteuerromans, wie ich ihn in diesem Brief mit Bestimmtheit nennen werde, auch wenn sicherlich nicht alle bedeutsamen Faktoren in der Gattungseinordnung zutreffen, auszudrücken und demselben einen Überblick dessen zu gestatten, was er in meiner Zeit immer noch an Bedeutung behält und verliert, beziehungsweise was sich in meinen Augen auf diesem Gebiet verändert und entwickelt hat. Auch werde ich Sie mit meinen persönlichen Beurteilungen und Gedanken überhäufen, die zugegebenermaßen für meine Zeitgenossen- und genossinen wenig von Interesse sind, denen Sie jedoch als ungefähr dreihundertfünfzig Jahre vor mir lebenden Menschen sicher etwas abgewinnen können. Jedoch werde ich darauf verzichten Ihnen hiermit zu viele Einzelheiten über meine Zeit und die geschichtlichen Ereignisse zwischen der Ihren und der meinen zukommen zu lassen, um nicht Gefahr zu laufen, nachträglich verantwortlich für Veränderungen in der Geschichtsschreibung zu werden. Damit will ich jedoch keineswegs behaupten diese Zeit sei so wie sie ist annehmbarer und anständiger geworden. Vielmehr ist es tatsächlich mein eigenes Nichtwissen und die Scheu vor der Übernahme der Verantwortung für eine noch drastischere Wendung des Weltgeschehens.

Zuerst einmal muss ich gestehen, dass es mir kein Leichtes war ihren Roman zu lesen. Mir ist nicht bekannt wie lange Sie an dieser Geschichte schrieben, ich jedoch benötigte nicht weniger als ein Jahr um sie zu lesen. Geradezu stolz war ich als ich es nun endlich zuklappen und in das Regal zurückstellen konnte, mit dem Wissen mich nicht wieder und immer wieder nach etlichen Unterbrechungen und anderen Lesefluchten von ihm angestarrt und aufgefordert zu fühlen, es doch endlich zum Ende der Abenteuer des Simplicius zu bringen und ihn dann vollends diesen seinen zu überlassen.

Abenteuerromane werden in der Absicht geschrieben, die Lesenden durch die spannenden Erlebnisse und Taten ihrer Helden zu unterhalten. Unterhaltung erfuhr ich sicherlich durch die absurden Erlebnisse des Simplicius, seine anfängliche Naivität und Plumpheit sowie spannende Entwicklung, doch war sie stets mit der Anstrengung verbunden den langen Satzgeflechten sowie seitenweisen Beschreibungen zu folgen. So passierte es, dass ich von Zeit zu Zeit einige Seiten überblätterte, um ohne weitere Details an den Fortlauf der Handlung anzuknüpfen. Die teils derben, schelmischen, rohen Passagen ließen mich nicht selten schmunzeln, gerade im Hinblick auf die Zeit die zwischen meiner Rezeption und Ihrer Produktion des Werkes liegt.

Ein Held ist der Simplicius nun ohne Zweifel, doch wird er oft ohne eigenes Zutun, sprich ohne die eigenständige Entscheidung seinerseits in seine neuen Lebensabschnitte befördert, sondern durch die vielen Umstände, Begegnungen und Zufälle die ihm geschehen. Auch sein Ankommen und schließlich einsiedlerisches Bleiben auf der utopisch paradiesisch anmutenden Insel waren nicht bewusst intendiert. Sofern ich richtig in der Annahme gehe, dass sein Verbleib in diesem Paradies eine Art Erlösung oder Erleuchtung darstellt, ist es dann auch richtig, dass es Ihre Intention ist, aufzuzeigen, dass dieses wahre Leben uns allenfalls zufällig zufällt, dass wir lediglich die Möglichkeiten, die sich uns bieten, erkennen und annehmen sollten, anstatt aus eigener Überzeugung heraus ein Bewusstsein für unseren Lebensweg entwickeln und es unseren Wünschen nach gestalten sollten? Oder liegt in diesem Sinne ein Unverständnis meinerseits, Ihrer Zeit und Möglichkeiten des eben Aufgezählten zugrunde, welches das genannte „uns“ ohnehin völlig ausschließt?

Eine weitere Frage die in mir brennt, ist die nach der Bedeutung der Religion, die dem Simplicius seit seiner ersten Zeit als, wir würden es heute „Aussteiger“ aus der Gesellschaft nennen, begleitet, behütet und ihm Tugend verleiht, die er vielleicht sogar an der letzten Station seines Lebens ganz und gar auszuleben vermag. Der dreißigjährige Krieg, dessen Schrecken und Grausamkeit von Ihnen nicht verhehlt wird, ist ein Ergebnis des Streits um die Religionen, was ich jedoch aus dem Simplicissimus an keiner Stelle herauszulesen vermag. Wie gelingt es Ihnen also diesen offensichtlichen Konflikt zwischen den Tugenden, die der Glaube mit sich bringt und seinen andererseits fatalen Auswirkungen für die Menschheit zu schlichten? Ist es, dass eben allein die Spiritualität, in Ihrem Sinne Gott, wichtig und leitend ist und diese schrecklichen Auswüchse allein menschengemacht und im Grunde als eine Abkehr dessen zu begreifen sind?

Der Abenteuerroman ist nach wie vor ein wichtiger Bestandteil der Literatur. In den dreihundertfünfzig Jahren nach Ihnen entstand eine Unendlichkeit an Schriften, dieses Genre bezeichnend, sodass ich sie unmöglich alle zu vergleichen vermag. Die Fähigkeit des Lesens ist zumindest in meinem Kulturkreis eine Selbstverständlichkeit für jedermann und jede Frau geworden. Hätten Sie das geahnt? Auch das Motiv der einsamen Insel, ist ein wiederkehrendes Element. Ihr Simplicissimus wird heute beispielsweise auch als die erste „Robinsonade“ bezeichnet, da ein ungeheuer bekanntestes Abenteuer-Buch und dessen Hauptprotagonist, mit dem Motiv eines Schiffbrüchigen auf einer einsamen Insel, den Namen „Robinson Crusoe“ tragen. Dieses gilt als der erste englische Roman und stammt aus dem Jahre 1719, also nicht weit nach Ihrer Zeit.

Ein Roman, den ich zwar als umgangssprachlich sowie gefühlsmäßig Abenteuerroman nennen würde, der jedoch von der Literaturwissenschaft aufgrund seines phantastischen Charakters nicht in eben diese Gattung einzuordnen ist, nennt sich „Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär (Untertitel: „Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären, mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller.“)“ von 1999 und ist der erste Roman einer Reihe von Abenteuergeschichten, dessen Held eher die fiktive fabelhafte Welt Zamonien, in der sie spielen, zu sein scheint, als ihre jeweiligen Hauptprotagonist_innen.

Eine Ausgabe des erwähnten Buches lege ich dieser Sendung bei. Es wird Sie freuen die Parallelen zu ihrem Simplicissimus herauszulesen, möglicherweise wird es Ihnen auch wie mir gehen und Sie werden mit Unverständnis und Unmut auf einiges reagieren müssen. Nichtsdestotrotz wünsche ich Ihnen eine gute Zeit in Zamonien, die Ihnen dabei helfen wird, ihre eigene von Angst und Kampf geplagte für einige schöne Stunden zu vergessen. Dies ist jedenfalls einer meiner persönlichen Gründe dafür mir Abenteuerliteratur zu Gemüte zu führen.

Leben Sie so wohl wie Ihnen möglich!

Hochachtungsvoll:

Eki Xenerme Hildesheim, der 15.März 2015

Reflexion

Das Buch über den Abenteuerlichen Simplissimus reizte mich, weil es angeblich den ersten Abenteuerroman in deutscher Sprache darstellt. Was die Abenteuer betraf wurde ich nicht enttäuscht, jedoch zog sich mein Leseerlebnis stark in die Länge. Dies brachte mich dazu die Zeitspanne zwischen Grimmelshausens Produktion und meiner Rezeption in der Weise zu beleuchten, dass ich mich direkt an ihn und seine Zeit wende.

Novalis: „Wenn nicht nur Zahlen und Figuren“

*Novalis, Friedrich: Heinrich von Ofterdingen (Materialien). Dortmund 1986, S. 152.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit werden gatten, Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.

Zeitungsartikel: „Immer noch Ärger über die neue bunte Freiheit“

Zusammenbrüche in der Hauptstadt

Erschüttert blickt die Welt auf die Geschehnisse der letzten Woche zurück. >Technik, Technik, Entwicklung, aber was ist mit dem Fortschritt?< ächzt es noch dumpf aus den Reihen einiger Land- und Bundestage. Diese Stimmen werden nun jedoch bald vollends der Vergangenheit angehören, die Welt will sie nicht wieder hören.

Heute wurde eine Schar Buntgekleideter dabei beobachtet, wie sie ein Picknick auf dem Dach des Buntestagsgebäudes in Berlin veranstalteten. Vielstimmung riefen Sie ihre Überzeugungen zu den Menschen hinab. Um unseren werten Lesenden einen Einblick zu gewähren, drucken wir hier die Rede in gekürzter Form für sie ab:

Das geheime Wort

Habt Hoffnung, meine Freunde. Es ist soweit, es ist eine Zeit gekommen, eine Zeit, in der zunächst kaum jemand mehr weiß was Wahrheit oder Illusion, was richtig oder falsch ist. Denn die altbekannten Maßstäbe sind zerfallen, ja! Alles worauf wir meinten unsere Welt zu bauen, liegt in einem großen undurchsichtigen Haufen aus bedeutungslosen Zahlen und Figuren vor unseren Füßen und wird mit der neuen Zeit nach und nach verschimmeln. Diese ganzen Ziffern und Zusammenhänge sind nicht mehr das, für das wir sie hielten, Bedeutungen haben sich verschoben, die Schlüssel zum Entschlüsseln aller Formeln, aller Zusammenhänge und physikalischen Rechnungen sind zerschmolzen.

Fahrt nur fort zu singen, euch zu küssen – so seid ihr auf dem richtigen Weg. Lasst uns gemeinsam die Tiefgelehrten verhöhnen, denn sie wissen gar nichts, nichts was wirklich zählt. Die Welt erlaubt uns nun selbst ein freies Leben, sie hat sich ihr Selbst zurückerobert. Sie ist eine Welt geworden, in der das Leben seinen wahren Wert wiedergewinnt. Durch die Vereinigung von Licht und Schatten werden wir eines Tages wieder erkennen. Die Wahrheit existiert schon jetzt.

Doch ich sage es euch, meine Freunde, die Zeit ist gekommen, die wahrhaftige Welt. Goethe, Novalis und Sartre sind nun unser Gesetz. Doch von sich aus und ohne dass wir sie dazu machen. Die Welt, die Gesellschaft, die Menschheit erkennt die wahren Weltgeschichten, dort wo sie geschrieben stehen.

Sucht! Schreibt! Erzählt! Und wir werden es alle finden, das geheime Wort wird eines Tages schwarz auf weiß auf dem Papier, eines anderen Tages unsagbar schön auf unseren Lippen gefunden werden und das ganze verkehrte Wesen dieser verseuchten Erde hinfort blasen.

Zwar gab es keine Verletzten, doch wurde das friedliche Beisammensein von ehemaligen Regierungsmitgliedern als eine Demütigung angesehen, die sie mitten auf dem Alexanderplatz zusammenbrechen ließ.

Ebenfalls verwirrend ist das steigende Aufkommen von Zoo- sowie wilden Tieren, die sich nun überall im künstlich geschaffenen, menschengemachten Lebensraum tummeln und für Unruhe sorgen. Positiv hervorzuheben ist diesbezüglich, dass auch die Unruhe nun kein weiter verurteilenswerter Aspekt unserer Lebenswelt ist.

Wir lagen falsch. Ob es diesen Ausdruck nach dieser Weltwende überhaupt noch geben wird ist ungewiss. Und Ungewissheit ist es auch, welche die momentane Stimmung in der Welt bestens beschreibt. Die Menschen wissen nicht, woran sie sich halten sollen, der so sicher geglaubte Boden unter unseren Füßen ist zu einer wabernden Masse aus neuen und alten Gedanken, aus gebrochenen Überzeugungen geworden. Mitgefühl, Liebe und gegenseitige Hilfe sind plötzlich mehr wert als Leistung, Ruhm und Fortschritt. Diejenigen, die die Reise an den Ort der blauen Blumen unternahmen und das wahre Wort zu Gesicht bekamen, schwören darauf, dass Druck und die generelle Struktur, in die wir uns zu pressen versucht haben, um zu unserer jeweiligen Gesellschaft zu gehören, wertlos in Anbetracht des Glückes der Menschheit sind, dass das einzig Wahre unsere Kontakte, unsere Gefühle, unser Selbst und das Wohl der Natur seien. Es bleibt abzuwarten, inwieweit und wie schnell die alten, noch kritischen Stimmen zu Beginn dieser neuen Weltära verstummen werden, doch unbezweifelbar sicher ist, dass sie schon bald von muntereren und lauteren übertönt werden.

Reflexion

Das Gedicht „Wenn nicht nur Zahlen und Figuren“ des Frühromantikers Novalis, eigentlich Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, aus dem Jahre 1800 spricht von dem Wunsch nach der Utopie einer neuen Welt (-anschauung). Diese wäre eine freiere, natürlichere mit mehr Raum für Fantasie und Liebe. Für mich ist das Gedicht, welches ursprünglich in dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ platziert werden sollte,1 beispielhaft für die romantische Auffassung Novalis` und seiner Mitromantiker_innen, für die Wünsche und Hoffnungen einer schöneren, bunteren Gesellschaft.

Durch das Wort „Wenn“ schwingt nach meinem Empfinden etwas wie eine kleine Gewissheit in den Zeilen mit, die das Traumgebilde einer wahrhaftigeren Welt nicht ausschließt. Diese Gedanken sowie der Appellcharakter der Verse veranlassten mich zu der Idee, die Inhalte des Textes in einer Rede wiederzugeben, die diese sichere Hoffnung auf einen Umbruch, der den Pragmatismus dieser Erde zerstört, überspitzt darstellt. Mir ist bewusst, dass das Gedicht auch in eine andere Richtung hin interpretiert werden kann, nämlich so, dass es im Grunde gar nicht möglich ist, beispielsweise die „Zahlen und Figuren“ der Welt nicht mehr so ernst zu nehmen. So trüge es eher ein trauriges, anstatt das von mir bevorzugte hoffnungsvolle, Wesen in sich.

Die sprechende Person ist absolut überzeugt von einem absoluten Weltwandel und spricht auch den begeisterten Zuhörenden Mut zu, weiter nach ihren Grundsätzen zu handeln und zu leben.

Ich bin der Ansicht, dass es nicht immer möglich ist, ein Verstehen von Texten explizit analytisch auszudrücken, wenn direkt nach Bedeutungen und Interpretation gefragt wird. Durch den schreibenden Umgang mit diesem Text konnte ich mir einen persönlicheren Zugang schaffen, der mir das Verstehen auf eine andere Art ermöglichte.

Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“

* Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Philipp Reclam, Ditzingen, 2000.

Eine Erläuterung zu Friedrich Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ und Untersuchungen über ihre aktuelle Gültigkeit

Im Jahr 1801 erschien Friedrich Schillers Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, gegliedert in 27 Briefe. Im Jahr 1793 verfasst, wurden diese Briefe erst drei Jahre später etappenweise in Schillers Zeitschrift „Die Horen“ veröffentlicht. Sie befassen sich mit der Bestimmung des Schönen, in der Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und der Frage nach der Funktion der Kunst innerhalb der Kulturentwicklung der Menschheit. Dabei stößt der Leser im Verlauf der Abhandlung auf den ästhetischen Zustand, den der Mensch durch die ästhetische Erziehung erlangen soll und der ihn zu moralischen Handlungen im Sinne der Gemeinschaft bringen soll.

Zunächst stellt Schiller die These auf, dass der Mensch durch seine Vernunft erst einmal weg von seiner Natur streben muss, um anschließend wieder bewusst zu ihr zurückzufinden.2

Im Folgenden differenziert er die Begriffe Natur und Verstand weiter in verschiedene Triebe aus. Ihm zufolge wirken zwei Kräfte auf den Menschen. Zum einen der Stoff-, und zum anderen der Formtrieb. Sie wirken nicht unbedingt gegeneinander, aber in unterschiedliche Richtungen.

Der Stofftrieb ist ein sinnlicher Trieb, er geht vom physischen Dasein des Menschen aus, macht diesen wirklich, setzt ihn in die Gegenwart, fordert Veränderung, gibt der Zeit einen Inhalt und verändert sich auch ständig selbst. Er setzt den Menschen in die Schranken der Zeit und macht ihn somit zu Materie, also zu einer Realität, die die Zeit erfüllt. Der höher strebende Geist wird durch ihn an die Sinneswelt gefesselt und ruft die Abstraktion in die Grenzen der Gegenwart zurück. Demzufolge ist es ein subjektiver Zustand.3

Der Formtrieb dagegen ist ein geistlicher Trieb, der von der vernünftigen Natur des Menschen ausgeht. Er ist bestrebt, den Menschen in Freiheit und Wahrheit sowie das Recht durch zu setzen. Zudem gibt er Gesetze für jedes Urteil bei Erkenntnissen vor und schafft allgemeingültige Urteile. Durch ihn bleibt die Persönlichkeit ein konstanter Pol und verändert sich nicht. Er bringt Harmonie in die Verschiedenheit des Daseins. Der Formtrieb ist also, wie der Name schon erahnen lässt, ein objektiver Zustand.4

Die beiden Naturtriebe sind sich nicht direkt entgegengesetzt, da sie auf unterschiedliche Objekte dringen. Der Formtrieb will gar keinen Zustand fixieren und der Stofftrieb will die Veränderung nicht auf der Ebene der Persönlichkeit erwirken.

Um zwischen den beiden Trieben zu vermitteln, braucht mensch, laut Schiller, nun noch einen dritten Trieb. Diesen nennt er zunächst Kultur. Kultur im Sinne von Pflegen und Bilden. Das Stadium der Kultur ist die Gegenwart. Sie ist kein Trieb der selben Art und Weise, wie die beiden ersten, sondern ein Vermittler zwischen ihnen. Sie sorgt dafür, dass der Formtrieb die Vernunft des Menschen bis auf das Höchste ausbildet. Gleichzeitig hält die „Kultur“ den Stofftrieb dazu an, den Menschen für Empfindungen im höchsten Maß empfänglich zu machen. Das angestrebte Ziel dabei ist, Freiheit zu erlangen. Gleichzeitig hält die „Kultur“ den Stofftrieb dazu an, den Menschen für Empfindungen im höchsten Maß empfänglich zu machen. Er bildet also beide Naturtriebe auf zwei sehr unterschiedlichen Ebenen aus. Die Kultur ist gleichzeitig eine Ausbildung und eine Begrenzung des Stoff- und des Formtriebes.5

Die Triebe müssen sich gegenseitig die Waage halten, um einen vollkommenen und freien Menschen zu schaffen, der von sich aus moralisch handelt und eine ideale Totalität des Charakters erreicht, sodass eine vollkommene Ästhetik entsteht.

An späterer Stelle spezifiziert Schiller diesen, als Kultur bezeichneten, Trieb zu dem sogenannten Spieltrieb, der eine Wechselwirkung zwischen Stoff- und Formtrieb darstellt.6

Über Umwege gelangt er schließlich zu der These, dass die ästhetische Erziehung die Voraussetzung ist, um „[...]den sinnlichen Menschen vernünftig [zu] machen“.7

Schiller geht von einem ästhetischen Zustand aus, einem Zustand, in dem sich Stoff- und Formtrieb im Einklang befinden. Von diesem ästhetischen Zustand ausgehend, ist alles möglich. Es handelt sich sozusagen um einen Nullzustand, einen unbestimmten Zustand, von dem aus der Mensch neu geformt werden kann. Das ist das Höchste für Schiller: Das Erlangen persönlicher Freiheit durch seine ästhetische Kultur.8

Damit, dass die ästhetische Erziehung die Voraussetzung dafür ist, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, ist gemeint, dass der Mensch von Anfang an ästhetisch erzogen werden muss. Sodass sich Vernunft und Freiheit, sowie Empfindungen gleichermaßen, und so stark wie möglich ausprägen können. Der Übergang vom Zustand des sinnlichen Empfindens zu dem des tätigen Denkens und Wollens braucht einen weiteren, mittleren Zustand, den der ästhetischen Freiheit. Die Bedingung hierfür ist die eigene Einsicht. Die Freiheit setzt Schiller mit dem Schönheitsbegriff gleich. „Schönheit ist also nichts anderes als Freiheit in der Erscheinung.“ 9

Es gibt drei Entwicklungsstufen des Menschen: Den physischen Zustand, in welchem der Mensch seiner Natur und seinen Trieben ausgesetzt ist, den ästhetischen Zustand, in welchem der Mensch frei von der Macht der Natur ist, und den moralischen Zustand, welcher den Menschen zum Herren über die Natur macht.10

Eine ästhetische Kultur und Erziehung zielt also darauf ab, den Menschen zu veredeln und zu vervollständigen. So soll jede Person zu vernünftigem Handeln erzogen werden und lernen die Triebe zu beherrschen, ohne sie dabei zu verwerfen. Mit der Ausbildung des Vernunfts-, sowie des Gefühlsvermögens soll der Mensch zu einem moralisch handelnden werden. Dies würde die Voraussetzung für eine zivilisierte Gesellschaft bilden. Damit komme ich zu der These, dass der ästhetische Staat auch heute noch nicht existieren kann, da dieser Ausgleich nämlich nicht vollständig stattfindet.

Auch Schiller muss das klar gewesen sein. In seinen Briefen an seinen Freund Körner, in welchen die Grundlage für die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen eigentlich schon enthalten ist, schreibt Schiller, er sei sich sicher, dass es keine politische Regeneration geben könne. Damit setzt er quasi das Scheitern der französischen Revolution voraus. Deshalb ist die ästhetische Erziehung auch so wichtig. Durch sie könnte eine Neubildung eines Staates beginnen, da sie Grundsteine für Humanität und Moral legen würde.

Schiller geht bei diesem Wunsch nach Veränderung von der Kraft der_des Einzelnen aus. Für ihn ist der Mensch ein unvollkommenes Wesen. Der Realist in Schiller ist der Meinung, dass, obwohl der ästhetische Staat nicht in Sicht ist, Künstler_innen aber – und damit spielt er auf sich selbst an - ihn anstreben sollte, was wiederum seine idealistische Seite zum Vorschein bringt. Mit seinem Gesamtbestreben, das in den Briefen deutlich wird, ist er allerdings eindeutig dem Idealismus zuzuordnen. Als er sich am Ende der Abhandlung selbst die Frage stellt, ob solch ein ästhetischer Staat existiere, antwortet er darauf: „Dem Bedürfniß nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der That nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden […]" 11

Das Ideal des ästhetischen Staates ist eine unerreichbare Realität, da der Mensch ein unvollendetes Wesen ist. Dennoch sieht Schiller im Kleinen und in den Köpfen der Menschen Möglichkeiten.

Die ästhetische Erziehung ist die einzige Chance, dem Teufelskreis, in welchem Individuum und Staat sich gegenseitig bedingen, zu entfliehen. Der Mensch wird aus dem Staat, der Staat aus den Menschen, aus denen er besteht.

Die Gründe für das Nicht-Existieren einen ästhetischen Staates sind unter anderen, dass die Unterschicht „verwildert“, während die Oberschicht „erschlafft“. Die Unterschicht folgt also lediglich ihrem Formtrieb, während die Oberschicht sich diesem zu wenig bedient.12 Insgesamt ist die Begründung also auf Schillers Erläuterungen zum fehlenden Ausgleich des Stoff- und Formtriebes zurückzuführen.

Auch unsere heutige Gesellschaft lässt die Perspektive dieser Betrachtung zu. Heute, wo wir die Möglichkeit der Aufklärung durch verschiedenste Medien haben, nehmen wir sie nicht in vollem Maße wahr und verschließen die Augen vor vielen Missständen auf unserer Erde. Man könnte behaupten, wir Menschen handeln größtenteils nach unseren eigenen egoistischen Bedürfnissen und nicht im Sinne allgemeiner Gerechtigkeit. Solange es uns als Individuen gut geht, lassen wir die Gedanken an die sozialen Missstände unserer Welt außer Acht. Wir folgen mehr oder weniger gleichgeschaltet unseren Trieben, nur darauf bedacht, dass es uns gut geht und ohne das große Ganze in Betracht zu ziehen. Zwar sind uns gesellschaftliche Konventionen wichtig und auch die Moral, doch lassen wir sie uns automatisch aufbürden, oft ohne sie mit unserer Vernunft anzuerkennen. Dem Gedanken Schillers, dass eine ästhetische Gesellschaft nur im Kleinen existieren kann, ist auch heute noch zuzustimmen. Wir behandeln unseren nahen Kreis von Mitmenschen zwar oft gut und auch im Sinne der Nächstenliebe. Jedoch trübt sich unsere Sicht auf die moralischen Grundsätze, sobald es darum geht, über den Tellerrand hinaus zu sehen und unser Handeln im Zusammenhang der Weltwirtschaft, sowie unseren Einfluss auf unseren Staat, zu betrachten.

Die Frage nach der Gültigkeit, der Idee der ästhetischen Erziehung Schillers für unsere heutige Gesellschaft, ist schwer zu beantworten, weil Schiller keine direkte Methode aufzeigt, wie der Mensch ästhetisch zu erziehen sei.

Den Ansatz, der vom einzelnen Menschen als Individuum ausgeht, halte ich für sinnvoll, da alles andere mit Zwang zu tun hätte. Grundsätzlich ist der Gedanke der Ausprägung der verschiedenen Triebe des Menschen allgemeingültig richtig, wichtig und erstrebenswert. Einen Ausgleich oder eine Mitte zwischen der Vernunft und der Natur zu finden, ist ein gesundes und erstrebenswertes Ziel. Dennoch bleibt die Frage, ob sich der ideal ästhetisch erzogene Mensch dadurch auch automatisch nach ästhetischen Grundsätzen richten und nach dem Wohl der Gesellschaft handeln würde.

Doch ist der Gedanke eines moralisch handelnden Menschen, durch die Erziehung zur Mündigkeit, auch ein einleuchtender. Wenn wir es schaffen, einen Menschen zum Gebrauch seiner eigenen Vernunft und zur Kontrolle seiner natürlichen Triebe, ohne diese dabei zu vernachlässigen, zu erziehen, bleibt die Möglichkeit des moralischen Handelns im Sinne der Gerechtigkeit und der Gemeinschaft nicht mehr länger unmöglich weit hergeholt.

Reflexion

Ich wählte die Abhandlung über die ästhetische Erziehung zunächst, da ich in einer Philosophie Vorlesung davon gehört hatte und mir ein Text von Schiller, um dem Aspekt Sachtext im Literarischen Portfolio gerecht zu werden als ein für mich persönlich angenehmer erschien. Denn Schillers Art zu schreiben faszinierte mich schon immer. Dazu kommt, dass dieser Text viele meiner Interessenfelder, sowie Gegenstände aller meiner Studienfächer beinhaltet. Bedeutungen der Kunst, Philosophie und Pädagogik sind darin zu finden, wobei der Text zudem seinen literarischen Anspruch behält.

Beim Lesen des Buches durchlitt ich gleichermaßen die Verzweiflung des Unverstehens, wie mich auch die Freude an wunderschönen Formulierungen und Aussagen in Begeisterung versetzte. Viele Äußerungen Schillers erkannte ich als sehr wahr für mich selbst an und ärgerte mich ebenso oft über Schillers ungenaue Ausdrucksweise, die das Buch allerdings andererseits sehr sinnlich und schön macht.

Obwohl ich die Aufbereitung Schillers Thesen als recht schwierig erlebte, bin ich sehr froh, mich dieser Aufgabe gestellt zu haben, da ich sie als sehr lehrreich und erhellend empfand.

Kurt Schwitters: „An Anna Blume“

* Kurt Schwitters: Eile ist des Witzes Weile. Hg. von Christina Weiss und Karl Riha, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2009, S. 27, 28.

An Anna Blume

Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!

Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, wir?

Das gehört beiläufig nicht hierher!

Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?

Die Leute sagen, Du wärest.

Laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.

Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,

Auf den Händen wanderst Du.

Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt,

Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.

Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, wir?

Das gehört beiläufig in die kalte Glut!

Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?

Preisfrage:

1. Anna Blume hat ein Vogel,
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel?

Blau ist die Farbe Deines gelben Haares,

Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.

Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid,

Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!

Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, wir!

Das gehört beiläufig in die Glutenkiste.

Anna Blume, Anna, A N N A!

Ich träufle Deinen Namen.

Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.

Weißt Du es Anna, weißt Du es schon,

Man kann Dich auch von hinten lesen.

Und Du, Du Herrlichste von allen,

Du bist von hinten, wie von vorne:

A N N A.

Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.

Anna Blume,

Du tropfes Tier,

Ich liebe Dir!

Der neue Kunstbegriff der Dadabewegung am Beispiel von Kurt Schwitters Merzgedicht „An Anna Blume“

Die Dadaisten leiteten im Jahr 1916 eine neue Kunstrichtung ein: Dada. „Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand etwas davon wusste und morgen ganz Zürich davon reden wird.“, las Hugo Ball auf dem ersten offiziellen Dada-Abend aus seinem Dadaistisches Manifest.13 Zeitlich an den Expressionismus anschließend, entstand Dada mit dem Anspruch, etwas Neues, Anderes zu schaffen. Dies Neue wurde bestimmt von Banalität, Zufälligkeit, Provokation, Instinktivität, Gesellschaftskritik, Unsinn, der Rückkehr zum Ursprünglichen, und hat dabei doch den Anspruch von überhaupt nichts bestimmt zu sein. „Dada ist mehr als Dada!“, behauptet der Berliner Dadaist Raoul Hausmann, 1921 in der niederländischen Avantgarde-Zeitschrift „De Stijl“.14

Kurt Schwitters (1889 – 1948) beteiligte sich an der Dada-Bewegung in der Region Hannover und wurde speziell mit dem Merzgedicht „An Anna Blume“ bekannt. Er trug damit zu einer neuen revolutionären Ära der Dichtkunst und einem neuen Grundgefühl für Kunst im Allgemeinen bei.

„An Anna Blume“ erschien 1919 in der Juliausgabe des „Sturm“, einer Zeitschrift des Sturm und Drangs und im selben Jahr in Schwitters erster selbständiger Buchpublikation „Anna Blume – Dichtungen“.15

Anna wurde zu einer Ikone der Merz-Kunst, eine Bezeichnung von Kurt Schwitters, die nun im Nachhinein als eine „Unterart“ des Dada betrachtet werden könnte, allerdings als eine eigene Richtung (oder eben gar keine) angesehen werden will. Merz zeichnet sich zum Beispiel durch das Prinzip aus, dass etwas nicht erfunden, sondern etwas Gefundenes verwertet wird. So entstand der Überlieferung zufolge „An Anna Blume“. Schwitters habe den Satz „Anna Blume hat ein Vogel“, auf eine Planke geschrieben, gefunden und für sein Gedicht genutzt. Auch der Name „Merz“ entstand auf diese Weise, wurde nämlich von Schwitters aus einer Werbung für die Commerzbank gerissen.

Mit „Merz“ verfolgte er folgende Intention: „Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfasst zur künstlerischen Einheit.“16

Eine Analyse des Gedichts über Anna Blume ist insofern nicht möglich, da es sich nicht an den geltenden Begriffen der Dichtkunst orientiert. Zudem würde sie der Intention der Dadaist_innen nicht entsprechen, da Dada mehr sein will als nur eine Kunstrichtung und durch wissenschaftliche Arbeit verharmlost würde17

Aus diesem Grund folge ich hier, anstatt das Gedicht kaputt zu analysieren, dem Beispiel der Dadaist_innen und Anhänger_innen Kurt Schwitters und erweise Anna die Ehre durch mein eigenes Merzgedicht:

Parodie für Anna

Anna als Bild Anna als Gedicht Anna als Delphin und als Tagesgericht Anna was hast du nur wieder angestellt, drehst dich um, drehst eine Welt AnnA AnnA Ann A ann ann ann nAnAnAn annnnannan Annn an an Ann Annn ann nannnan ann anAnAnan An AnAn an A A anann anan an ana aAnA A na nAnAnn an a a nA an AnnA du und deine Blumen deine roten Schuhe hast du vergessen bist auf gefliestem Wasser stehen geblieben hast die Trompeten nicht gehört. Gehirnpudding und Waffen Bällewerfer üben Ball werfen, während du deinen Fuß knetest weißt du überhaupt über deine Bedeutung Anna kann Bedeutung eine Bedeutung haben, wenn sie es nicht soll versuche einmal die Bälle zu stapeln Anna, wenn das einer kann, dann du Maskenquark und Strumpfhosen.

„Eile ist des Witzes Weile“, Kurt Schwitters

Hermann Hesse: „Der Steppenwolf“

*Hermann Hesse: Der Steppenwolf, suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007.

Untersuchungen über die Suche nach Sinn und Identität

- Mit Verweisen auf den weiteren Werk- und Lebenskontext Hermann Hesses -

Eine Charakterisierung des Harry Hallers, des Steppenwolfes aus dem gleichnamigen Roman „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse, ist im Grunde eine des Buches an sich, beziehungsweise ist der gesamte Roman eine Charakterisierung von Harry Haller. Die absolute Hauptperson ist er, Harry, alle anderen Protagonisten Ausdrücke seiner selbst, Verdeutlichungen seiner verschiedenen Neigungen und Wünsche, Zweige seiner Persönlichkeit, die in unterschiedliche Richtungen sprießen. In dem „Tractat vom Steppenwolf“, welches diesem selbst, noch nahe dem Beginn seiner Geschichte, in die Hände fällt und welches ihn zunächst distanzierter und somit genauer und reflektierter zu analysieren scheint, als er es selbst zu tun vermag, sind seine Wesenszüge und deren interne Unstimmigkeiten umfassend charakterisiert und auf den Punkt gebracht, sodass es mir in diesem Aufsatz fern liegen wird, diese abermals konkret auszudifferenzieren.

Die Identitätsfrage, die Frage nach einer Zusammensetzung einer Persönlichkeit, steht zusammen mit der Suche nach dem persönlichen Glück, der persönlichen Erlösung, im Mittelpunkt des Buches. Tatsächlich gehen diese beiden Themen Hand in Hand in die selbe Richtung, verirren und verwirren sich gemeinsam in der Frage und Suche nach Einheit, Substanz und Sinn. Man kann soweit gehen, diese Suche als eine nach dem allgemeinen Sinn des Lebens zu deuten.

Die Geschichte des Steppenwolfes ist nur im weitesten Sinne eine Beschreibung von Handlungsabläufen des Protagonisten. Denn diese könnten ebenso symbolisch für den Prozess hin zur vollständigen Anerkennung der eigenen Persönlichkeit stehen. Bewegung existiert dennoch reichlich, besonders die geistige. Harry Haller ist ein Geistesmensch, kapselt sich ab von den schnell zu begeisternden, vergnügungs- und ordentlichkeitstollen Weltmenschen überall um ihn her. Die Welt scheint nichts mehr für ihn bereit zu halten, er kann ihr kaum noch etwas abgewinnen, sich selbst ohnehin nicht. Die Stagnation um ihn herum, sowie in seinem Inneren ödet ihn an, er sehnt sich weg von der lahmen Gemütlichkeit seines bedeutungslosen Lebens, hin zu einem Umbruch, einer Revolution.18 Kleine Freuden, Ausflüchte und Melancholien findet Harry in den alten und, für ihn, einzig echten Dingen der menschlichen Kultur, wie Kirchenmusik, Musik von Bach und Mozart, Literatur von Descartes und Nietzsche, sowie dem beständigen Genuss des Weines.

Ursprünglich begründet liegt das Problem des unglücklichen Protagonisten in seinem Urteil über seine eigene unkonventionelle Person. Harry Haller sieht sich selbst zum einen bestehend aus einem bürgerlichen Ich, dem behütete Sauberkeit, Ruhe, Anstand und Konventionen Eindruck machen. Angezogen wird er von der braven Burgeausie, für deren Versinnbildlichung sich Haller und Hesse die tadellose Araukarie Hallers gutbürgerlicher Vermieterin, in ihrem gut gebürsteten Hausflur ausgesucht haben.19 In einem Brief von ca. 1948 beschreibt Hesse ebenfalls eine Araukarie in seinem damaligen Hausflur.20 Faszination übt diese Welt auf ihn aus, Sehnsucht und Rührung lässt sie aufkommen, doch wohl mehr noch als das, verursacht sie Ekel, Hass und Befremden. Und an diesem Punkt kommt der Steppenwolf zum Vorschein. Auch aus ihm meint Harry zu bestehen, sieht ihn als Teil seiner Seele, als Gegenspieler zum lahmen gemütlichen Alltags-Harry. Diese Spaltung von Wolf und Mensch in einer Person könnte man in die Trennung von Natur und Geist übersetzen.

Der Steppenwolf scheint die überlegende Seite zu sein, oder zumindest insofern wichtiger, als dass er auffälliger, anstrengender eben in seiner bissigen Wildheit anders als das meiste Bekannte ist und dadurch nicht in die Umgangsformen der Außenwelt passt. Im Tractat wird die Möglichkeit aufgezeigt, „[…] dass seine Erzieher versucht hatten, die Bestie in ihm totzukriegen, und ihm gerade dadurch die Einbildung und den Glauben schufen, dass er in der Tat eigentlich eine Bestie sei, nur mit einem dünnen Überzug von Erziehung und Menschentum darüber.“21 Dies würde den Ausgangspunkt des Zerrens in eine gesellschaftsuntaugliche Richtung natürlicher, beinahe reiner erscheinen lassen.

Die Andersartigkeit des wütenden Wolfes lässt Harry sich selbst als geächteten, unpassenden Menschen ansehen, gar festlegen. Wobei dieses Unpässliche seiner Meinungen, Weltanschauungen und die daraus resultierenden Hassgefühle gegen sich selbst und die Welt, allerdings unausweichlich bleibt, sofern er nicht die Augen vor der Realität verschließen wollen würde. Seine Unzufriedenheit ist begründet in dem ständigen Aufeinanderprallen seiner beiden Naturen, die aufgrund ihrer krassen Gegensätzlichkeit nicht fähig sind, nebeneinander her zu existieren. Allenfalls in seltenen friedlichen Momenten können Wolf und Mensch gegenseitig Stärke aus einander ziehen. Vorwiegend und vorliebnehmend greifen sie einander an. Der Wolf fletscht wütend die Zähne, der Brave erhebt scheltend den Finger. Da sie sich gegenseitig ständig Einhalt gebieten, lebt Harry keinen von ihnen vollständig aus. Er kann sich selbst, einschließlich seiner Wünsche und Begierden, nicht definieren und gibt lediglich seinen gewohnten Alltäglichkeiten nach. So kommt es, dass er verloren ist in der Welt und in sich selbst, dass er zwar anarchistische Gedanken von Chaos und Umsturz hat, diese aber nicht auslebt. Nach außen hin ein unauffälliger Bürger mit Wohnsitz und Bankkonto, innerlich ein Revolutionär und Verächter der Gesellschaft, in die er sich in groben Zügen eingliedert und von der er sich gleichzeitig unabhängig machen will. Im weitesten Sinne hat er dies geschafft, Kontakte pflegt er, wenn überhaupt, so oberflächlich wie nur möglich. Eine Geliebte ist da, existiert irgendwo auf der selben Welt, tangiert ihn aber nicht sonderlich und umgekehrt genauso.22 Ein paar alte Bekannte sind da, deren Gesellschaft früher einmal angenehm war, denen der Steppenwolf zu der Zeit, in der das Buch spielt, jedoch nur noch Verachtung für ihre bürgerliche Beschränktheit entgegenbringen kann. Deutlich wird dies bei Harrys Treffen mit einem alten Bekannten, welches den Steppenwolf in ihm völlig ausarten lässt, indem er sich outet, indem er die Wahrheit über sich und seine Ansichten preisgibt.23 Diese, Harrys, Wahrheit war nicht immer schon dieselbe, sie wurde erst die, die sie nun ist. Eine Entwicklung durch zerstörte bürgerliche Existenzen, zerrissene Träume, über den Haufen geworfene Erkenntnisse, immer weiter hin zum Steppenwolf, weg vom Normalen, Erlaubten, “Gesunden“ fand statt.

„Bei einer solchen Erschütterung meines Lebens hatte ich am Ende irgend etwas gewonnen, dass war nicht zu leugnen, etwas an Freiheit, an Geist, an Tiefe, aber auch an Einsamkeit, an Unverstandensein, an Erkältung.“ 24

Nachdem Harry das Tractat über sich selbst las, kommt er zu dem Entschluss, keine neue solche Eigeninkarnation mehr zu wollen, keine Zerstörung und neues Aufstehen mehr. Er will die Entwicklung unterbrechen. So entscheidet er sich für den kleinen, vorübergehenden Schmerz des Selbstmordes, um zu den Unsterblichen, von denen das Tractat spricht, aufzusteigen, anstatt sich weiter mit seinem leidlichen Leben abzukämpfen, welches ihn zu keinem erstrebenswerten Punkt zu führen vermag.25

Zum Glück des Fortlaufs der Geschichte trifft er Hermine, einen Gegenpol zu seiner Person, die ihm dennoch andere, ihr selbst inbegriffene Seiten, an ihm selbst offenbart. Sie lehrt ihn die Freude an den kleinen schönen Dingen des Lebens, führt ihn in die Welt der Lebemenschen ein und unterdrückt zu dieser Zeit größtenteils den Steppenwolf in Harry. Wie zuvor schon angedeutet, sehe ich die Bedeutung Hermines als einen Teil von Harrys Charakter. Auch Hermann, in den sich Hermine für Harrys Vorstellung zu verwandeln vermag, etwa in einem kurzem Moment bei ihrem ersten gemeinsamen Essen, als Harry ihren Namen errät oder durch ihre maskuline Verkleidung beim Maskenball, ist ein Teil von ihm. Er ist ein Jugendfreund Harrys und scheinbar verkörpert Hermine ihn zusätzlich in sich. In der besagten Restaurantszene verändert Hermine ihr Aussehen in ein männliches, sodass Harry Hermann in ihr erkennt und dadurch ihren Namen, Hermine, herausfindet.26

Der Name Hermann und der auffällig oft auftretende Anfangsbuchstabe H (Hermine, Hermann, Harry Haller) ist nicht zufällig eben der des Autors Hermann Hesse. Harry Haller ist eines von Hesses Alter Egos. Parallelen tauchen im Grundsätzlichen von Harrys Person, wie in Einzelheiten seines Umfeldes auf. Auch Hermann Hesse steckte in seinem Leben oft in Identitätskrisen, sowie im Konflikt mit der Gesellschaft. Auch er war Kriegsgegner und wurde von der Presse mit Hassbriefen attackiert. Im Steppenwolf warnt Hesse durch Harrys Meinungen vor dem nächsten Weltkrieg (was zur Zeit des Steppenwolfes allerdings eher belächelt wurde). Selbstmordgedanken und Unzufriedenheit mit sich und der Welt kannte auch Hesse.27

Einige seiner Romane sind autobiographisch und verarbeiten Erlebnisse, Stimmungen, Beziehungen und Begegnungen, wenn nicht sogar ganze Lebensabschnitte. Die Entwicklungen der Protagonisten weisen oftmals Parallelen auf. Die Thematik des Suchens und Findens der eigenen Identität und Wirklichkeit beherrscht einige ihrer Grundgerüste. Die Figuren durchlaufen eine Entwicklung, die sie zu einer neuen Erkenntnis führt, wobei diese zumeist eine lebensbejahende ist. Parallelen finden sich beispielsweise in Hesses Erzählung „Demian - Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend“ von 1919.

Ähnlich wie der Steppenwolf, man könnte sagen in umgekehrter Art der Betrachtung des Verhältnisses von Welt und Person, lebt auch der Hauptprotagonist Emil Sinclair in „Demian“ zwischen zwei verschiedenen Welten. Der behüteten, heilen, bürgerlichen und der “dunklen“, welche die Schlechtigkeit und dunklen Seiten der Menschen und Welt offenbart. Und auch Sinclair findet über Umwege und unterschiedliche Persönlichkeitsbilder wie -auslebungen zu seiner eigenen selbstbestimmten Persönlichkeit und Identität.28

In „Siddharta“ (1922 veröffentlicht), der Geschichte der “Budda-werdung“, durchläuft der Brahmanensohn Siddharta ebenso verschiedenste Möglichkeiten zu leben. Er übt sich in Askese und Entsagung, dem Folgen und Verehren der Lehren anderer, probiert sich durch das weltliche Vergnügen der ``Weltmenschen`` und gibt sich der Liebe hin. Damit definiert er sich immer wieder neu, erlebt mit jedem Abschluss einer dieser Lebensversuche eine neue Erleuchtung, eine Neuinkarnation seiner selbst. Durch das Vereinen der verschiedenen Erfahrungen und Erkenntnisse über sich selbst, in sich selbst, findet er schließlich auch zu seiner letzten und für ihn wahren Erleuchtung. Er findet das Leben, das zu ihm passt, sowie, vor allem anderen, das Bewusstsein, das es ihm erlaubt, zufrieden zu sein, eine Vereinigung seiner durchlebten Persönlichkeiten in einer neuen, nun ganzen, vollkommenen.29

Im Steppenwolf ist so eine Erleuchtung, laut der Unsterblichen, verkörpert durch Mozart, durch den Humor zu erlangen. Die Unsterblichen trifft er auch im Magischen Theater. Dieses betritt Harry gemeinsam mit Hermine durch die Einnahme von Rauschmitteln. Es scheint, dass in ihm alles möglich sei.30 Mit Humor wäre die Welt auszuhalten wird deutlich. Humor und Selbstironie distanzieren tatsächlich von den kleinen (egoistischen) Problemen des Alltags und des Ichs. Durch ihn blickt man mit Abstand auf Probleme, steht also insofern darüber und kann bewusster werden. Diese Distanz, gebündelt mit Erfahrungen, kann zu einer Einheit der eigenen Persönlichkeit verhelfen, nach welcher auch Harry Haller sucht. Außerhalb des Weltgeschehens und außerhalb der eigenen Persönlichkeit, die er vor dem Betreten des Magischen Theaters ablegen muss, erlangt man durch Humor und die Erkenntnisse des meisten Wirklichen Macht und Glück. Alles wird weniger relevant, kleine und große eigene Probleme, das Unheil in der Welt und man erkennt die eigene Stellung in dieser. Damit macht man sich frei von allem Auferlegten, Schmerzlichen, erlangt Freiheit durch Abstand, Freiheit im Gegensatz zur Unterwerfung vom Weltlichen, dass man nun nicht mehr in sich trägt. Diese Macht über sich selbst und die Empfindungen bedeuten Glück. Um vieles der Wirklichkeit in sich aufnehmen zu können, müssen verschiedenste Erfahrungen gesammelt werden, so wie es Harry, Siddharta, Sinclair und auch Hermann Hesse tun. Durch die unterschiedlichen Erfahrungen nehmen die Protagonisten alle für sie wichtigen Teile der Wirklichkeit in sich auf, die gebündelt die Einheit der Persönlichkeit und somit das größte Glück bedeuten. Das Anerkennen der eigenen vielfachen Persönlichkeiten ist wichtig auf dem Weg hin zu einer erlösenden Zufriedenheit. Schon das Tractat spricht von Harrys urtümlicher Annahme, er bestehe aus Mensch und Wolf und behauptet, der Mensch bestehe aus einer viel größeren Zahl an Persönlichkeiten als nur diesen Zweien. Im Magischen Theater blickt Harry den seinen sodann ins Angesicht. Er legt die eigene Persönlichkeit, oder vermutlich nur das, was er zuvor dafür hielt, ab und betrachtet mit Abstand zu dem Harry, der eingeschlossen in seinem weltlichen Leben und den sich daraus ergebenen Verhältnismäßigkeiten steckt, seine vielen unterschiedlichen Persönlichkeitsausprägungen.31 Etwa im Spiegel oder beim Schachspiel mit Figuren seiner selbst. Es ist anzunehmen, dass Harry im Magischen Theater, ohne die Last seiner eigenen Vorstellung von seiner Persönlichkeit, nun hemmungslos alle Teile von sich ausleben, beziehungsweise sie dabei beobachten kann (wie den gezähmten Wolf und den wilden Menschen)32 und sich so bewusster über seine vielfach schizophren ausgeprägte Person werden kann. In der realen Welt hat er nun von Verschiedenstem gekostet, ist an einem Punkt angelangt, an welchem er die Wirklichkeit in sich vereinen könnte. Zwar fehlt ihm noch ein Schritt, um den Humor vollständig in sich grundzulegen, doch wird er sich dieser Aufgabe beim nächsten Mal bewusst stellen.33

Aus allen Teilen der Wirklichkeit, der Einheit der Person resultiert sogleich die Einswerdung der Person mit der Natur, der Welt, dem Kosmos. Ob es bei Hesse zu einer Erleuchtung kam, kann ich natürlich nicht beurteilen, aber in seinen Büchern scheint es, als habe er sich zumindest eine Idee des Weges dorthin zurecht gedacht.

„Wir dagegen haben uns gefunden,

In des Äthers sterndurchglänztem Eis,

Kennen keine Tage, keine Stunden,

Sind nicht Mann noch Weib, nicht jung noch Greis...

Kühl und wandellos ist unser ewiges Sein,

Kühl und sternhell unser ewiges Lachen...“34

Reflexion

Das Buch „Der Steppenwolf“ begleitet mich schon eine ganze Zeit meines Lebens und gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Mit 15 las ich es zum ersten Mal und war sofort beeindruckt. Jedes Mal wieder beim erneuten Lesen, entdecke ich neue schöne Stellen. So freute ich mich, es für das Portfolio verwenden zu können und mich unter bestimmten Aspekten näher damit beschäftigen zu können. Die Fülle an Erkenntnis- und Bedeutungsebenen überforderte mich im Verlauf des Aufsatzes zwar, doch machte es mir viel Freude dem Steppenwolf durch das Portfolio noch ein Stück näher auf die Spur zu kommen. Nach meiner Arbeit an diesem Essay, begann ich zudem wieder mich mehr mit den Büchern Hesses zu beschäftigen und noch weitere seiner Bücher in meine Sammlung aufzunehmen, was zuvor mit dem Beginn des Studiums etwas eingeschlafen war, da ich dort so viele neue Lesemotivationen erhalten hatte. Mir ist wieder einmal bewusst geworden, dass Lesen viel zur eigenen Persönlichkeitsbildung beiträgt, dass wir uns selbst formen, indem wir uns mit bestimmten Ansichten, Vorstellungen usw. beschäftigen, die wir ja selbst auswählen.

Jean Paul Sartre: „Geschlossene Gesellschaft“

*Jean Paul Sartre: Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt in neuer Übersetzung. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 39.Auflage April 2002.

Figurenkonstellation

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Reflexion

In Sartres Einakter, der „Geschlossene[n] Gesellschaft“ bilden jeweils zwei Personen für eine jeweils andere, deren persönliche Hölle. Ihre Befinden hängen völlig von den Urteilen und Handlungen der beiden anderen ab. Sie verstehen sich gegenseitig zu quälen, gegeneinander auszuspielen und für eigene Zwecke zu benutzen. Um ein Beispiel zu nennen, nutzt Garcin Estelle, die seine Bestätigung sucht, um Inés zu quälen, die Estelles Zuneigung sucht, indem er Zärtlichkeiten mit Estelle austauscht, um Inés´ dazu zu bringen, ihm Absolution zu erteilen, beziehungsweise sich dafür zu rächen, dass sie es nicht tut.35 Die Hölle der drei entsteht also erst durch die jeweils dritte Person, die ihnen zuschaut. In einer Zweierbeziehung könnten sie sich die Rollen vorspielen, die für sie gegenseitig am befriedigendsten wären, durch die urteilende dritte Person ist dies jedoch unmöglich.

Das Bild welches die Personen selbst von sich haben, die Urteile die sie selbst über sich fällen, hängen von denen der anderen ab. So sind sie gefangen in einem Teufelskreis aus der Essenz, die sie glauben zu sein, zu der sie sich machen lassen. Entgegengesetzt zum Gedanken des Existenzialismus gehen sie nicht vom individuellen und einzelnen, sondern von den darüber gesetzten Urteilen über sie aus. In dieser Art verkorksten Dreier-beziehung werden sie also nie ihre individuelle Freiheit erlangen können und bleiben in Wiederholungen erstarrt, die die Ewigkeit der Hölle mit sich bringt.

„Die Hölle, das sind die andern.“36 sagt Sartre in seinem Kommentar über dieses Buch. Damit meint er, dass, wenn Beziehungen vergiftet sind, sie für uns die Hölle darstellen. Unsere Kenntnis von uns selbst, unser Selbstbild wird durch das Spiegelbild erschaffen, das wir meinen in anderen über uns zu erkennen. Ein weiteres Thema ist die „Verkrustung“, also das Stehenbleiben in diesen Urteilen und der Unfähigkeit diese und die daran hängenden Handlungen zu verändern.37

Ich persönlich finde das Drama genial, es wirft uns zurück auf unser Selbstbild in Abhängigkeit zu unserer Außenwelt und Sozialisation.

Michael Ende: „MOMO“

„Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“

*Michael Ende: Momo. Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. K.Thienemanns Verlag, Stuttgart, 19.Auflage, 1973.

Die grauen Herren oder die Anfänge des großen Unheils

Eines Tages in einer Stadt, in der die Sonne oft schien, erwachte Herr Baro wie jeden morgen früh um sechs Uhr dreißig. Gern wäre er noch einige Minuten liegen geblieben in seinem komfortablen Bett, auf das einige Strahlen der Morgensonne fielen und hätte sich an den Traum zurück erinnert, den er gehabt hatte. Doch dafür war an diesem Tag noch weniger Zeit als sonst. So rollte er sich ächzend aus dem Bett, wusch sich mit Wasser und Seife sauber und die Gedanken an Träume und Entspannung fort. „Blass bist du Lui“, bemerkte seine Frau, die schon munter durch die Küche wuselte und den, erst kürzlich erstandenen, Espressoautomaten bediente. Sie legte ihm die Hand an die Wange und zuckte sogleich zurück. „Du bist ja eiskalt, mein Lieber! Hast du schon wieder Kreislaufprobleme?“ Herr Baro setzte sich ohne sie weiter zu beachten. Als er sich gerade ein Brötchen mit Marmelade bestreichen wollte, klingelte sein nagelneues Mobiltelefon, auf welches er sehr stolz war und die Stimme seines Chefs schallte hektisch heraus: „Herr Baro, wo bleiben Sie denn? Haben Sie denn vergessen, dass Sie heute für die Vorbereitung der Flipcharts zuständig sind?“ Das hatte er tatsächlich. „Oh, oh, es tut mir Leid“ stotterte er gegen die zeternde Stimme seines Chefs in den glänzenden Hörer seines Telefons. „Ich habe doch heute einen Termin bei der Bank, es geht um diesen Studienkredit für meinen Sohn Ebo, wir möchten doch unbedingt, dass er die Mö...“, „Jetzt hören Sie mir mal zu: ihre privaten Probleme interessieren mich nicht im Geringsten. Sie bewegen sich jetzt schnellst möglich hierher, sonst werde ich mir das mit der Beförderung noch einmal überlegen müssen.“ Er hängte ein und ließ Herrn Baro mit seinem, nun noch blasser werdenden, Gesicht allein.

„Du musst das mit der Bank regeln, sieh zu, dass du nicht zu spät kommst!“, rief er seiner Frau zu und verließ ohne Frühstück eilig das Haus. Essen kam ihm in der letzten Zeit ohnehin überflüssig vor. „Du bist unmöglich!“, hörte er sie noch rufen. „Ich erkenn´ dich überhaupt nicht wieder!“

Als er nun mit starrem Blick durch die Fußgängerzone eilte, übersah er den Hut eines Gauklers, den dieser auf dem Boden abgestellt hatte, damit ihn seine Zuschauer für seine Kunststückchen belohnen konnten. Er fiel geradewegs darüber und der Länge nach auf den schmutzigen Gehsteig. „Können Sie nicht aufpassen“, schimpfte Herr Baro los, während er alle helfenden Arme, die sich ihm anboten, abwehrte und sich schnaufend aufrappelte. „Mit ihren schwachsinnigen Hampeleien unschuldige, arbeitende Bürger zu stören, ungeheuerlich! Passen Sie das nächste Mal besser auf.“ Er lies den verdatterten Jongleur stehen und hastete weiter. Als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen, so kam es ihm immer häufiger vor. Niemandem konnte er gerecht werden und dabei waren ihm diese Niemande doch eigentlich piepegal. Den Blick starr in Richtung geradeaus gerichtet, geschah es doch tatsächlich abermals an diesem schnellen und grellen Morgen, dass er stolperte und dieses Mal auf den Knien landete. Er war geradewegs über den Stiel eines Besens gefallen. Ein ärmlich gekleideter, kleiner alter Mann mit Brille lächelte freundlich zu ihm hinunter und reichte ihm eine Hand. „Entschuldigen Sie bitte mein Herr, haben Sie sich etwas getan? Ich konnte meinen Besen nicht schnell genug wegziehen, sie kamen so eilig daher, da...“ „Jetzt ist es aber genug!“, schrie Herr Baro aus voller Kehle, schlug die Hand des Alten aus und deutete auf diesen. „Leute wie Sie stehlen mir, einem rechtmäßig schuftenden Bürger dieser Stadt, ihre Zeit, ich lass mir das nicht länger bieten! Ich habe genug!Ich habe genuuuuug!“, und stampfte mit den Füßen auf. „Aber, aber ich habe es doch nicht mit Absicht getan“, stammelte der weißhaarige Alte verdutzt und blickte Herrn Baro gleichzeitig mitleidig und eingeschüchtert aus kleinen wissenden Augen an. „Sie sehen gar nicht gut aus“, fügte er noch ruhig hinzu, „Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Sie werden ja ganzganz grau.“.

Das war mehr als Herr Baro sich bieten lassen konnte, was nahm sich dieser krumme Verrückte da heraus? Er drehte sich um und lief seines Weges, die Worte des ihm nun traurig hinterher blickenden Mannes schnell wieder vergessend.

Unterdessen stierte der Chef von Herrn Baro vor sich hin. Wieder einmal dauerte alles länger als geplant und wieder einmal war er abhängig von der Zeit anderer Leute, die noch dazu seine Untergebenen waren. Er hatte es so satt, er hatte sein Leben und sich selbst ebenfalls satt, wusste aber nicht warum und was er besser machen könnte. Seine Familie vermisste er schon lange nicht mehr. Es war eher eine Last weniger, die ihn erschwerte. Aber was konnte es sonst sein? Im Grunde hatte er alles, was er brauchte. Aber wenn er abends allein in seiner teuren, nach neuesten Standards eingerichteten Wohnung saß, wusste er rein gar nichts mit sich anzufangen. Sein moderner Fernseher war seine einzige Zuflucht, er stellte keine Forderungen an ihn und lenkte ihn mit seinen Sendungen für einige Zeit von der Leere in seinem Innerem ab. Wie immer schob er diesen Gedankenschub schnell beiseite und widmete sich wichtigeren Dingen, wie der Kontrolle seiner langsamen Mitarbeiter_innen und dem missmutigen Starren an die Decke.

Als Herr Baro endlich zur Tür seines Büros herein stolperte, schnauzte er ihn abermals mit den Worten: „Na endlich, Ihre eigentlichen Aufgaben wurden bereits anderweitig übernommen, hier eine neue Liste, die Sie heute abarbeiten.“, an, und schob ihm einen dicken schwarzen Ordner hin. „Strengen Sie sich an, Sie wissen selbst, was davon abhängt, nicht wahr?“- „Verstanden Chef, schon verstanden.“, antwortete der keuchende Herr Baro und machte sich eilig an die Arbeit. Bis tief in die Nacht hinein saß er an seinen Aufgaben, doch als er es endlich geschafft hatte, war er keineswegs erleichtert. Die Aussicht auf sein Zuhause, die Probleme in der Familie, das sorgenvolle Gesicht seiner Frau setzten ihn nicht weniger unter Druck als das Herumgeschubstwerden auf der Arbeit und irgendetwas sagte ihm, dass es noch nicht an der Zeit war, sich diesem Druck zu stellen. So verließ er grimmig das Bürogebäude, irrte noch eine Weile ziellos aber merkwürdig bestimmt umher, den Kopf voll von leerem Groll und Missmut. Die Menschen, denen er begegnete, schaute er grimmig an, sie schienen unter seinem Blick zu frösteln und beschleunigten im Vorübergehen ihre Schritte. Seine Füße trugen ihn einen unsichtbaren Weg durch die düsteren Straßen der Stadt, vorbei an leuchtenden Reklameschildern und einigen schummrigen Kneipen, aus denen gedämpft Stimmen drangen. Doch nach Gesellschaft war ihm nicht zu Mute. Er bog um eine Ecke in eine noch dunklere Gasse und bemerkte einen silbrig-grauen Schriftzug aus Lichtstrahlen an einer Wand. Sind Sie es auch Leid? Stand da in flackernden Buchstaben geschrieben. Sehnen Sie sich auch nach einem rentablen Inhalt in Ihrem Leben? Stehen Sie über den nichtigen Lebensinhalten Ihrer Mitmenschen? Wenn Sie Ihre Zeit endlich lukrativ nutzen wollen, folgen Sie den Zeigern... Wie gebannt starrte Herr Baro auf diesen Schriftzug, der ihm aus der Seele zu sprechen schien. Er sah sich um. Dort war einer, ein silbriger, hektisch flackernder Zeiger, der weiter in die finstere Gasse hinein zeigte. Ohne sich auch nur im Geringsten zu wundern, eilte Herr Baro euphorisch in die Richtung, in die der Zeiger zeigte. Es war ihm, als hätte er schon lang auf genau diesen Moment gewartet. Ein unerklärlicher Sog riss an ihm und er hatte seit langem das Gefühl von einem wahrem Inhalt.

Immer mehr Zeiger flackerten nacheinander auf und wiesen ihm den Weg, immer weiter Richtung Stadtrand. Bald bemerkte er, dass er bei weitem nicht der einzige war, der seine Zeit damit verbrachte, unheimlicher Werbung zu folgen. Aus einigen Ecken hasteten Menschen in die selbe Richtung wie er, zunächst sich noch verstohlen umblickend, sich jedoch bald erkennend zunickend. Sogar ein paar bekannte Gesichter entdeckte er, Arbeitskollegen, Bekannte, und dort war auch sein Chef. Herrn Baro fiel auf, dass diese Menschen eine ähnlich blass- graue Gesichtsfarbe hatten, wie sie ihm und seiner Frau bei sich selbst in der letzten Zeit aufgefallen war, und fühlte sich sogleich ein Stück weniger leer und einsam damit. Die Gruppe zu der sie geworden waren, gelangte auf einen schummrig erleuchtenden Platz am Rande der großen Stadt. Ein vollständig grauer Herr mit einer grauen Zigarre im Mund stand auf einer stählernen Bühne und wartete auf sie. „Willkommen!“, rief er und streckte die Arme aus. Sofort richtete sich die Aufmerksamkeit der ergrauten Menge auf ihn. „Sie haben es nun geschafft, meine Herren! Sie sind nun da, wo Sie schon seit einiger Zeit hin wollten. Da, wo Sie hingehören! Dies ist der Beginn eines neuen Lebens, eines besseren Lebens. Eines Lebens mit einer der erstrebenswertesten Missionen überhaupt. Überlegen Sie mal, was belastet Sie am Meisten? Worüber würden Sie am Liebsten Macht haben, was würden Sie wirklich gern beherrschen?“

Ein Raunen und Murmeln ging durch die gebannte Menge, bis jemand laut aussprach: „Zeit! Über die Zeit will ich Macht haben!“- „Ganz genau, über die Zeit!“, rief ein anderer. „Über die Zeit, die Zeit...“, stimmte auch Herr Baro mit ein. „Ganz Recht.“, sprach die mechanisch klingende Stimme des Grauen weiter. „Über die Zeit. Und Sie haben Glück! Sie sind auserwählt, Sie haben die Möglichkeit, die Herrschaft über die Zeit zu erlangen. In den letzten Wochen Ihres Lebens werden Sie alle, die Sie sich hier eingefunden haben, gemerkt haben, dass Ihr altes Leben an Sinn und Inhalt verloren, dass Sie selbst zu etwas Größerem bestimmt und dass die Zeit selbst eine zu große Macht über Sie hat. Dem muss Einhalt geboten werden! Sie haben hier und heute Abend die Chance, sich uns anzuschließen. Die Chance, die Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre Ihres Menschenlebens nicht weiter sinnfrei mit Nichtigkeiten zu vertun. Die Chance, Teil eines größeren Ganzen, einer neuen Ära der Macht zu werden. Schließen Sie sich uns an und wir werden Ihnen die größte Erleichterung, die das Leben zu bieten hat, nämlich die Befreiung von all Ihren sozialen Problemen, ermöglichen. Zögern Sie nicht, alles hinter sich zu lassen. Das, was Sie erwartet, stellt alles in den Schatten, was Sie bisher erlebt haben. Wir machen Sie frei, frei von allen Einschränkungen, die Sie bisher belasteten, frei von Ihren Problemen, frei von allem Zerren an Ihnen in verschiedene Richtungen. Wenn Sie sich uns anschließen, garantieren wir:

1. eine konkrete Lebensaufgabe ohne Um- und Irrwege,
2. den Wegfall all Ihrer sozialen Probleme,
3. den Wegfall all Ihrer eigenen Schwächen und Fehler,
4. die uneingeschränkte Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, in der alle gleich sind,
5. ein ewiges Bestehen auf dieser Erde und
6. - wenn Sie uns mit aller Kraft unterstützen - eines Tages die Herrschaft über die Zeit.

Sagen Sie einfach Ja, bedienen Sie sich an unseren, heute freien, Zigarren und werden Sie Agent der Zeitsparkasse! Sagen Sie Ja und werden Sie noch heute Zeitspar-kassenmitglied!“ Die Worte hallten in Herrn Baros Kopf wider, natürlich würde er beitreten, dieses Angebot war wie für ihn gemacht, er konnte sich so glücklich schätzen. „Ja! Ja, ich will, ich trete bei!“, klangen von überall her Stimmen aus der angegrauten Menge und schon kam der vollends graue Herr von der Bühne gestiegen und hielt den Männern einen Kasten hin. Zigarren befanden sich darin, die sich die Umstehenden der Reihe nach anzündeten. Ihr Erscheinungsbild ergraute in diesem Moment vollständig, doch das schreckte Herrn Baro keineswegs ab. Auch er nahm sich eine Zigarre aus dem Kasten und steckte sie an. Aus tiefstem Halse zog er daran und pustete den kalten grauen Rauch aus. Eine Woge der Gleichgültigkeit kam über ihn. Das Gefühl war ihm in letzter Zeit mehr als bekannt geworden, aber so ausgefüllt wie jetzt hatte es ihn bisher noch nicht. Er fühlte sich tatsächlich befreit und leicht, seine alten Sorgen waren wie weggepustet, alles was zählte war diese graue Zigarre.

„So, dann folgen Sie mir bitte, meine Herren, Sie werden jetzt in die genauen Tätigkeitsbereiche eingeführt und erhalten ihre Agentennummern.“

Ohne einen weiteren Gedanken an ihr altes Leben schritten die neuen Agenten der Zeitsparkasse in korrekter Reihenfolge hinterdrein. Ein jeder mit einer qualmenden Zigarre aus toter Zeit im Mundwinkel, nicht wissend, dass sie alle hereingefallen waren. Hereingefallen auf eine der größten und schlechtesten Mächte, die die Menschheit hervorgebracht hat. Sie besteht aus verschlossenen Augen vor den kleinen und großen Freuden des Lebens, aus Gier nach Macht und Materialität. Sie überwältigt Menschen wie Herrn Baro meist unbemerkt und lässt sie zu grauen Zahlen in einem System werden, dass alle Zeit zu verschlingen vermag.

Reflexion

Momo las ich erstmals mit ungefähr 12 Jahren und nun für das Portfolio abermals. Ich halte es für ein wunderschönes Buch, welches nicht nur für Kinder viel Freude an Leseerfahrungen und Erkenntnissen beinhaltet. Momo enthält so viele kleine und große Weisheiten, die sich lohnen in den Alltag und das eigene grundlegende Denken aufzunehmen. Beispielsweise rufe ich mir immer wieder, wenn ich mich überfordert mit den vielen Aufgaben des Alltags und des Studiums fühle, Beppo Straßenkehrers Worte in Erinnerung. Zum Straßenkehren sagt dieser, dass er, wenn er sich die ganze lange Straße betrachten würde, hätte er gar keine Lust mehr anzufangen, also schaut er sich immer nur in aller Ruhe das Stück der Straße an, welches gerade an der Reihe ist und plötzlich ist die ganze Straße fertig gekehrt, ohne dass er irgendeine Art von Stress empfunden hätte.

Die Thematik der gestohlenen Zeit, der gehetzten Gesellschaft halte ich für absolut gültig und bedenkenswert.

Judith Hermann: „Sommerhaus, später“

*Judith Hermann: Sommerhaus, später. S.Fischer Verlag, Frankfurth am Main, Mai 2000.

Rezension

Baufällige Träume

>>Stein fand das Haus im Winter. Er rief mich irgendwann in den ersten Dezembertagen an und sagte: „Hallo“ und ich schwieg.<< Diese allerersten Sätze Judith Hermanns in der Kurzgeschichte „Sommerhaus, später“ aus dem gleichnamigen Geschichtenband, spiegeln schon einsteigend die trockene Unberührtheit und unkomplizierte Erzählweise, die keine sprachlichen Verschnörkelungen zulässt, wider. „Ich schwieg auch.“, fährt sie fort und könnte damit nicht deutlicher die, sich durch das gesamte Buch ziehende, Kommunikationsstörung der Protagonist_innen auf den Punkt bringen.

Die Lesenden werden trotz einer Geschichte voller Distanzen und Entlegenheiten unmittelbar und hautnah in das Geschehen gesperrt, in welchem viel gemeint und wenig ausgesprochen wird. So ist der_die Ich- Erzähler_in, von dessen Geschlecht die Lesenden an keiner Stelle etwas erfahren, zunächst überrascht, als der seltsame Verflossene Stein ihn_sie mitnimmt, zu seinem neuen alten, lang erträumten und arg heruntergekommenen Haus.

Alte Geschichten über eine damalige Beziehung werden zwischen die aktuellen Handlungen gestopft und vermischen die positive, frühere mit der negativen, jetzigen Melancholie zwischen Stein und der erzählenden Person.

Steins Begeisterung und Pläne für das neue Haus stellen die ausdrucksvollsten Emotionen der Erzählung dar, können von der erzählenden Person jedoch keineswegs geteilt werden, was womöglich auch an Steins geringer Erklärungslust liegt. Denn, woher hat dieser arme Schlucker, der sich bei Liebhabern einquartiert oder die Nächte in seinem Taxi verbringt, die 80 000 Mark für seinen Traum, dessen Mauern beim ersten Türen knallen in sich zusammenzufallen drohen?! Viel erfährt man nicht über die Charaktere und wenn, dann in kleinen Bruchstücken, die die Lesenden auf mehr hoffen lassen, wobei sie letztlich enttäuscht werden. Die Frage, -was wäre wenn?- plagt die neugierigen Leser_innen unentwegt. Denn nur schwer können die von Gleichgültigkeit triefenden kleinen Handlungen und Worte nachvollzogen werden, mit denen die Allesegalmenschen aufeinander treffen oder es eben lieber vermeiden. Eine deutliche Spur von Musik, Drogen und unbedeutendem Sex zieht sich ebenso gleichgültig durch die Geschichte, wie durch das gesamte Buch. Judith Herrmann spricht darüber mit einer dermaßen trockenen und kaum bekannten Selbstverständlichkeit, die um ihrer selbst willen genau das Gegenteil von Verharmlosung bewirkt. Viel mehr bringt Hermann damit die Normalität dieser Dinge im Leben der Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf den Punkt. Dramatisierungen wären hier unangebracht, es ist Zeit für das Erkennen der Gegebenheiten unserer Realität. Judith Hermann spricht die Sprache der Jugend und diese wird ihr mit Erfolg bringendem Verständnis zuhören.

Analyse

Die Geschichte „Sommerhaus, später“ befasst sich mit einer Gruppe junger Erwachsener, in der sich besonders die Beziehung des Erzählers zu einem Mann namens Stein herauskristallisiert. Durch die Erfahrungen der erzählenden Person lässt sich ein Einblick in die Lebensweise dieser Gruppe gewinnen, die inmitten von Drogenkonsum, belanglosem Sex und Alkohol existiert. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Stein, ein Obdachloser, der in seinem Taxi oder gelegentlich bei Liebhabern, die er auf seinen Fahrten kennenlernt, wohnt, und die_der Ich-Erzähler_in, von dessen Geschlecht mensch nichts erfährt. Nach einer eben solchen Taxifahrt zieht Stein für drei Wochen bei der Erzählperson ein und es ist festzustellen, dass er viele Träume hat, für die seine neuen Freund_innen jedoch kein Verständnis haben. Daher wird er nie wirklich in den Freundes- und Bekanntenkreis der Erzählperson, durch den er sich in einer Zeit vor der aktuellen Geschichte schlief, integriert. Diese Charaktere laufen selbst zwar vor der Realität davon, trauen sich jedoch nicht eigene Träume zu haben. Viel lieber vernebeln sie ihren Geist mit Drogen und Alkohol. Für sie scheint nicht viel eine Rolle zu spielen und so kann auch der_die Erzählende Steins Begeisterung über ein eigenes Haus vorerst nicht nachempfinden. Der Hauptbestandteil dieser Geschichte ist die permanente Stagnation im Leben der Protagonist_innen. Eine direkte Aussage kann ihr schwer zugeordnet werden, eine könnte sein, dass mensch seine Träume nicht herauszögern sollte. Hierbei spielt nicht nur die Erzählperson, sondern auch der Rest der Gruppe und zugleich Liebhaber Stein eine große Rolle. Zwei ungleiche Welten mit Gemeinsamkeiten prallen aufeinander. Stein versucht zu sein wie die Anderen und möchte ihnen gleichzeitig und vergeblich die Freude am Leben vermitteln. Der Schluss der Geschichte, an welchen Stein nur noch wenig Kontakt zu diesem Bekanntenkreis hat und dem_der Erzählenden nur noch Karten schreibt, spiegelt die stillstehende Stimmung ideal wieder. Auf das „wenn du kommst“ in den Postkarten folgt keine Reaktion, es wird auf ein „Komm!“, eine konkrete, direkte Aufforderung gewartet, was ein Alibi dafür verschafft, nicht zu reagieren. Letzten Endes ist Stein verschwunden, sein Haus abgebrannt, die Erzählperson emotions- und reaktionslos wie zu Beginn.

Kalt ist die Beziehung in der Gruppe. Blau ein Synonym für kalt. Diese Worte tauchen an zwei Textstellen auf, sind für die Bedeutung der Wirkung jedoch maßgeblich. Die freie Liebe, die immer wieder auftaucht, könnte das Gegenstück zu dieser Kälte sein, doch beschreibt sie viel mehr das Sexualverhalten der Menschen zueinander, als die Liebe füreinander. Den Protagonist_innen sind ihre Sexualpartner, ihre Körper, ihre Zukunft, sowie auch der Rest der Welt egal. Sie ruhen sich aus auf ihren Drogen und ihrem Stillstand, ihrer gegenseitigen Interessenlosigkeit füreinander. Es ist kalt, denn jede_r lebt stumm für sich sein_ihr eigenes Leben nahe dem Gefrierpunkt und traut sich an keinen warmen Traum oder Menschen heran. 2008/1977

Dirk Bernemann und Charles Bukowski: Mal was anderes...

*Dirk Bernemann: Ich hab die Unschuld kotzen sehen Teil 2. Und wir scheitern immer schöner. Ubooks-Verlag, 3.Auflage 2008.

*Charles Bukowski: Fuck Machine. Amerikanische Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag, 1980.

Die Bukowskis unserer Zeit? Kommentar über Provokation in der Literatur am Beispiel von Dirk Bernemann

"So was rezensieren wir nicht!" 38 schreibt die Berliner Morgenpost z u „Ich hab die Unschuld kotzen sehen.“ von Dirk Bernemann. "Was liest der Serienmörder vor dem Einschlafen? Welches Handbuch für Psychopathen gehört in die Bibliothek jeder forensischen Klinik? Die Antwort könnte dieses Buch sein. [...] Ich konnte es nicht ertragen." 39 kommentiert die Gothic."Was an den Texten bestürzt, sind nicht allein die obszönen, brutalen und elenden Realitätsstoffe. Bestürzend an ihnen ist vor allem die Genauigkeit des Einzelnen." 40 findet die Frankfurter Rundschau die Geschichten in „Fuckmachine“ von Charles Bukowski.

Ein Realitätsabbild, ein Sichtbarmachen des Unbewussten, Grausamen in uns und der Welt in der wir leben oder bloße ekelhafte Provokation durch Perversion für kranke Serienmörder_innen und Leichenschänder_innen? Diese Frage beschäftigt mich seit ich über die junge deutsche (Antipop-)Literatur von Dirk Bernemann und Andy Strauß an den amerikanischen, „meistgeklauten Autor“41 Charles Bukowski geraten bin. Gemeinsam sind ihren Werken die absolute Rohheit der Darstellungen von Gewalt- und Sexszenen, kombiniert mit einem Bild der Gesellschaft, die kaum auszuhalten scheint.

Seit seinem Debüt mit „Ich hab die Unschuld kotzen sehen“, von 2005, welches in der Anti-Pop-Scene schnell zu Kult wurde, bringt Bernemann beinah jährlich einen neuen, mitreißenden Roman, voll Trübheit und Gefühl heraus. Die Entwicklung hin zu einer gesetzteren, weniger obszönen Schreibweise, ist zwar kaum zu überlesen, schlimm bleiben seine Bücher dennoch, wenn auch auf schön – melancholische Weise. Sie führen über gesellschaftlich etablierte Schwächen wie Weggucken hin zu metertiefen Abgründen menschlichen Denkens und Handelns. Es geht um Mord, Selbst- und Welthass, Egoismus, Missbrauch von uns selbst und anderen, es geht um Gedärme, Erregung, Schmerz, Drogen, Entwürdigung und Penispeitschenhiebe.42 Aber es geht auch um sentimentale Schnitzel, Scherbenmädchen, Generation Kaffe Kippe und Ungeborene Gedanken.43

Gleichsam abstoßend wie gefühlvoll scheint Bernemann seiner Generation und Gesellschaft einen Spiegel vor die eigene Nase zu hängen und dabei zu schreien „Das sind wir! Böse, traurig und gemein!“.

In der Presse wird der junge Autor (*1975 im Ruhrpott) aufgrund dieser provokanten Inhalte mit dem umstrittenen Schriftsteller Charles Bukowski (*1920 in Andernach; † 1994 in Los Angeles) verglichen, dessen Werke für ähnlich abgrundnahe Themen und “grenzüberschreitende“ Nahaufnahmen dieser bekannt wurden.44 Seine Bücher sind im Gegensatz zu denen Bernemanns nur schrecklich, nicht manchmal schön. Dennoch sind sie voll von literarischer Klarheit, hart und direkt, voll großartiger Dichtkunst und unverwechselbarem Stil. Einen Vergleich der beiden anzustellen, lohnt sich kaum, da Bernemann diesen selbst bereits auf den Punkt brachte:

„Nun ja, ich mag Bukowski, aber dieser Vergleich hinkt kriegsveteranengleich. Ich habe bessere Haut, war nie Postbote und aus Alkohol mache ich mir nur selten was Schönes und nie Geschichten. In der Schreiberei haben wir, so glaube ich, auch ganz andere Herangehensweisen. Aber die Direktheit meiner ersten beiden Bücher, die ist unter anderem von den Punchlines von Buk inspiriert. Da hängt viel von meiner Jugend an diesem Autor. Er hat schon einige Türen aufgerissen, was für Menschen wie mich einiges einfacher gemacht hat, eine direkte Schreibweise einer nicht ganz so deutlichen vorzuziehen.“45

Faszinierend, mitreißend aber niemals zu bezeichnen als schöne Bücher, werfen die Texte der beiden Schreiber aus verschiedenen Zeiten die Frage nach der Echtheit und dem Sinn der Beschäftigung mit Themen auf, die in dieser Form sonst ausgespart werden.

Warum lese ich so etwas? Warum wird es für mich geschrieben? Soll ich in meine eigenen Abgründe schauen oder soll ich bloß empört sein und das allen erzählen, damit das allgemeine Interesse an diesen Büchern steigt?

Diesen Fragen kann vielleicht nur nachgelaufen werden, indem ein Blick auf die Realität oder Wahrheit der Geschichten geworfen wird. Dinge, wie sie in Bernemanns und Bukowskis Büchern vorkommen, passieren tatsächlich. Was sie dazu tun, ist ihr Blickwinkel, den die Lesenden gezwungen sind einzunehmen und zu hinterfragen. Bei Bernemann sind es oft die Gefühle und Gedanken der Protagonist_innen, bei Bukowski eher die Schlichtheit der Beschreibungen – bei beiden jedoch ein Rahmen aus obszöner Wortwahl und Heranzoomen an Szenen, vor denen wir sonst intuitiv die Augen verschließen würden. Die Schockmomente, die die Geschichten erzeugen, sprechen dafür, dass eben solch ein Selbstschutz durch sie durchbrochen werden kann. Ob das nun gut oder schlecht ist, vermag sicherlich nur jede_r selbst zu beurteilen. Eine Notwendigkeit besteht nicht, sich diesen Dingen auf Bernemanns und Bukowskis Weise zu nähern. So wie sie es tun, mag es auch nicht von vornherein zu einer Enttabuisierung bestimmter Themen führen. Doch verleiten die provozierenden Momente in ihren Geschichten in jedem Fall dazu, über diese Themen nachzugrübeln, da sie viel mehr Eindruck hinterlassen, als beispielsweise ein Bericht, der Unangenehmes angenehm umschreibt. Mit Nachdruck fordern diese Geschichten eben dazu auf, sich mit Abgründen zu beschäftigen, durch ihre anstößige Form wird dieser Aspekt nicht gemildert.

Letztlich halte ich die besprochenen Autoren also für sehr wichtig für die Literatur, die ja glücklicherweise niemanden zwingen kann, sie zu lesen und so das Begeben in solch unangenehme Geschichten ein freiwilliges bleibt.

Literaturverzeichnis

Dirk Bernemann: Ich hab die Unschuld kotzen sehen Teil 2. Und wir scheitern immer schöner. Ubooks-Verlag, 3.Auflage 2008.

Charles Bukowski: Fuck Machine. Amerikanische Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag, 1980.

Ende, Michael: MOMO oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. K. Thienemanns Verlag Stuttgart, 1973.

Erlhoff, Michael: Raoul Hausmann, Dadasoph. Versuch einer Politisierung der Ästhetik. Hannover, 1982.

Grimmelshausen, Hans Jakob Christoph von: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. SWAN Buch-Vertrieb GmbH, Kehl, 1993.

Hermann, Judith: Sommerhaus, später. Erzählungen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1998.

Korte, Hermann: Die Dadaisten. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, 2007.

Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2007.

Hesse, Hermann: Demian. suhrkamp taschenbuch 206, 1919.

Hesse, Hermann: Siddharta - eine indische Dichtung. suhrlamp taschenbuch 182, 1922.

Lach, Wilhelm: DER MERZ KÜNSLER KURT SCHWITTERS. M.DuMont Schauberg, Köln, 1971.

Michels, Volker (Hrsg): Materialien zu Hermann Hesses >Der Steppenwolf<. suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1972.

Novalis, Friedrich: Heinrich von Ofterdingen (Materialien). Dortmund 1986.

Platon: Der Staat - Politeia (Vollst. deutsche Ausgabe als eBook), Be-artnow Verlag, 2010.

Sartre, Jean Paul: Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt in neuer Übersetzung. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 39.Auflage April 2002.

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 2000 Philipp Reclam, Ditzingen, 1795.

Schwitters, Kurt: Eile ist des Witzes Weile. Hg. von Christina Weiss und Karl Riha, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 2009.

Schwitters, Kurt: In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Ernst Nündel. Hg. von Kurt und Beate Kusenberg, rowohlts monographien, 1981.

Internetquellen:

http://www. suprememag.tv/local-heroes-dirk-bernemann.

Letzter Aufruf: 22.03.15.

http://de. wikipedia.org/wiki/Charles_Bukowski#cite_note-11.

Letzter Aufruf: 22.03.2015.

http:// punk.de/mobileshop.php?MainCat=1&SubCat=1&ProdID=3646.

Letzter Aufruf: 22.03.2015.

[...]


1 Vgl.: Novalis, Friedrich: Heinrich von Ofterdingen (Materialien). Dortmund 1986, S. 152 – 153.

2 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 2000, Ditzingen, Brief 6, S.20.

3 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 12, S.48.

4 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 12, S.48 ff.

5 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 13, S.51.

6 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 13, S.57.

7 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 23, S.90.

8 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 23, S.90 ff.

9 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Entstehungsgeschichte, S.204.

10 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 24, S. 95.

11 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 27, S.123.

12 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen[...], Brief 5, S.18.

13 Vgl. Hermann Korte: Die Dadaisten,5.Auflage Februar 2007, Reinbeck bei Hamburg, S.8.

14 Vgl.Hermann Korte: Die Dadaisten[...], S.7.

15 Vgl. Kurt Schwitters:in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Ernst Nündel, 1981 rowohlts monographien herausgegeben von Kurt und Beate Kusenberg S.36 – S. 41.

16 Wilhelm Lach: DER MERZ KÜNSLER KURT SCHWITTERS,1971 M.DuMont Schauberg,Köln S.77.

17 Vgl. Michael Erlhoff: Raoul Hausmann, Dadasoph. Versuch einer Politisierung der Ästhetik. Hannover 1982, Vorwort.

18 Vgl. z.B. Hermann Hesse: Der Steppenwolf, Frankfurt am Main 2007, S.32 ff.

19 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.34.

20 Vgl. Materialien zu Hermann Hesses „Der Steppenwolf“, Frankfurt am Main 1972, S.233.

21 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.51.

22 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.81.

23 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S. 91 ff.

24 Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.77.

25 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.78 ff.

26 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.116 ff.

27 Vgl. Materialien zu Hermann Hesses „Der Steppenwolf“, Frankfurt am Main 1972, S.9-27.

28 Vgl. Hermann Hesse: Demian, suhrkamp taschenbuch 206.

29 Vgl. Hermann Hesse: Siddharta-eine indische Dichtung, suhrlamp taschenbuch 182.

30 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S. 223 ff.

31 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.187, 188.

32 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.205 ff.

33 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.230.

34 Vgl. Hermann Hesse: Der Steppenwolf[...], S.223, Gedicht über die Unsterblichen.

35 Vgl.: J.P. Sartre: Geschlossene Gesellschaft. Stück in einem Akt in neuer Übersetzung Reinbek bei Hamburg, 39.Auflage April 2002, S.50ff.

36 J.P.Sartre: J.P.Sartre über Geschlossene Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg, 39.Auflage April 2002, S.61.

37 Vgl.: Ebenda, S.61ff.

38 http://punk.de/mobileshop.php?MainCat=1&SubCat=1&ProdID=3646. Letzter Aufruf: 22.03.2015.

39 Ebenda.

40 Charles Bukowski: Fuck Machine. Amerikanische Erzählungen. 1980, Umschlag.

41 http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Bukowski#cite_note-11. Letzter Aufruf: 22.03.2015.

42 Vgl.: Dirk Bernemann: Ich hab die Unschuld kotzen sehen Teil 2. Und wir scheitern immer schöner. Ubooks-Verlag, 3.Auflage 2008, S.11.

43 Vgl.: Dirk Bernemann: Was drin ist. In: Ich hab die Unschuld kotzen sehen Teil 2. Und wir scheitern immer schöner. Ubooks-Verlag, 3.Auflage 2008, Inhaltsverzeichnis.

44 Vgl.: http://www.suprememag.tv/local-heroes-dirk-bernemann. Letzter Aufruf: 22.03.15.

45 Ebenda.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Literarisches Portfolio
Untertitel
Zu Platons "Politeia", von Grimmelshausens "Der Abenteuerliche Simplicissimus", Novalis "Wenn nicht nur Zahlen und Figuren", Friedrich Schillers "Über die ästhetische Erziehung des Menschen"
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
44
Katalognummer
V983798
ISBN (eBook)
9783346339768
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Platon, Politeia; Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Der Abenteuerliche Simplicissimus; Novalis, Wenn nicht nur Zahlen und Figuren; Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen; Kurt Schwitters, An Anna Blume; Hermann Hesse, Der Steppenwolf; Jean Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft; Michael Ende, MOMO; Judith Hermann: Sommerhaus, später; Dirk Bernemann und Charles Bukowski
Schlagworte
später“ Dirk Bernemann und Charles Bukowski
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MA Meike Exner (Autor:in), 2013, Literarisches Portfolio, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/983798

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Titel: Literarisches Portfolio



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